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Vor 50 Jahren kamen die ersten Gastarbeiter, nicht alle wurden heimisch. In diesem Pflegeheim in Kreuzberg sind Menschen ausländischer Herrkunft untergebracht.

© dpa

Gastarbeiter: Familie Türköz wird deutsch

Vor 50 Jahren kamen die ersten türkischen Gastarbeiter – nicht viele wurden heimisch. Metin Türköz fing als Schlosser bei Ford an, sein Sohn wurde Manager, die Enkelin wird studieren. Wie haben sie das geschafft?

An dem Tag, der ein Land und Millionen Leben verändern sollte, blieb es still. Keine feierliche Unterzeichnung, kein Händeschütteln, nur ein Papier wurde in Bonn hin- und hergesandt an diesem 30. Oktober 1961, Aktenzeichen 505–83SZV–92.42. Kaum mehr als zwei Seiten, darauf zwölf Punkte, einmal vom Auswärtigen Amt zur türkischen Botschaft und zurück. »Die Türkische Botschaft beehrt sich, dem Auswärtigen Amt mitzuteilen, daß sich die Regierung der Republik Türkei mit den Vorschlägen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland einverstanden erklärt«, fügte die Botschaft dem Schreiben hinzu und bestätigte so »die Vermittlung von türkischen Arbeitnehmern nach der Bundesrepublik Deutschland«.

Ein stiller Briefwechsel, der nicht ahnen ließ, dass ihm einmal laute Diskussionen folgen würden um Leitkulturen und Parallelwelten. Er würde neue Begriffe schaffen wie Kopftuchmädchen, Migrationshintergrund und Einbürgerungstest. Eine Menge schwerer Wörter und Debatten, man muss sie mühsam beiseiteschieben, will man den Mann sehen, der ein paar Wochen nach dem Briefwechsel in Istanbul auf den Zug wartet. Der Mann heißt Metin Türköz, er steht am Beginn einer langen Reise – wie auch das Land, in das er fährt. Am Ende dieser Reise wird er ein Deutscher sein und das Land ein anderes.

Am Nachmittag des 9. Januar 1962 stieg Metin Türköz am Bahnhof Istanbul-Sirkeci in den Zug. In der rechten Hand hielt er seinen Koffer, in der linken die Saz, seine türkische Laute. Istanbul–München, er lehnte sich aus dem Fenster, sein Blick suchte seine Frau Necla und seinen kleinen Sohn Ugur, die Sirene ging, er winkte. Der Zug fuhr an.

»Wegfahren Katastrophe«, sagt Metin Türköz, »alles geweint.«

Drei Tage Fahrt, endlos kam ihm die Zeit bis zur Ankunft in Deutschland vor. Doch das Ankommen in diesem fremden Land würde noch viel länger dauern.

Am vierten Tag, der kaum begonnen hatte und dunkel war und kalt, stand Metin Türköz in der Werkshalle A bei Ford in Köln. Acht Stunden lang legte er Kupplungsteile für den Ford Taunus in einen 800 Grad heißen Ofen, die Kleidung klebte an seinem Körper. Nach der Schicht, im Ausländerwohnheim, in einem Zimmer mit zwei Betten, zwei Stühlen, zwei Herdplatten, lag er auf der Strohmatratze und schrieb einen Brief an seine Frau: »Ich habe mir Deutschland anders vorgestellt. Ich will nach Hause.«

»Nach Deutschland gehen, Geld sparen, Auto kaufen, mehr Geld sparen, nach Hause zurückkehren, Haus kaufen«, sagt Metin Türköz, »das war der türkische Traum.«

Sein Haar ist weiß geworden, und er hat ein Haus gekauft, doch das steht in Rodenkirchen, im Kölner Süden, wo nur wenige Häuser mehr als zwei Stockwerke haben. Ein Reihenhaus, das so ordentlich zwischen seinen Nachbarn steht wie die Recyclingtonnen vor der Haustür. Metin Türköz und seine Frau Necla sitzen im Wohnzimmer. Sie ist groß und schlank, 71 Jahre, eine schöne Frau mit einem klar geschnittenen Gesicht, er, 74, etwas kleiner als sie und stämmig. An den Wänden Fotos der Familie: Sohn Ugur, Manager bei Ford. Tochter Alpin, Nachname Harrenkamp. Und die drei Enkel, die kaum Türkisch sprechen.

Die ersten türkischen Gastarbeiter, die 1961 nach Deutschland kamen, sind heute nicht mehr leicht zu finden. Viele sind zurückgegangen in die Türkei oder gestorben. Wenn man doch welche findet, in Duisburg oder Mannheim oder Stuttgart, dann diktieren sie ihre Nachnamen nach dem »Anton, Berta, Cäsar«-Prinzip und ihre Telefonnummern in Zehnerblöcken. Viele sind mit Deutschen verheiratet. Sie haben jeden Bundeskanzler erlebt und manch einen auch gewählt. Aber in einer Zeit, in der Beifall für Thilo Sarrazin aufbrandet, sind ihre Geschichten kaum zu vernehmen. So wie die der Familie Türköz.

Als Metin und Necla Türköz nach ihrer Hochzeit Ende der fünfziger Jahre nach Istanbul zogen, war in Deutschland gerade ein Wort erfunden worden: Gastarbeiter. Erst waren die Italiener gekommen, dann Spanier und Griechen. Die Wirtschaft brauchte Arbeiter, das Wunder sollte weiterwachsen. Die einen hatten zu viel Arbeit, die anderen zu viele Menschen. Die Gastarbeiter würden Geld verdienen, wieder gehen, und neue würden kommen. Rotationsprinzip nannte man das. Ein Wort, das klang wie eine Maschine, die niemals aus dem Takt geraten würde.

Von Deutschland wussten Necla und Metin Türkoz nicht viel - lesen Sie mehr im zweiten Teil.

Von Deutschland wussten Necla und Metin Türköz nicht viel, aber es schien ein Land der unbegrenzten Möglichkeiten zu sein. Sie waren zwei Dorfkinder, die es in die große Stadt geschafft hatten. Was sie sich vom Leben erhofften, legten sie in den Namen ihres Sohnes. Sie nannten ihn Ugur, »Glück«.

In der Türkei regierte das Militär, die politische Lage war instabil, die wirtschaftliche desolat. Metin Türköz arbeitete als Kontrolleur bei der Gesundheitsbehörde, sein Lohn reichte nur für ein Zimmer. Er hatte eine Familie, für die er sorgen musste. Er dachte nicht lange nach. Nur zwei Jahre, länger würde er ja gar nicht bleiben dürfen, der stille Briefwechsel hatte das genau festgelegt.

Das Erste, was Deutschland von Metin Türköz sah, war sein Körper. Mit einem Dutzend anderer Bewerber stand er im Dezember 1961 in der deutschen Verbindungsstelle in Istanbul, ein Arzt prüfte Zähne, Ohren, Augen. »Von A bis Z!«, sagt Metin Türköz und reißt seine weißen Augenbrauen hoch. »Hose runter, ganz nackt, bücken, anfassen.« Er schämte sich. Zweifelte, dass es eine gute Idee war, in ein Land zu gehen, das ihm in den Hintern schauen wollte, um zu prüfen, ob er ein guter Arbeiter war.

In der Verbindungsstelle entschied sich, wer ein neues Leben anfangen durfte – und wer vergeblich alles aufgegeben hatte. Mehr als zweieinhalb Millionen Türken bewarben sich zwischen 1961 und 1973 um eine Arbeitserlaubnis. Nur jeder Vierte erhielt sie. Zwischen der Gesundheitsprüfung und der Abreise nach Deutschland lagen oft nur wenige Tage. Männer, die Hunderte Kilometer gereist waren, hatten daheim meist alles verkauft und Abschied genommen. Sie besaßen nichts mehr als ihren gepackten Koffer.

Metin Türköz legte ein Zeugnis über seine Ausbildung zum Schlosser vor, bekam eine Zusage und einen Arbeitsvertrag. Er werde bei Ford in Köln arbeiten, Stundenlohn zwei Mark und zehn Pfennige. Mehr wusste er nicht, als er unterschrieb.

Wenn Ugur Türköz heute in seinem Büro im sechsten Stock aus dem Panoramafenster blickt, dann sieht er direkt auf die Halle A, in der sein Vater damals am Ofen arbeitete. Ugur Türköz ist 52 Jahre alt, der kölsche Singsang bestimmt seinen Tonfall, er erzählt gern. »Türke, Köln, Ford«, sagt er, »auf dieses Klischee hatte ich nach meinem Studium eigentlich überhaupt keine Lust.« Jetzt arbeitet er doch bei Ford, ist zuständig für die Zulieferbetriebe in ganz Europa, Supply Technical Assistant Manager heißt das in der Konzernsprache. Sein Vater nennt es »Überchef«.

Der Weg dorthin, wo die Büros hell sind und die Anzüge dunkel, begann in der Hauptschule. »Haupt«, das klingt wichtig, dachte Necla Türköz, für ihren Sohn wollte sie nur das Beste. Auf dem Zeugnis stand neben dem Fach Englisch keine Note, ein Türke, sagte die Lehrerin, müsse kein Englisch lernen. Aber Necla Türköz hatte die jungen Ingenieure gesehen in ihren weißen Kitteln, die bei Klöckner Möller arbeiteten, wo sie an der Lötmaschine saß. Sie stellte sich vor, einer davon wäre ihr Ugur. Im Schulamt schrieben sie ihr auf ein Blatt Papier: Hauptschule, Realschule, Fachoberschule, Fachhochschule. »Königsweg« stand darüber. Königsweg, das Wort gefiel ihr. Ugur musste jetzt lernen. Da war sie streng.

Heute bewundert Ugur Türköz seine Mutter dafür, dass sie ihn damals zum Schulamt schleppte. Sich dort behauptete, in einer Sprache, die sie nicht beherrschte. Er spricht von ihrem Ehrgeiz und ihrem starken Willen. Als sich Necla und Metin verliebten, in einem Dorf in Ostanatolien, war Necla erst 17. Eine Liebe, die ihrer verwitweten Mutter nicht gefiel. Da ließ sich Necla von Metin rauben, über Nacht flohen sie Hunderte Kilometer zu seiner Familie ins Landesinnere. Jahrelang sprach die Mutter nicht mit ihr. Sie war erst versöhnt, als sie ihr den Enkel brachten, Ugur. Und einen schönen Mantel aus Deutschland.

»Vom Aufbruch aus der Türkei«, sagt Ugur Türköz, »erzählen meine Eltern immer wie von einem großen Abenteuer.« Vielleicht lag darin Ugur Türköz’ Glück: Abenteurer lassen sich von Schwierigkeiten nicht so leicht beirren. Die Neugier seiner Eltern, Unbekanntes zu entdecken, war größer als die Angst, Vertrautes zu verlieren.

Das Erste, was Metin Türköz von Deutschland sah, war ein Bunker. 50 Stunden hatte die Zugfahrt in sein neues Leben gedauert. In einem Nahverkehrszug der Bundesbahn, auf einem Sitz ohne Kopfstütze. Ein Kanister Wasser für zehn Mann. Immer wieder beklagte sich die Bundesanstalt für Arbeit über die Züge, in denen die Toiletten nicht funktionierten, die Heizung ausfiel.

Jetzt stand Metin Türköz in einem Luftschutzraum neben Gleis 11 am Münchner Hauptbahnhof. Bis Anfang der siebziger Jahre wurden dort alle türkischen, griechischen, jugoslawischen und italienischen Gastarbeiter in Empfang genommen. Die Bundesanstalt für Arbeit wollte vermeiden, dass »Transporte mit Arbeitern in heruntergekommenem Zustand über die Straßen ziehen«, solche Bilder hätten im Ausland keine guten Erinnerungen geweckt. Im Bunker teilte die Caritas Suppe aus, mit Wursteinlage. Metin Türköz rührte sie nicht an. Er hatte Angst vor Schweinefleisch.

Necla Türköz erinnert sich noch genau, was sie ihrem Mann auf seinen ersten, verzweifelten Brief antwortete. »Zähne beißen«, sagt sie. Also biss Metin Türköz die Zähne zusammen. Versuchte, das riesige Loch der Sprachlosigkeit jeden Tag mit neuen Wörtern zu stopfen. Ja, nein, danke, kaputt, Nudeln, Meister, brutto, netto, Sozialabgaben. Nahm seinen Mut und seine Unterlagen zusammen, bat bei Ford um eine andere Arbeit. Kam in die Werkzeugherstellung. Fand ein Zimmer, ohne Bad, mit Kohleofen, 150 Mark. Nur wer eine Wohnung hatte, durfte seine Familie nachholen. Als der Frühling kam, schickte Metin Türköz seiner Frau und seinem Sohn zwei Fahrkarten: Istanbul–Köln.

Mit seiner Saz übertonte Metin Türküz das Heimweh - lesen Sie mehr im dritten Teil.

Seine Saz, die er an einsamen Abenden spielte, um sein Heimweh zu übertönen, liegt heute im Wohnzimmer oben auf dem dunklen Schrank, weit hinten. Metin Türköz greift nur noch selten nach ihrem schlanken Hals, um seine Finger über die Saiten zu ziehen. Kurz vor seiner Abreise aus Istanbul hatte er sie gekauft, für 80 Lira, der Wert einer Monatsmiete. Das Holz am Hals hat dunkle Stellen, dort, wo die Finger seiner linken Hand die Saiten herunterdrückten. Auf dem runden Körper kleben Spickzettel mit Texten. Die hat er gebraucht, als er vor vier Jahren beim 40. Geburtstag seiner Tochter gesungen hat. Es war sein letztes Konzert.

Sein erstes gab er im Frühjahr 1962. Ein türkischer Feiertag, ein paar Hundert Landsleute hatten sich in einem Saal versammelt, »sie haben Heimweh«, sagte der Vorsitzende des türkischen Vereins zu ihm, »spiel etwas Fröhliches«. Metin Türköz stand auf der Bühne, die Saz in der Hand, und blickte in die Gesichter. Sie sind traurig, dachte er. Ich bin traurig. Ich kann nichts Fröhliches singen. »Ich Augen zu und los.«

Auf dem Arbeitsamt sangen sie deine Lobeslieder / Büffel und Rinder würden sie für uns schlachten / Woche für Woche neue Arbeiter / Schau, was für ein Leben dein Landsmann dort führt!
Deutschland, Deutschland / Du findest keinen Arbeiter wie den Türken / Deutschland, Deutschland / Du findest keinen Dümmeren als den Türken
In Sirkeci gaben sie mir einen Vertrag / Du wirst in Deutschland arbeiten / Ein Paket, eine Fahrkarte und los / In München gab es Schweinefleisch
Deutschland, Deutschland / Du findest keinen Arbeiter wie den Türken / Deutschland, Deutschland / Und wir finden nicht, was wir suchten
Das Lied, das Metin Türköz sang, war ein bitteres Lied. Ein Lied vom Abschied, von Arbeit, fremdem Essen und Strohmatratzen. Metin Türköz nannte es Almanya, Almanya. Die Männer im Saal riefen: »Bravo!« Ob er es nicht als Schallplatte aufnehmen wolle, fragte ihn jemand.

Almanya, Almanya wurde ein Erfolg. Unter der Woche arbeitete Metin Türköz bei Ford, an den Wochenenden reiste er durch Deutschland, in all die Städte, in denen seine Landsleute Autos bauten, Stahl kochten, in Kohlegruben einfuhren. 1964 hob die Bundesregierung die zweijährige Beschränkung für türkische Arbeiter auf. Es war zu teuer, ständig neue Arbeiter anzulernen. Und Metin Türköz sang auf Türkisch über den Karneval, die schönen blonden Monikas und über die Sehnsucht nach denen, die in der Heimat zurückgeblieben waren.

Mein Herz ist nicht aus Stein, sondern weich wie Blätterteig / Von Gott hab ich mir dich gewünscht / Die Einsamkeit hier macht mir zu schaffen / Es ist nötig, dass du kommst

Als er mit der ersten Platte nach Hause kam, schimpfte Necla: 50 Mark pauschal, viel zu wenig! Aber Metin Türköz war stolz. »Das war eine richtige Sache«, sagt er, »immer da bleiben.«

Kam ihm während der Arbeit eine Idee für einen Text, kritzelte er die Zeilen auf Toilettenpapier. Produziert wurden seine Lieder von einem türkischen Unternehmer, der auf dem Kölner Hansaring Platten mit türkischer Musik verkaufte. Metin Türköz war damals der erfolgreichste türkische Sänger in Deutschland. Er hatte ein Genre begründet: die Gurbet Türküleri, die Lieder aus der Fremde.

Sehnsucht war der Boden, auf dem diese Lieder wuchsen. Die Zerrissenheit der Gastarbeiter zwischen dem Leben in Deutschland und der Familie in der Türkei. Der kleine Laden am Hansaring, in dem die Platten, alphabetisch sortiert, im Regal standen, wurde zum Archiv ihrer Gefühle. Metin Türköz hatte für die, die sich sprachlos fühlten, Worte gefunden. Und damit für sich selbst einen Platz in diesem fremden Land. Er wurde nicht mehr nur als Arbeiter gebraucht, sondern als Mensch. Seine Autogrammkarten hat er heute noch.

»Ich glaube, das war die glücklichste Zeit meines Vaters«, sagt Ugur Türköz. Er steht in der Küche der Altbauwohnung in Köln-Nippes, in der er mit seiner Frau Monika und Tochter Lara wohnt. Er setzt Wasser auf für grünen Tee. Sein Cousin wird gleich kommen.

Sein Vater, sagt Ugur Türköz, sei als Sänger eine Mischung aus einem Büttenredner und Reinhard Mey gewesen, »mit spitzer Feder und spitzer Zunge«. Mit einer Ironie, die auch vor den türkischen Arbeitern nicht haltmachte:

Du kriegst kein Kindergeld? / Die Bahn ist teurer geworden? / Der Doktor schreibt dich nicht krank? / Du bekommst kein Geld von der Krankenkasse? / Der Vermieter schmeißt dich aus dem Wohnheim? / Die Polizei stellt keine Aufenthaltsgenehmigung aus? / Schuld ist nur der Übersetzer!

Ugur durfte oft mit, wenn sein Vater auftrat. Im Anzug, mit Krawatte, der dünne, strichförmige Schnurrbart, sein Markenzeichen, war frisch rasiert, in den Haaren glänzte Pomade. Große türkische Kulturabende waren das, in den Pausen gab es Börek, Ugur drängelte sich durch die Menge und verkaufte Lose für die Tombola, Hauptgewinn: ein Haushaltsgerät oder ein Radio. Erst viel später wurde Ugur Türköz bewusst, dass die Lieder seines Vaters nicht einfach nur Musik waren. Sondern eine Brücke zur Heimat.

Wenn Ugur Türköz über sein eigenes Leben redet, fasst er es in einem Satz zusammen: »Ich war immer überall der Erste.« Im Kindergarten, in der Schule, an der Universität. »Ich war halt der Türke«, sagt er, »so viele Ausländerkinder gab es damals nicht.« Die ersten anderen türkischen Kinder, an die er sich erinnert, waren seine Cousins, die Mitte der sechziger Jahre nach Köln kamen. Irgendwann hatten sie nur noch türkische Nachbarn. Vielen Neuankömmlingen war das recht, Anpassung wie auch Anfeindung war so leichter zu entgehen.

Das eigene Haus - ein steinernes Bekenntnis, länger bleiben zu wollen - lesen Sie mehr im vierten Teil.

Ugur Türköz’ Eltern hätten gerne deutsche Nachbarn gehabt, so wie am Anfang, in ihrem ersten Mietshaus. Aber sie fanden in all den Jahren nur noch Wohnungen in »Türkenhäusern«, wie die Zeitungen Häuser mit türkischen Mietern damals nannten. Ende der Siebziger, als sie eine große Wohnung suchten, bekamen sie nur Absagen. »Einen Moment bitte«, sagte eine Vermieterin am Telefon zu Necla und legte den Hörer beiseite. Vor das Maul ihres Hundes, der so lange in den Hörer bellte, bis Necla auflegte.

Ein eigenes Haus, das steinerne Bekenntnis, bleiben zu wollen – es liegt eine feine Ironie darin, dass sich die Türköz dieses Reihenhaus nur kauften, weil niemand ihnen einen Platz zum Bleiben geben wollte. Als Kanzler Helmut Schmidt Anfang der achtziger Jahre sagte, die Bundesrepublik solle und wolle kein Einwanderungsland werden, bezahlten sie längst ihren Kredit ab. Jede Rate eine trotzige Aufforderung an dieses Land, sich mit der Realität auseinanderzusetzen.

Es klingelt. Haldun Saatçi, der Cousin, kommt, um sich zu verabschieden, am nächsten Tag fliegt er nach Istanbul. Fast wie Brüder sind Ugur und er aufgewachsen. Bis vor wenigen Jahren arbeitete Saatçi als Oberarzt für Gynäkologie in einem Kölner Krankenhaus. Jetzt lebt er in der Türkei. Er ist zurückgegangen in das Land seiner Eltern.

Irgendwann sei es einfach zu viel geworden, sagt er. Als Kind nannte man ihn und Ugur Spaghettifresser, für ein eigenes Schimpfwort waren die Türken noch zu wenige. An der Uni waren sie Exoten. Das Staunen, woher er denn so gut Deutsch könne, bis heute, »im Jahr 2011!« Auch viele kleine Nadelstiche können Wunden hinterlassen. Ein Innenminister, der sagt, der Islam gehöre nicht zu Deutschland. Ein ehemaliger Bundesbank-Vorstand, dessen islamfeindliches Buch millionenfach gekauft wird, Haldun Saatçi nennt ihn nur »Herrn S.«. Ugur Türköz und sein Cousin sind in Köln in den Kindergarten gegangen, in die Schule, haben hier Steuern gezahlt und haben einen deutschen Pass. Sie spielen jeden Tag für Deutschland. Aber Deutschland jubelt nur Mesut Özil zu. Ugur Türköz bekommt häufig gesagt, er sei eine Ausnahme, genau wie seine Schwester und Haldun Saatçi. Und er fragt sich: Wie viele Ausnahmen braucht es noch, um die Regel zu brechen?

So hatten auch die Kinder, in Deutschland aufgewachsen, das Gefühl, sich wie ihre Eltern auf den Weg machen zu müssen, um anzukommen. Das Ziel aber war für sie ein anderes. Seine Eltern, sagt Ugur Türköz, hätten nie hohe Ansprüche an Deutschland gestellt. Sie kamen, um materielle Ziele zu erreichen. Sie suchten keine Heimat, sie hatten ja eine. Die Widerstände, auf die sie stießen, rüttelten nicht an ihrem Innersten, ihrer Identität. Den Kindern ging es anders. »Das ist das Dilemma der zweiten Generation«, sagt Ugur Türköz, »wir dachten, wir gehören dazu. Gehören wir aber nicht.«

Ein Montagmittag. Necla Türköz steigt am Bahnhof Rodenkirchen in die Straßenbahn, Linie 16, sie fährt nach Köln-Nippes, einmal vom Süden in den Norden der Stadt. Es ist die Strecke ihres deutschen Lebens. Vorbei am Ubierring, wo sie lange wohnten, »schlimm damals«, sagt sie und zeigt auf die Häuser, »kaputt, halb kaputt, kaputt, kaputt«. Vorbei an der Wohnung ihrer Tochter Alpin, hier steigt sie oft aus und vier Stockwerke hoch, um für die beiden Kinder ihrer Tochter, die getrennt von ihrem Ehemann lebt, zu kochen. Am Barbarossaplatz wechselt sie in die Linie 12. Zülpicher Platz, der Döner-Imbiss, den sie in den achtziger Jahren führten, lag in einer Nebenstraße. Am Ebertplatz war der türkische Musikladen. Lohsestraße, hier wohnt Ugur. In Nippes steigt sie aus. Würde sie weiterfahren, käme sie zum Ford-Werk. Die Geografie der Stadt, ihre Straßen und Viertel haben sich über all die Jahre mit der Geschichte der Familie Türköz verwoben. Bis Köln nicht mehr fremd war, sondern vertraut. Eine Heimat. Wann genau das geschah, das kann Necla Türköz nicht sagen. Es passierte einfach. Und die Brücke zur alten Heimat wurde brüchiger.

1968, als die Brücke noch stark war, versuchten sie zurückzukehren, so wie sie es immer geplant hatten. Ugur sollte in der Türkei zur Schule gehen, Tochter Alpin war gerade geboren. Metin Türköz hatte eine Wohnung in Istanbul gekauft, mit Meerblick und fließend warmem Wasser. Doch Ugur vermisste Ketchup und Mayonnaise und einen richtigen Fußballplatz, »er wollte immer Deutschland«, sagt Necla Türköz. In den Straßen der Stadt bekämpften sich linke und rechte Terrorgruppen. Es war nicht mehr das Istanbul, das Necla und Metin verlassen hatten. Das Vertraute erschien ihnen fremd.

Dann verlor Metin Türköz seine Arbeit in Istanbul. Immer noch zogen Tausende Türken jeden Monat nach Deutschland , und nach einem Jahr gingen auch die Türköz zurück nach Köln. Sie ahnten, es würde diesmal für länger sein.

Im Bürgerzentrum von Nippes trifft sich Necla Türköz jeden Montag mit anderen türkischen Rentnerinnen. Es gibt süßen Tee und Apfelkrapfen. Ford hat die Frauen nach Köln geholt, ihre Männer haben alle im Werk in Niehl gearbeitet. Sie selbst haben geputzt oder im Krankenhaus in der Küche geholfen, manche hatten ihre Kinder bei den Großeltern in der Türkei gelassen und sie erst als Teenager nachgeholt.

Man merkt Necla Türköz nicht an, dass sie die Älteste hier ist. Immer noch kann sie so kichern wie das wagemutige junge Mädchen, das mit seiner ersten Liebe durchbrannte. Schüchtern war Necla Türköz nie. Als Willy Brandt Kanzler war und Köln besuchte, drängte sie sich durch die Menschenmasse nach vorn. Bis sie ihm die Hand schütteln konnte.

In der Türkei spürten Sie Neid - lesen Sie mehr im fünften Teil.

Als sie Köln zum ersten Mal sah, war sie geschockt. Die Spuren des Krieges. Das Etagenklo. Aber sie mochte die alte Frau von nebenan, die ihrem Sohn Ugur Brote schmierte und auf ihn aufpasste, wenn sie mit ihrem Wörterbuch einkaufen ging oder in der Küche einer Kneipe aushalf. Dort schmierte sie Mettbrötchen und machte Kartoffelsalat. »Der Salat war der beste!«, sagt Necla. »Berühmt geworden!«, sagt Metin.

Metin Türköz war froh, dass Necla so schnell nachgekommen war. Er hatte jetzt ein Familienleben, und sie war seine Integrationsbeauftragte. Nachbarn und Musikerfreunde, fast jeden Abend bekamen sie Besuch. Die Türköz sparten. Kauften sich eine Waschmaschine und einen Fernseher, schauten Dalli Dalli und Der goldene Schuß. 1965 das erste Auto, ein gebrauchter Opel Kapitän in Nachtblau, für 800 Mark. Dabei hatte Metin Türköz da noch nicht mal einen Führerschein.

Schritt für Schritt taten Necla und Metin das, was getan werden musste, um ihren türkischen Traum zu erfüllen. Ohne zu merken, dass jeder dieser Schritte sie ein Stück von der Türkei entfernte. Und Deutschland näher brachte.

Wenn sie im Sommer in den Süden fuhren, packten sie den Kofferraum voll mit Geschenken. Hemden und Röcke aus Nylon waren bei Verwandten beliebt. In der Türkei spürten sie Neid. Dem Auto und den Geschenken sah man an, wie teuer sie gewesen waren, nicht, wie viel Arbeit und Heimweh sie gekostet hatten. Davon sprachen Necla und Metin Türköz auch nicht. Damals, da sind sie sich sicher, als das Deutschlandfieber in der Türkei herrschte, als alle nach Almanya zum Arbeiten wollten, hätte es ihnen auch niemand geglaubt.

1973 erfasste die Weltwirtschaftskrise Deutschland, im November stoppte die Bundesregierung die Anwerbung ausländischer Arbeitnehmer. Aber die Zahl der Türken stieg weiter an. Wer seine Familie noch nicht nachgeholt hatte, tat das jetzt, aus Angst, dass das später nicht mehr möglich sein würde. In manchen Städten gab es Zuzugsstopps für Ausländer, die nicht aus EG-Staaten stammten. Die Zahl der Fremden zu begrenzen schien wichtiger als ihre Integration. Zu Metin Türköz’ Programm gehörte mittlerweile ein Lied, das zwei deutsche Wörter als Titel trug, die er jetzt öfter hörte: Gastarbeiter raus! 1976 hieß es in einem Bericht des Arbeitsministeriums, die Eingliederung von Gastarbeitern solle sichergestellt werden »für die Dauer ihres Aufenthaltes«. Im selben Jahr investierten Metin Türköz und seine Frau ihre Ersparnisse in ein eigenes Geschäft.

Um vier Uhr früh stand Metin Türköz auf, fuhr zum Großmarkt und bestückte die Auslage seines kleinen Lebensmittelladens mit Obst und Gemüse, zerlegte im Hinterraum das Fleisch und schichtete es auf den Dönerspieß. Seine Frau kochte, machte Salate. Ihren Döner nannten sie McDöner, und Ugur Türköz ist fest davon überzeugt, dass seine Mutter in dieser Zeit die rote und weiße Dönersoße erfunden hat, »die gab es vorher nirgendwo«.

Metin Türköz arbeitete bis ein Uhr nachts, montags bis samstags, manchmal schlief er gar nicht, bevor er wieder zum Großmarkt fuhr. Es waren die Jahre, in denen Deutschland einen Ausländerbeauftragten bekam. In denen der Bundestag ein Gesetz zur Förderung der Rückkehrbereitschaft beschloss und jedem ausreisewilligen Gastarbeiter eine Prämie versprach. Ein neues Ausländergesetz wurde verabschiedet, das keine Verbesserung für die Einbürgerung brachte. Das war 1991, Metin Türköz schuftete, bis seine Kinder nicht mehr zusehen wollten, wie ihr Vater kaputtging. Ugur übernahm den Kredit für das Haus. Ein paar Jahre half Metin noch in türkischen Metzgereien aus. Jetzt ist er Rentner. 800 Euro bekommen er und seine Frau. Selbst damit schaffen sie es, zu sparen.

In den türkischen Musikladen am Hansaring ist längst ein italienisches Feinkostgeschäft eingezogen, in den Regalen steht teures Olivenöl. Die Zeit von Metin Türköz’ Liedern ist vorbei. Irgendwann hingen überall Satellitenschüsseln an den Fassaden, sagt Metin Türköz, alle schauten nur noch türkisches Fernsehen. Keine gute Zeit für Liedermacher.

Aber da war noch etwas anderes, sagt sein Sohn Ugur: Das Publikum für Metins Lieder war nicht mehr da. Sein Vater hatte für die ersten türkischen Arbeiter gesungen. »Sie waren relativ modern, so wie meine Eltern: Sie kamen aus großen Städten, sie waren aufgeschlossen«, sagt er. Ende der sechziger Jahre kamen auf einmal andere Leute, Bauern und Ungebildete. Viele von ihnen importierten das gesellschaftliche Bewusstsein ihrer Region und konservierten es. Ugur Türköz sagt: »Sie leben in einer Zeitkapsel, in der immer noch Anatolien 1969 ist.« Sie wollten keine Lieder, die Brücken in die Heimat bauten. Sie hatten ihre Heimat mitgebracht.

Die Ankunft war leichter für die, die später kamen. Trügerisch leicht. Es gab türkische Läden, türkische Cafés, türkische Vorarbeiter. Wer neu im Land war, fand sich ohne Wörterbuch zurecht. Genau das machte das Ankommen schwieriger. Ugur Türköz sagt, dass damals auch die deutsche Politik versagt hat, indem sie sich vormachte, diese Menschen würden nicht bleiben. »Integration geht nur, wenn man die Türen aufmacht.«

Integration braucht offene Türen - Lesen Sie mehr im sechsten Teil.

Die Türköz konnten die Tür aus eigener Kraft aufstoßen. Weil sie schon in Istanbul das Dorf hinter sich gelassen hatten. Weil sie zu einer Zeit kamen, in der noch nicht jeder zu wissen glaubte, welche Gedanken sich unter einem Kopftuch verbergen. Weil sie neugierig waren und, wie Necla Türköz es sagt, ein »bisschen locker«. Auch in diesem Gelingen mag ein Grund dafür liegen, dass Metin Türköz das Singen aufgab. Denn er war ja, so sah er sich selbst, ein Protestsänger. Vielleicht trug er irgendwann einfach nicht mehr genügend Wut in sich. Sein Verstummen als Sänger, so traurig es ihn bis heute macht, war auch ein stilles Zeichen des Glücks.

Alpin Harrenkamp, die Tochter der Türköz, sitzt in ihrem Büro, Luftlinie nur ein paar Hundert Meter von dem ihres Bruders entfernt. Auch sie arbeitet bei Ford, in der Berufsausbildung. Mit ihren Kindern Junus und Melissa hat Alpin Harrenkamp von Geburt an nur deutsch gesprochen. Heute findet sie das schade, »aber in meiner Schulzeit war es immer so anstrengend, türkisch zu sein, ich wollte am liebsten gar nicht auffallen«. Es erschien ihr nicht wichtig, dass ihre Kidner Türkisch lernen. Mit ihrem Mann, dessen Nachnamen sie trägt, redet sie ohnehin deutsch.

Die Sprache, dieser vermeintlich feine Gradmesser, ob jemand sich integrieren will oder nicht: Die Enkel der Türköz sprechen kaum Türkisch. Ugur Türköz, der Sohn, redet Kölsch. Sein Cousin benutzt so viele Fremdwörter, als wollte er mit ihnen einen Schutzwall um sich aufbauen. Und das Deutsch von Necla und Metin Türköz holpert über Artikel, Präpositionen und manches Verb hinweg. Seit 50 Jahren sind sie jetzt hier, vielleicht würden sie den Sprachtest, den man heute bei der Einbürgerung bestehen muss, trotzdem nicht schaffen. Aber wenn ihre Nachbarn in den Urlaub fahren, vertrauen sie Necla Türköz die Hausschlüssel an.

Alpin Harrenkamp packt ihre Tasche, zu Hause warten die Kinder auf das Mittagessen. Junus und Melissa, sagt sie auf dem Weg zum Auto, gingen mit der Frage nach ihrer Identität viel entspannter um, als sie selbst das als Jugendliche gekonnt habe. Sie habe jede Frage nach ihrer Herkunft als Angriff verstanden. »Wenn du sagst, meine Eltern kommen aus der Türkei, antwortet eben niemand: Oh, wie toll, erzähl doch mal!«

Deswegen gibt sie ihren Auszubildenden manchmal die Hausaufgabe, Eltern und Großeltern nach der Familiengeschichte zu fragen. Mehr als ein Drittel der Azubis bei Ford, schätzt sie, hat einen Migrationshintergrund, dritte oder vierte Generation. Über die Geschichte der Großeltern wissen die meisten nichts mehr.

Auch die Geschichte von Necla und Metin Türköz wird irgendwann vergessen sein. So ist das mit Familiengeschichten: Immer neue Gegenwarten schichten sich auf das, was vor zwei oder drei Generationen war, bis es verschüttet ist. Viele der Geschichten aus der ersten Generation der türkischen Arbeiter werden in den nächsten Jahren verschwinden, ohne je erzählt worden zu sein. Vielleicht ist dieses fünfzigjährige Jubiläum die letzte Gelegenheit, sie zu retten.

Lara Türköz, die Enkelin, ist älter als auf den Fotos, die bei ihren Großeltern im Wohnzimmer stehen. Da ist sie zwölf oder dreizehn, mit schüchternem Lächeln. Als sie das Starbucks-Café am Kölner Friesenplatz betritt, ist ihr Blick selbstbewusst. Sie ist ein Kind der neunziger Jahre, in denen die CDU die Formel »Deutschland ist kein Einwanderungsland« aus ihrem Programm strich und der erste türkischstämmige Abgeordnete in den Bundestag einzog. Als Lara eingeschult wurde, hieß der erfolgreichste türkische Sänger aus Deutschland Tarkan, ein Popstar, der es in ganz Europa in die Top Ten schaffte.

Lara, Ugur Türköz’ Tochter, ist 18 Jahre alt, im kommenden Jahr macht sie Abitur. Ein schönes Mädchen wie ihre Großmutter damals. Lara hat sie nie nach früher gefragt, das wundert sie selbst ein bisschen. Sie kann sich nicht erinnern, die Lieder ihres Großvaters je gehört zu haben. Seine Texte, die jetzt neben ihrer Hot Caramel Chocolate auf dem Tisch liegen, versteht sie kaum, ihr Türkisch sei nicht gut, entschuldigt sie sich. Aber dass ihr Großvater berühmt war, weiß sie. Sie hat einmal seinen Namen gegoogelt und einen Wikipedia-Eintrag gefunden.

Als Kind hat Lara Türköz mit ihren Eltern in Istanbul gelebt, als ihr Vater dort vier Jahre lang ein neues Ford-Werk mit aufbaute. Sie gehe mit ihren Eltern dort immer in ein bestimmtes asiatisches Restaurant, in dem die Peking-Ente fantastisch sei, sagt sie, schlendere durch das angesagte Viertel Beyoğlu mit all den Boutiquen und Cafés. Wenn Lara Türköz von Istanbul schwärmt, klingt das, als könnte sie genauso von Paris oder Madrid schwärmen, wenn sie dort ein paar Jahre gelebt hätte. Sie könne sich vorstellen, später mal ein paar Semester in der Türkei zu studieren, sagt sie, aber Schottland wäre auch schön. Jetzt, in den Ferien, will sie sich für ein duales Studium bewerben, das eine technische Ausbildung mit einem Maschinenbaustudium verbindet. Natürlich bei Ford.

Vielleicht wird also, 50 Jahre nach Metin Türköz’ erstem Arbeitstag, die Geschichte der Türköz bei Ford ein weiteres Kapitel bekommen. Nur der Name Türköz wird irgendwann verschwinden. Die Enkel Lara, Junus und Melissa werden die Geschichte ihrer Familie fortschreiben. Aber es wird keine türkische Geschichte mehr sein.

Metin Türköz, der diesen Namen nach Deutschland brachte, sitzt in diesem Sommer viel auf dem Sofa im Wohnzimmer und schaut türkisches Fernsehen. Vor ein paar Wochen ist er gestürzt, hat sich den Oberschenkel und den Arm gebrochen. Jetzt läuft er nur noch mit Rollator. Er klopft auf das Holz des Couchtischs. Kein Türköz ist bisher so alt geworden wie er.

Schade wäre es, würde sein Name verschwinden, sagt er. Aber er weiß, so ist der Lauf der Dinge. Er hat ja selbst Abschied genommen. Vor ein paar Jahren fuhr er noch einmal in seinen Heimatort, ein Dorf nahe der Stadt Kayseri. Da saß er dann bei seinem Cousin, der immer nur den Kopf schüttelte, wenn er ihn nach alten Freunden fragte. Das Geburtshaus abgerissen, die Schule auch. »Alle weg«, sagt Metin Türköz. »Habe ich gesagt: Was ist übrig geblieben für mich in Türkei? Keine Erinnerung mehr. Das ist fertig. Dann habe ich meine Stadt abgeschnitten, Abschied genommen, tut mir leid, brauche ich nicht wiederzukommen. Bleiben wir hier.« Er hatte noch einmal in die Türkei zurückkehren müssen, um endgültig in Deutschland anzukommen. In einer Schublade im Reihenhaus in Rodenkirchen liegt seitdem sein deutscher Pass.

Aus den zwei Jahren ist, für Metin Türköz und für Deutschland, ein halbes Jahrhundert geworden. Metin und Necla Türköz sind, obwohl sie es anfangs nicht wollten, eingewandert. Und Deutschland ist, obwohl es das nicht wollte, ein Einwanderungsland geworden.

Wenn Metin Türköz heute sein Lied Almanya, Almanya weiterschreiben würde, erklängen die letzten Strophen in hellem Dur. Er würde davon singen, wie sein türkischer Traum zu einem deutschen Traum geworden ist. Und sich so am Ende doch erfüllt hat: »Wir sind Ziel erreicht. Gott sei Dank Ziel erreicht. Sehr froh jetzt.«

Der Text wurde übernommen vom Tagesspiegel-Kooperationspartner zeit.de

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