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Politik: Gauck-Nachfolge: Marianne Birthler ist neue Bundesbeauftragte für die Stasi-Unterlagen

Als Demonstranten und Bürgerrechtler am 15. Januar 1990 die Stasi-Zentrale in der Normannenstrasse besetzten, dämmerte ihnen, welch ungeheuere Hinterlassenschaft darin steckte.

Als Demonstranten und Bürgerrechtler am 15. Januar 1990 die Stasi-Zentrale in der Normannenstrasse besetzten, dämmerte ihnen, welch ungeheuere Hinterlassenschaft darin steckte. Dass es letztendlich mehr als 180 Aktenkilometer, ungeheuere Mengen Ton- und Filmdokumente waren, um deren Verbleib und Nutzung ein erbitterter Kampf entbrannte, wurde in den folgenden Monaten allmählich klar.

Während Schnäppchenjäger und spätere Vereinigungsprofiteure vom Tafelsilber der untergehenden DDR auf die Seite schafften, was sie nur immer konnten, setzten die Oppositionellen am Runden Tisch durch, dass die Leitungszentrale des Ministeriums für Staatssicherheit, die Residenz Erich Mielkes, im Originalzustand erhalten blieb. Nachdem die Reißwölfe, in denen die Akten verschwanden, gestoppt waren, kümmerten sich zahlreiche Bürgerkomitees um die provisorische Sicherung der Aktenbestände.

Die Frage nach der endgültigen Öffnung und Nutzung der Akten wurde erst unmittelbar vor der staatlichen Vereinigung entschieden. Dem Willen der Bürgerrechtler und eines großen Teils der DDR-Bevölkerung, die sich der Diktaturgeschichte und den persönlichen Schicksalen in den Akten stellen wollten, stand eine west-östliche Koalition gegenüber, die auf dauerhaften Verschluss des brisanten Materials drängte.

Es kam zu einer ungewöhnlichen Arbeitsteilung. Joachim Gauck, der Rostocker Pastor und Abgeordnete der letzten Volkskammer für Bündnis 90, setzte einen fraktionsübergreifenden Beschluss durch, in dem sich auch die Vertreter der PDS für die Aktenöffnung aussprachen. Als dann die "Architekten des Vereinigungsvertrages", Schäuble und Krause, dem Willen der Volkskammer nicht entsprechen wollten, brachte der Hungerstreik der Bürgerrechtler in der Stasizentrale im September 1990 den Durchbruch. Mit der Verabschiedung des entsprechenden Gesetzes, der Einrichtung und dem Arbeitsbeginn der Stasiakten-Behörde im Januar 1992 geschah etwas historisch Einmaliges. Erstmals nach dem friedlichen Sturz einer Diktatur wurde der Blick in das Innere ihrer Funktionsweise möglich. Erstmals erhielten die Opfer der Diktatur die Möglichkeit, aus den Akten und Dossiers, die über sie angelegt waren, Repression und Verfolgung zu rekonstruieren.

Was sie fanden, waren aber nicht nur Dokumente der Bespitzelung, der Niedertracht und des Verrats. Die Akten sind auch eine einzigartige Quelle für die Geschichte von Widerstand, Auflehnung und menschlicher Solidarität in der DDR-Diktatur. Sie zeigen, wo die scheinbar allmächtige Staatsicherheit bei Werbungsversuchen und Zersetzungsplänen an ihre Grenzen stieß. Neben der individuellen Akteneinsicht, die entgegen allen Befürchtungen nicht zum Bürgerkrieg und zu massenhaftem Mord und Totschlag führte und bis heute mit mehr als 10 000 monatliche Anträgen auf Einsicht massenhaft genutzt wird, wurde die Möglichkeit der Überprüfung auf Mitarbeit für das MfS zu einem der wichtigsten Arbeitsfelder der Behörde.

So wichtig dieses Kriterium auch ist, es birgt die Gefahr, dass sich hinter der Gestalt des "IM" Parteifunktionäre der SED und andere Belastete zu verstecken suchen - und dass in Umkehrung der Gewichte die "inoffizielle" Mitarbeit stärker geahndet wird als die Verantwortung der hauptamtlichen Führungsoffiziere und ihrer Vorgesetzten.

Sehr bald verband sich die Aktenbehörde mit dem Namen ihres Leiters. Joachim Gauck wurde zur Person gesamtdeutschen Interesses. Für Täter und Mitläufer des DDR-Systems, für bundesdeutsche Gegner und Verächter der Auseinandersetzung mit der gesamtdeutschen Wirkung der östlichen Diktatur avancierte er zum Großinquisitor und zum Pastor Gnadenlos. Viele andere Menschen in Ost und West erkannten in ihm ein gesamtdeutsches Gewissen.

In zahllosen öffentlichen Auftritten nutzte Gauck immer wieder die Chance, Aktenöffnung und Arbeit der Behörde als Chance für die Opfer und als Voraussetzung dauerhafter Versöhnung vorzustellen. Er warnte vor westdeutscher Selbstgerechtigkeit und forderte immer wieder, den Einfluss und die erhebliche Wirkung der Westarbeit der Staatssicherheit aufzuklären und der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Der bestechenden Außenwirkung Gaucks stand sein Unbehagen gegenüber, sich als Leiter einer mehrtausendköpfigen Behörde allen Widrigkeiten der Bürokratie zu stellen. Dies brachte ihm nicht nur die Kritik des Bürgerrechtlers Jürgen Fuchs ein. Im Spagat zwischen dem aufklärerischen Anspruch der Aktenöffnung und der notwendig bürokratischen Praxis der Behörde blieben einige Hoffnungen auf der Strecke.

Wolfgang Templin

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