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Der Historiker Heinrich August Winkler findet mit seiner Rede im Budnestag zum 70. Jahrestag des Kriegsendes findet bei den Linken wenig Beifall. Ihnen kommt das Wort "Westen" zu häufig vor.

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Gedenken im Bundestag zum Kriegsende: Heinrich August Winkler findet nicht überall Beifall

Der Historiker Heinrich August Winkler hat im Bundestag an das Kriegsende vor 70 Jahren erinnert. Einigen Linken hat seine Rede gar nicht gefallen. Ihnen kommt das Wort "Westen" zu häufig vor. Und die Annexion der Krim durch Russland.

Von Robert Birnbaum

Der weißhaarige Herr am Rednerpult hat so gar nichts Aufreizendes an sich, und sowieso ist die Feierstunde des deutschen Parlaments zum Kriegsende vor 70 Jahren vorwiegend eben dies: feierlich. Blumensträuße auf der Stenografenbank, Bundestag, Bundesrat und Kabinett in gedeckten Farben, ein Staatsakt mit Musik und Ansprachen. Doch vom Redner aus gesehen links außen fällt der Beifall ausgesprochen spärlich aus. Es gibt im Reichstag heute manche, für die ist der Professor Heinrich August Winkler eben doch eine Provokation.

Nun muss man sagen: Der Bundestag hat schon weit schwierigere Jahrestage am 8. Mai erlebt. Bundestagspräsident Norbert Lammert erinnert gleich als Erster daran, wie Richard von Weizsäcker im alten Bundestag in Bonn den Satz aussprach, der den Umgang mit dem Kriegsende radikal veränderte: „Der 8. Mai 1945 war ein Tag der Befreiung.“ Weizsäcker war nicht der Erste mit diesem Satz – Lammert merkt das in einem Nebensatz an, eine kleine Reminiszenz, ohne den Urheber zu nennen, nämlich Helmut Kohl –, aber erst aus dem Mund eines Bundespräsidenten entfaltete er Wirkung.

Sie war nachhaltig. Der Historiker Winkler wird später nachzeichnen, wie schwer sich die Deutschen damit getan haben, ihre Wahrnehmung vom „Zusammenbruch“ der eigenen Existenz und der eigenen Glaubenssätze mit der selbstkritischen Erkenntnis zusammenzubringen, dass sie zu ihrem Glück den Krieg verloren hätten.

Heute ist Weizsäckers Satz Allgemeingut

Weizsäcker erntete damals Ablehnung, ja Hass aus den eigenen Reihen. Heute ist sein Satz Allgemeingut. Die Linke hat sogar einen Antrag eingebracht, dass man den 8. Mai als „Tag der Befreiung“ bundesweit zum gesetzlichen Feiertag machen solle. Der Antrag wird aber keine Mehrheit finden. Die anderen finden, er komme von den Falschen.

Das hat auch etwas mit dem spärlichen Applaus von links zu tun. Der wiederum hängt zusammen mit der Art, wie Winkler die Vor- und die Nachgeschichte jener 2077 Tage deutet, in denen Deutschland unter seinem „Führer“ die halbe Welt in Schutt und Asche legte und zuletzt sich selbst. Für den Historiker war der Irrweg die Konsequenz einer Haltung, die die Werte des Westens nicht annehmen wollte – Volkssouveränität, Menschenrechte, repräsentative Demokratie. „Der von den alliierten Soldaten, und nicht zuletzt denen der Roten Armee, unter schwersten Opfern erkämpfte Sieg über Deutschland hatte die Deutschen in gewisser Weise von sich selbst befreit.“ Erst dadurch habe für die Bundesrepublik „der lange Weg nach Westen“ – so der Titel von Winklers Standardwerk – sein Ziel finden können.

Der Bundestag erhebt sich zum Gedenken des Kriegsendes vor 70 Jahren. Vorne stehen Bundesratspräsident Volker Bouffier, der deutsche Historiker Heinrich August Winkler, Bundespräsident Joachim Gauck, Bundeskanzlerin Angela Merkel und Andreas Voßkuhle, Präsident des Bundesverfassungsgerichts.
Der Bundestag erhebt sich zum Gedenken des Kriegsendes vor 70 Jahren. Vorne stehen Bundesratspräsident Volker Bouffier, der deutsche Historiker Heinrich August Winkler, Bundespräsident Joachim Gauck, Bundeskanzlerin Angela Merkel und Andreas Voßkuhle, Präsident des Bundesverfassungsgerichts.

© Odd Andersen/AFP

Das ist zu viel „Westen“ für den Geschmack mancher auf der Linken. Dabei meint Winkler weniger den real existierenden Westen als sein eigenes Ideal – im Gegensatz zu deutschnationalen Ideen von „Volksgemeinschaft“ und Stärke. Diese geistige Öffnung nach Westen, betont der Forscher, sei Voraussetzung gewesen für jene selbstkritische Geschichtskultur, die heute das Gedenken prägt.

Aber Winkler wäre nicht der politische Kopf, der er ja auch ist, beließe er es beim Historischen. „Abgeschlossen ist die deutsche Auseinandersetzung mit der Vergangenheit nicht, und sie wird es auch niemals sein“, sagt er. „Unter eine solche Geschichte lässt sich kein Schlussstrich ziehen.“ Nicht, weil die nächsten Generationen sich schuldig fühlen müssten an etwas, wofür sie nichts können. Wohl aber, weil das Bewusstsein für die eigene Geschichte „zur Verantwortung für das Land“ gehört. Übrigens, findet Winkler, auch für solche Menschen, „die sich entschlossen haben oder noch entschließen werden, Deutsche zu werden.“ Auf einer der Zuschauertribünen sitzt eine junge Frau mit Kopftuch. Man kann nicht richtig erkennen, ob sie sich gemeint fühlt.

Ein paar weitere Mahnungen hat der Redner für seine Zuhörer im Plenarsaal bereit. Winkler warnt vor allen Versuchen, aus der NS-Zeit eine deutsche „Sondermoral“ abzuleiten je nach tagespolitischem Bedarf. „Für den Kampf gegen Völkermord bedarf es nicht der Berufung auf Auschwitz“, sagt er. Aber das größte Verbrechen des 20. Jahrhunderts liefere genauso wenig ein Argument für Beiseitestehen, wo Eingreifen zum Schutz von Menschen gefordert sei.

Trotzdem gebe es Verpflichtungen, die aus der NS-Zeit erwachsen seien: die besonderen Beziehungen zu Israel, die besondere Pflicht zur Solidarität mit jenen Staaten Osteuropas, die unter der Spaltung des Kontinents zu leiden hatten, zu der der Hitler-Stalin-Pakt, der Überfall auf Polen und auf die Sowjetunion die Voraussetzungen geschaffen hätten.

Die Annexion der Krim macht diesen Tag so schwierig

Aber Winkler erinnert auch an die Mord- und Kriegszüge von SS und Wehrmacht in anderen Ländern, von der Aushungerung Leningrads bis zu Massakern in Serbien, Italien oder Griechenland. „Es gibt keine moralische Rechtfertigung dafür, die Erinnerung an solche Untaten in Deutschland nicht wachzuhalten“, sagt er. Das ganze Haus applaudiert, doch Winkler ist noch nicht zu Ende: „... und die moralischen Verpflichtungen zu vergessen, die sich daraus ergeben.“ Er führt das nicht aus, aber das Stichwort Griechenland fiel ja schon.

Und noch etwas, findet Winkler, muss an diesem Tag gesagt werden. Wirklich zu Ende gegangen sei die Nachkriegszeit nicht mit der deutschen Einheit, sondern sieben Wochen später mit der Charta von Paris. Damals verpflichteten sich die Staaten Europas, „unter ihnen die Sowjetunion“, auf Prinzipien des Zusammenlebens: Gewaltverzicht, Achtung der Grenzen, Demokratie, friedliche Beilegung von Konflikten. Doch diese Vision sieht der Zeitgeschichtler akut in Gefahr: „Durch die völkerrechtswidrige Annexion der Krim ist die Gültigkeit der Prinzipien der Charta von Paris radikal infrage gestellt und mit ihr die europäische Friedensordnung.“

Bei der Linken rührt sich jetzt gar keine Hand. Aber Winkler hat natürlich recht, den Punkt anzusprechen, weil er diesen 70. Jahrestag zum besonders schwierigen macht. Er zwingt zu Drahtseilakten. Die Kanzlerin reist nicht am Samstag nach Moskau zur Siegesparade, sondern erst am Sonntag und zum Grab des Unbekannten Soldaten. Die Rote Armee als Befreier würdigen, ohne ihre Rolle in der Ukraine zu vergessen – nicht einfach. Als die Feierstunde mit der Europa-Hymne zu Ende gegangen ist, steht Gregor Gysi vor einer Kamera. Er plädiert für Schritte auf Moskau zu. Hinter ihm an der Wand sind die Graffiti sowjetischer Soldaten zu lesen. Für sie fand hier ein anderer langer Weg nach Westen sein Ende.

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