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Gedenkjahr 2015: Denken und danken

Deutschland wird bewundert und beargwöhnt. Und seine Vergangenheit ist immer gegenwärtig. Auch 2015 erwartet uns ein Gedenkmarathon. Gedächtniskultur ist ein fein gestricktes Gewebe von Stimmungen, Einstellungen und Gedanken. Hilft das dem Land? Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Peter von Becker

Deutschland geht als Fußballweltmeister ins Jahr 2015 und ist laut internationalen Umfragen in der Welt so beliebt wie nie. Freilich in Teilen Europas auch so beargwöhnt und verflucht wie lange nicht mehr. Kanzlerin Angela Merkel, deren Popularität schon manchen in ihrer eigenen Partei nicht mehr recht erklärlich erscheint, gilt der Londoner "Times" als Politikerin des Jahres, Deutschlands Wirtschaft bildet das bewunderte Rückgrat der an etlichen Gliedern schwächelnden Europäischen Union; und kein Staat und keine Gesellschaft außer den USA wirkt für Einwanderer heute attraktiver als die Bundesrepublik mit ihrer im Weltmaßstab kleinen, doch irgendwie riesig coolen Hauptstadtbaustelle Berlin.

Ruhm und Ruch

Es ist schon etwas kurios. Mag man in Krisenländern wie Italien oder Griechenland auch von deutschen Spardiktaten reden, der Kanzlerin auf Plakaten Hitlerbärtchen ankleben und Richtung Berlin aufs "Vierte Reich" schimpfen: Junge, bestausgebildete Italiener, Griechen oder Spanier wollen ihrer Arbeitslosigkeit nur zu gerne nach Deutschland entkommen, und manche Protestwähler zwischen Madrid, Paris, Rom und Athen würden insgeheim "la Merkel" den eigenen, oft korrumpierten Eliten wohl vorziehen.

Ruhm und Ruch bedeuten also keinen Fluch. Gleichzeitig stehen nach dem Gedenkmarathon 100 Jahre Erster Weltkrieg schon wieder lauter geschichtslastige Jubiläen ins Haus. 70 Jahre sind es 2015 seit der Befreiung von Auschwitz und danach all der anderen Mordlager zwischen Mauthausen, Buchenwald und Bergen-Belsen bis hin zum Ende des Zweiten Weltkriegs. Daneben leuchtet das 500. Geburtsjahr von Lucas Cranach als Vorschein des großen Luther- und Reformationsjubiläums 2017. Doch näher wirkt die jüngere Geschichte. Auch wird man Mitte Februar der Zerstörung Dresdens vor 70 Jahren gedenken.

Politik, Kirchen und Schulen haben viel zu erklären

Zu viel Erinnerungskultur? Tatsächlich ist auch dies eine deutsche Besonderheit: so viel Gedenken und Mahnung an eigene geschichtliche Schuld, Schande und Schmerzen. Hierdurch erwirbt das Land gleichfalls internationalen Respekt. Was weder Anlass bietet für Sündenstolz noch für eigene Gegenrechnungen. Gerade in Dresden, wo sich derzeit ein fremdenfeindliches Ressentiment breitmacht, werden Politik, Kirchen, Medien und Schulen demnächst viel zu erklären haben. Aufzuklären auch darüber, dass Hitler und der Luftkriegsmarschall Göring im deutschen Namen jenen Feuersturm gesät hatten, der in Dresden und andernorts so furchtbar zurückgeweht ist. Kurz nachdem die Alliierten die ganze Wahrheit über Auschwitz erfahren hatten.

Der Dank der Zeitzeugen

Tote lassen sich so wenig gegeneinander aufrechnen wie die Lebenden. Jedes Leid ist eines zu viel. Aber Ursachen und Wirkungen lassen sich in der Geschichte studieren, erkennen und bedenken. Eine unmittelbare, messbare Aufklärungsquote – wie in der Kriminalstatistik – kann man bei der Vielzahl der Gedenktage, Jubiläumsausstellungen, Mahnreden gewiss nicht erwarten. Gedächtniskultur ist wie alle Kultur ein subtiles, fein gestricktes Gewebe von Stimmungen, Einstellungen, verstreuten und wieder gesammelten Gedanken. Es sind ein paar Anker oder nur Bojen im reißenden Strom der Zeit. Doch für das Gedenken danken 2015 auch die wohl letzten überlebenden Zeugen – dankbar für unsere nie ideale, aber heute in Deutschland und Europa so viel bessere Zeit.

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