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© picture-alliance/ dpa

Gedichte, Dichtkunst und Dichter: Einen Reim machen

Bald werden sie wieder vorgetragen, unterm Tannenbaum: Gedichte. Aber sonst? Dichtkunst und Dichter spielen im öffentlichen Interesse keine Rolle. Und doch gibt es sie seit Jahrhunderten. Einer wie Jan Wagner kann erklären, warum.

Der Dichter Jan Wagner reist ständig von einem Termin zum nächsten. Er reist quer durch die Bundesrepublik und auch weit darüber hinaus. Ende August war er auf Lesetour durch Osteuropa, erst in Serbien und dann in der Ukraine. Zehn solcher Auslandsreisen und mehr als 50 öffentliche Auftritte hat Jan Wagner in diesem Jahr bereits absolviert. Er wird von staatlichen Kultureinrichtungen, regionalen Literaturvereinen oder Buchhandlungen engagiert, um dort vorzulesen, Vorträge zu halten oder Schreibworkshops zu leiten. Man kann sagen: Für einen Dichter läuft es beruflich ungewöhnlich gut bei ihm.

Für einen Dichter. Das ist die Einschränkung. Vom Dichten leben – und damit ist primär das Verfassen von Gedichten gemeint – ist bis heute ein prekäres Unterfangen. Und dennoch über Jahrhunderte kein aufgegebenes.

Für den also ungewöhnlich gut beschäftigten Wagner bedeuten die vielen Reisen, seine Verdienstmöglichkeiten, dass er inzwischen des Öfteren im Zug an neuen Gedichten arbeiten muss. Was mitunter nervig ist.

In seinem Arbeitszimmer in seiner Berlin-Neuköllner Altbauwohnung steht ein Ohrensessel. Kein alter, abgegriffener Ledersessel etwa, sondern ein nagelneues Teil mit dunkelbraunem Stoffbezug. In dem sitzt er dann, meist am späten Abend, wenn der Verkehrslärm von der nahen Sonnenallee langsam abebbt und er die nötige Ruhe findet. Wagner sitzt und sinniert und schreibt. Umringt von meterhohen und restlos überfüllten Bücherregalen. Vor den Regalen stapeln sich noch unzählige weitere Bücher und Unterlagen zu kleinen Türmen auf.

Am Fenster steht ein Pult, da liest Wagner gelegentlich oder macht Notizen. Er schreibt alles mit der Hand. Die Ideen für Gedichte schöpft er aus alltäglichen Beobachtungen, aus der Lektüre von Büchern und Zeitungen, aus dem Internet. Es sind meist ganz simple Dinge, die die Grundthemen seiner Poesie bilden. Alles Mögliche kann urplötzlich zu einem poetischen Sprachbild werden. Und das liest sich dann beispielsweise so:

tomaten

weshalb sollten sie sich schämen, dick und rund am strauch? sie tragen ihre uhren tief in sich selber, jene feinmechanik aus kernen. werden reif, indem sie ruhen.

manchmal sieht man, wie sie sich bewegen, und muß an klöppel denken, die ein wind berührt – doch hört man keine glocken schlagen (bis auf die grünen, die aus blättern sind).

sie kommen ihrer leuchtend roten kunst im stillen nach, selbst nachts, selbst morgens, wenn den matten sternen der stolz verfliegt. du aber kannst ruhig etwas lauter reden. sag: tomaten.

Für Wagner ist Lyrik „die Essenz der Literatur“. Ein Ballung von Sinngehalt auf möglichst kleinem Raum. Er sagt: „Wer anfängt, Gedichte zu schreiben, tut das nicht, weil er glaubt, Geld damit zu verdienen, sondern weil er die Lyrik liebt. Das ist bei mir nach wie vor so. Es ist natürlich eine angenehme Begleiterscheinung, dass ich aus meiner Liebe zur Lyrik einen Beruf machen konnte.“ Verallgemeinernd kann man sagen: Der Dichterberuf ist weniger ein Beruf als eine Berufung und eine recht brotlose obendrein. Was wiederum die Frage aufwirft, die Wilhelm Busch einst so formulierte:

Rührend schöne Herzgeschichten, die ihm vor der Seele schweben, weiß der Dichter zu berichten. Wovon aber soll er leben?

Lyrik spielt keine Rolle im öffentlichen Interesse und besetzt auf dem deutschen Buchmarkt nur eine Nische. Der Anteil, den Gedichtbände aktuell am Gesamtumsatz des deutschen Buchhandels ausmachen, beläuft sich auf nicht mal einen Prozent. Und diesen verschwindenden Prozentteil füllen vor allem neu aufgelegte Klassiker wie Rainer Maria Rilke, Erich Kästner oder die jüngst wiederentdeckte Mascha Kaléko oder die kostengünstigen Reclam-Hefte und Themenbändchen – wie bald wieder zur Weihnachtszeit. Daneben verkauft sich Lyrik am besten in Form süffig konsumierbarer Liebesgedichte. Autoren wie Sarah Kirsch und Ulla Hahn haben damit fünf-, Erich Fried sogar sechsstellige Verkaufszahlen erzielt.

Im Durchschnitt erreichen neu erscheinende Lyrikbände jedoch marginale Auflagen von nur wenigen hundert Exemplaren. Und es sind vor allem spezialisierte Kleinverlage wie der Berliner Kookbooks-Verlag, die die relevanten Entwicklungen in der deutschsprachigen Lyrik herausgeben, sich damit aber genauso wie der Großteil ihrer Autoren am absoluten Existenzminimum bewegen. Aktuelle zeitgenössische Lyrik, so lautet das fürs Dichterland betrübliche Fazit, möchte kaum jemand lesen.

Hören schon eher. Viele Lesungen und Veranstaltungen wie Poetryslams oder das alljährliche Berliner Poesiefestival sind durchaus gut besucht. Dort treffen die Poeten auf ein Publikum, das jedes vorgetragene Gedicht fröhlich-frenetisch beklatscht, danach aber kaum einmal zu den Büchertischen eilt, um das soeben Gehörte in Buchform zu erwerben. Warum das so ist, darüber wird in Szenekreisen seit jeher rege diskutiert. Eine naheliegende Antwort: Öffentliche Lesungen haben immer auch sozialen Eventcharakter. Es ist viel einfacher, sich bei einem Bier mit Freunden von Gedichten berieseln zu lassen, als diese mühsam selber zu lesen. Ob dem Gros der auf Lesungen anwesenden Hörerschaft ernsthaft an Lyrik gelegen ist, scheint fraglich. Immerhin aber bieten Lesungen eine Einnahmequelle für Poeten. Je nach Bekanntheitsgrad kann ein Dichter zwischen 50 und 800 Euro pro Auftritt verdienen. Doch um überhaupt zu Lesungen eingeladen zu werden, muss man sich bereits halbwegs einen Namen gemacht haben. Dazu muss man wiederum gedruckte Gedichtbände vorweisen können, die am besten noch prominent im Feuilleton besprochen wurden. Das ist freilich nur sehr wenigen vergönnt. Und selbst ein Erfolgsphänomen wie Wagner, dessen Lyrikbände in vierstelligen Auflagen im Berlin-Verlag und zuletzt im Hanser-Verlag erschienen sind, kann allein vom Verkauf und dem öffentlichen Vortragen seiner Gedichte keinen anständigen Lebensunterhalt bestreiten.

Um ein gesichertes Einkommen zu haben, muss Wagner nebenbei noch anderweitige Auftragsarbeiten übernehmen. „Ich betreibe mittlerweile so etwas wie eine Fünf- bis Sechsfelderwirtschaft“, sagt er. Er arbeitet regelmäßig als Übersetzer und schreibt für Zeitungen, Zeitschriften und den Rundfunk. 2012 war er Gastdozent am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig. Darüber hinaus ernähren ihn die Literaturpreise, regelmäßig gehört er zu den Gewinnern. Er bekam zum Beispiel den Anna-Seghers-Preis (2004) und den Friedrich-Hölderlin-Preis (2011), die mit jeweils 20 000 Euro dotiert sind. Ebenfalls 2011 war er Stipendiat der Deutschen Akademie in der Villa Massimo in Rom. Das brachte ihm für ein Jahr kostenlose Unterkunft bei 2500 Euro monatlich ein, von denen er noch Monate später zehren konnte. Dass er als Dichter leben könne, liege außerdem daran, dass er gemeinsam mit seiner Frau einen bescheidenen Lebensstil führe und keine Kinder habe. „Wer ein Haus im Grünen möchte und ein Auto, der sollte auf keinen Fall das Berufsziel Dichter wählen“, sagt Wagner.

Dass das Leben als Dichter eine gehörige Portion Idealismus und Leidenschaft erfordert, war allerdings schon immer so.

Unwirtschaftlich, wie der Dichterberuf auch sein mag, er hat eine eherne Tradition, die über die Barden und Minnesänger des Mittelalters bis zu den Aoiden der griechischen Antike zurückreicht, die als Wandersänger umherzogen, lange noch bevor Homer seine großen Versepen, die „Odyssee“ und die „Ilias“, dichtete. Nicht zu vergessen die lange Traditionslinie dichtender Theologen und Kleriker, die im deutschen Sprachraum von Otfrid von Weißenburg (um 790 n. Chr.) bis in die heutige Zeit hineinreicht.

Seit dem 16. und 17. Jahrhundert rekrutieren sich berühmte Poeten zunehmend aus bürgerlichen Schichten und gehen geregelten Brotberufen nach, sind zum Beispiel Juristen (Andreas Gryphius, Felix Dahn, E. T. A. Hoffmann), Ärzte (Paul Fleming, Alfred Döblin, Gottfried Benn), Lehrer (Martin Opitz, Friedrich Hölderlin, Jean Paul) oder administrative Staatsbeamte (Hofmann von Hoffmanswaldau, Johann Wolfgang von Goethe, Joseph von Eichendorff). Die freie Autorschaft, wie Jan Wagner und viele seiner Kollegen sie heute betreiben, ist dagegen ein recht junges Berufskonzept. Es entsteht erst durch die allmähliche Durchsetzung des Urheberrechts im 18. Jahrhundert, also lange nach der Erfindung des Buchdrucks und der Entstehung des Buchhandels und Pressewesens. Im damaligen Preußen dauert es sogar bis 1837, bis das Eigentumsrecht eines Autors an seinen Werken erstmals gesetzlich anerkannt wird. Damit ist der Grundstein gelegt für die Entstehung des interdisziplinären modernen Berufsdichters.

Allerdings ist die freie Schriftstellerei im 18. Jahrhundert noch ein sehr viel waghalsigeres Unternehmen als im 21. Jahrhundert. Undenkbar wären heute Lebensgeschichten wie die von Friedrich Schiller und Christian Friedrich Daniel Schubart, die beide unter dem tyrannischen Herzog von Württemberg Carl Eugen zu leiden hatten. Schubart war ein großer Freigeist seiner Zeit, Schillers glühendes Vorbild, ein Dichter, schonungsloser Journalist und Satiriker. Seine bissigen Aufsätze, in denen er die politische Willkür und den schlechten Charakter des Herzogs anprangerte, kosteten ihn am Ende Freiheit und Leben. Carl Eugen statuierte an Schubart ein Exempel und sperrte ihn ohne förmliche Anklage und Gerichtsprozess für zehn Jahre ins Verlies der Festung Asperg. Friedrich Schiller durchläuft als Jugendlicher ein ähnliches Martyrium. Der hochbegabte Jüngling möchte eigentlich Theologie studieren, muss jedoch auf herzoglichen Befehl eine militär-medizinische Ausbildung zum Regimentsarzt absolvieren. Sein erstes Theaterstück „Die Räuber“ lässt Schiller ohne Wissen des Herzogs in Mannheim uraufführen. Der württembergische Landesherr erfährt trotzdem von der Inszenierung, weil diese fast einen Staatseklat auslöst. Ein paar einflussreiche Graubündener hatten sich öffentlich beschwert, weil in Schillers Stück eine Aussage über das vermeintliche „Spitzbubenklima“ im Graubündener Land fällt. Carl Eugen erteilt Schiller daraufhin lebenslanges Schreibverbot. Dem kann sich der junge Dichter nur durch Landesflucht entziehen. Dass Schillers restlicher Lebensweg alles andere als rosig verläuft, ist weithin bekannt. Schiller selbst urteilt rückblickend: „Die Räuber kosteten mir Familie und Vaterland.“

Politische Zensur und Freiheitsberaubung, wie Schiller und Schubart sie erfahren haben, müssen Dichter zumindest in Deutschland heute nicht mehr fürchten. Insofern führen Dichter hierzulande eine nach westlichen Lebensstandards zwar ärmliche, aber selbstbestimmte Existenz. Gerade im internationalen Vergleich sind die strukturellen Bedingungen für eine Berufstätigkeit als Dichter und freier Autor in Deutschland ausgesprochen günstig. Das bundesweite Fördernetzwerk für Literatur gehört zu den besten der Welt. Lesungen werden in der Regel anständig bezahlt, und auch die deutsche Verlags- und Medienlandschaft bietet immer noch ausreichend Möglichkeiten, sich ein bescheidenes Einkommen zusammenzuschreiben. Das gelingt nicht nur Wagner, sondern einer ganzen Reihe von Lyrikern aus seiner Generation. Einer Dichtergeneration im Übrigen, die vielleicht auch deshalb als besonders vielstimmig und talentiert gelten darf. Wagner selbst spricht von einer aktuellen Blütezeit deutschsprachiger Lyrik, wie es sie seit dem literarischen Expressionismus zu Anfang des 20. Jahrhunderts nicht mehr gegeben habe. „Ich glaube, dass die Zeiten für Lyrik in Deutschland im Moment ausgesprochen gut sind“, stellt er fest. Lyrik habe zu allen Zeiten eine überschaubare, aber beständige Leserschaft, und insofern sei das Dichten ein dauerkriselndes, aber paradoxerweise doch auch sehr krisensicheres Geschäft.

Florian Zimmer-Amrhein

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