zum Hauptinhalt

Politik: Gefährliche Versuchung

Der türkische Premier Erdogan erwägt eine Kandidatur für das Präsidentenamt – sie würde das Land in eine Zerreißprobe stürzen

Kopftücher zählen ist in Ankara ein hochpolitischer Zeitvertreib. Als jetzt beim Parteitag der türkischen Regierungspartei AKP der Parteivorstand neu bestimmt wurde, ermittelten aufmerksame Beobachter ein interessantes Ergebnis: Sieben Frauen mit offenem Haar, aber nur fünf Frauen mit Kopftuch schafften es in die Führungsetage der islamisch geprägten AKP. Wie derzeit fast alles wurde das Kopftuchresultat sofort in den Zusammenhang mit der anstehenden Neuwahl des Staatspräsidenten gestellt. AKP-Chef und Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan habe mit der Senkung der Kopftuchquote ein versöhnliches Signal an seine Gegner geschickt, analysierte eine Zeitung. Dass Erdogan im April ins Präsidentenamt im Ankaraner Stadtteil Cankaya einziehen will, gilt für viele als ausgemacht, auch wenn der 52-jährige Premier selbst bisher jede Festlegung vermeidet. Fest steht: Erdogans Kandidatur würde die Türkei in eine Zerreißprobe stürzen.

Was seine Gegner von einem Staatspräsidenten Erdogan halten würden, ist spätestens seit dem Wochenende klar: „Cankaya ist laizistisch und wird es bleiben“, rief die Menge bei der Trauerfeier für den Ex-Premier und Anti-Islamisten Bülent Ecevit. Erdogan und seine Minister wurden ausgebuht. Dabei ist zumindest formell gegen eine solche Kandidatur nichts zu sagen. Die siebenjährige Amtszeit des derzeitigen Präsidenten Ahmet Necdet Sezer endet im April; er darf nicht noch einmal kandidieren. Da der Staatspräsident in der Türkei vom Parlament gewählt wird, hätte Erdogan als Chef der AKP, die in der Volksvertretung beinahe über eine Zweidrittelmehrheit verfügt, keinerlei Probleme zu erwarten. Auch würde die Regierungsarbeit kaum leiden. Als Kronprinz Erdogans im Ministerpräsidentenamt gilt Außenminister Abdullah Gül, der schon von Ende 2002 bis zum Frühjahr 2003 Premier war und dann den Platz brav für seinen Chef räumte.

Möglicherweise würde Erdogan mit einem Wechsel nach Cankaya jedoch der eigenen Partei schaden, denn als Präsident müsste er sich aus der Tagespolitik heraushalten. Der AKP würde kurz vor der Parlamentswahl im November 2007 ihr mit Abstand wichtigster Stimmenmagnet fehlen. Richtig explosiv wird die Präsidentenfrage aber erst durch den Islamismusvorwurf an Erdogan: Seine Gegner sehen in dem AKP-Chef einen religiösen Hardliner, der die Türkei Richtung Gottesstaat steuern will. Sollte er tatsächlich Präsident werden, würde das Land zum ersten Mal eine First Lady im Kopftuch bekommen, denn Erdogans Frau Emine verhüllt ihr Haar.

„Wenn Erdogan Präsident wird, ist die Machtübernahme des Islamismus perfekt. Das darf man nicht zulassen“, beschrieb die Zeitung „Milliyet“ das Argument der Erdogan-Gegner, die sich in der Armee, in der Justiz und in der Bürokratie finden. Und was denkt Erdogan selbst? Vor ein paar Tagen sagte der Premier, er wolle „nicht unbedingt“ Präsident werden. Er stellte aber klar, dass das nächste Staatsoberhaupt aus den Reihen der AKP-Parlamentsfraktion kommen wird.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false