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Präzedenzfall von 2003: Über der City von Frankfurt am Main kreiste ein entführtes Sportflugzeug - ein Abfangjäger zwang es schließlich zur Landung.

© dpa

Gegen Terror aus der Luft: Das moralische Dilemma des Ministers

Die Bundesregierung will das Grundgesetz ändern, um den Abschuss von Flugzeugen zu erleichtern, die von Terroristen als Anschlagswaffe eingesetzt werden. Was bedeutet das praktisch?

Von Robert Birnbaum

Wer wissen will, warum die Bundesregierung ausgerechnet jetzt das Luftsicherheitsgesetz noch einmal auf die Tagesordnung setzt, der bekommt eine denkbar schlichte Auskunft: Die Gelegenheit ist gerade günstig. Die große Koalition hat die notwendige Mehrheit für eine Grundgesetzänderung locker beisammen, in der Sache sind Union und SPD nicht auseinander. Und auch sonst ist politischer Aufruhr nicht zu erwarten. Zwar geht es auf den ersten Blick beim Thema „Abschuss eines Terror-Flugzeugs“ um eine sehr heikle Frage – aber schon der zweite Blick macht klar: Was das Innenministerium jetzt neu regeln will, ist bloß eine Art Verwaltungsproblem.

Die Frage geht zurück auf das Urteil des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 2006 zum Luftsicherheitsgesetz. Mit dem Gesetz wollte die damalige große Koalition der Bundesregierung die Möglichkeit geben, Terroranschläge aus der Luft und zur See abzuwehren – genauer: Anschläge, bei denen Terroristen zivile Flugzeuge oder Schiffe in ihre Gewalt bringen und dann als Waffen einsetzen. Das Szenario war seit dem 11. September 2001 virulent und nach dem Irrflug eines entführten Sportflugzeugs über der Frankfurter City 2003 wieder akut geworden.

Der konkrete Fall hatte gezeigt, dass sich keiner für diese spezielle Art der Luftabwehr zuständig fühlte. Das Bundesgesetz sollte nun klären: Den Abschuss befiehlt der Bundesverteidigungsminister. Doch das Verfassungsgericht verwarf die Idee gleich aus mehreren Gründen. Der wichtigste ist grundsätzlicher Natur, deshalb kann daran auch die größte aller Koalitionen nichts ändern. Der Staat, befand das Gericht, dürfe niemals das Leben von Unschuldigen opfern, um andere Unschuldige zu retten. Die Schutzpflicht des Staates für den Einzelnen gelte stets und unter allen Umständen – auch ein Aufrechnen der Art „Lieber 100 tote Passagiere als 10000 tote Stadion-Besucher“ sei mit der Garantie der Menschenwürde prinzipiell nicht vereinbar.

Diese Garantie steht im Grundgesetz im Artikel 1, Absatz 1 an allervorderster Stelle. Sie ist gewissermaßen die ewigste aller „Ewigkeitsklauseln“. Bundestag und Bundesrat dürften sie nicht einmal einstimmig verändern, und selbst die Frage, ob das Volk eine neue Verfassung ohne diese Garantien der Menschenwürde verabschieden dürfte, ist juristisch nicht abschließend geklärt.

Das Gericht verwarf das Gesetz aber auch aus zwei weiteren Gründen. Dazu muss man wissen, dass die damaligen rot-schwarzen Gesetzgeber bei der Suche nach einer Rechtsgrundlage für die Anti-Terror-Maßnahme auf einen kleinen Trick verfallen waren: Sie erklärten die Abschussermächtigung kurzerhand zum Spezialfall der Bund-Länder-Hilfe bei Katastrophenfällen.

Die Verfassungsrichter hatten gegen diesen Schleichweg keine direkten Einwände, aber zwei indirekte, die ihn faktisch versperrten. Erstens dürfe das Militär bei der Nothilfe nur Mittel einsetzen, wie sie auch ziviler Katastrophenschutz und Polizei verwendeten; „typisch militärische Waffen“ wie Geschütze und Luftabwehrraketen seien tabu. Das war freilich derart lebensfremd, dass 2012 die gemeinsame Große Kammer aus Erstem und Zweitem Senat die Einschränkung aufhob – ein seltener Fall ausdrücklicher Selbstkorrektur des Gerichts.

Bestehen geblieben ist ein anderer Teil der Entscheidung: Bei Katastrophenfällen darf der Verteidigungsminister die Bundeswehr nicht allein den Ländern zur Hilfe schicken, sondern darüber muss immer das gesamte Kabinett befinden. Tatsächlich spricht der Amtshilfe-Artikel 35 des Grundgesetzes durchgängig von der „Bundesregierung“. Das sei auch richtig so, um die Kompetenzen der Länder zu wahren. Die Richter sahen zwar durchaus ein, dass Flugzeugentführer kaum abwarten werden, bis das Kabinett sich versammelt hat. Aber das zeige nur, dass der Katastrophenhilfe-Artikel eben für diese Fälle nicht tauge.

An diesem Punkt will das Innenministerium jetzt eingreifen. Eine Änderung im Artikel 35 soll für eilbedürftige Fälle die damalige Vertretungsregelung erlauben: Wenn es auf Minuten ankommt, entscheidet der Verteidigungsminister oder die Ministerin allein.

Am grundsätzlichen Tabu, wie gesagt, ändert das nichts. Zum Abschuss frei gegeben werden darf nur ein Flugzeug, in dem weder eine zivile Crew sitzt noch Passagiere, sondern nur Terroristen. Rechtlich ist daran nicht zu rütteln. Aber das Recht ist eine Frage, konkrete Verantwortung in einem furchtbaren Dilemma eine andere. Dass der Staat nicht den Tod Unschuldiger qua Gesetz anordnen darf,ist das eine. Eine ganz andere Frage ist die, was ein konkreter Politiker in einer konkreten Situation vor dem eigenen Gewissen verantworten kann und was nicht.

Der damalige Verteidigungsminister Peter Struck (SPD) hat jedenfalls offen verkündet, dass er den Abschussbefehl geben würde, wenn sich damit noch Schlimmeres verhindern ließe – und danach sofort zurücktreten würde. Sein Nachfolger Franz Josef Jung (CDU) hat keinen Zweifel daran gelassen, dass er es genau so halten würde.

Die Jetpiloten der beiden Abfangstaffeln im ostfriesischen Wittmund und in Neuburg an der Donau könnten den Befehl zwar verweigern. Aber auch diese Männer stünden, wie auch immer sie sich entscheiden würden, vor dem gleichen moralischen Dilemma wie ihre politisch-militärischen Vorgesetzten. Im Zweifel müssten sie dann eben bereit sein, für ihre Entscheidung ins Gefängnis zu gehen.

Auch daran würde die jetzt erwogene Grundgesetz-Novelle nichts ändern. Nur eins könnte sie sicherstellen: Dass sich Verteidigungsminister künftig nicht auch noch wegen Kompetenzüberschreitung vor einem Gericht verantworten müssen – und dass unzweideutig klar ist, auf wessen Schultern künftig das moralische Problem lastet.

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