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Politik: Geiseldrama auf Jolo: Renate Wallert lieferte den Entführern eine wertvolle Ware: das echte Leid eines echten Menschen

Nein, kein Lösegeld, nicht im wörtlichen Sinn. Aber vielleicht 50 Sack Reis?

Nein, kein Lösegeld, nicht im wörtlichen Sinn. Aber vielleicht 50 Sack Reis? Zuschüsse zu Kost und Logis? Geld für "Hilfsprojekte" im Süden der Philippinen? Oder hat doch irgendjemand die ominöse Forderung des "Commander Galib" erfüllt, der auf einem Zettel schlicht "Old Woman 1 Million USD Mrs. Renate Wallert" verlangte? Kein Kommentar im Auswärtigen Amt. Was immer der 56-jährigen Renate Wallert nun wirklich die Freiheit gebracht hat - es war sicher nicht das schlechte Gewissen der Kidnapper. Denn dann hätten sie ihre schwer kranke Geisel schon wenige Tage nach dem schicksalhaften Ostersonntag in die Freiheit entlassen müssen.

Die Entführung von Renate Wallert und ihrer Familie kam praktisch wie ein Blitz aus dem stets heiteren Himmel der Reisekataloge. Die Wallerts sind keine mutigen Globetrotter, die auf eigene Faust mit Zelt und Iso-Matte in Krisengebiete vorstoßen, keine Desperados auf der Flucht vor der zivilisierten Welt. Sondern sie sind hoch geschätzte Bürger, äußerst sozial eingestellt, mit einer Vorliebe für exotische Welten und fürs Tauchen, die ihnen zum Verhängnis wurde. "Reiseschriftsteller" hat der 57-jährige Werner Wallert einmal als seinen Traumberuf genannt, und die Familie wollte nichts als einen komfortablen Vier-Sterne-Urlaub am Meer: "Wasser wunderbar, Tauchrevier zauberhaft, Bungalows herrlich", hieß es in einem Fax der Wallerts nach Göttingen, wenige Tage vor Ostern. Sipadan - das schien nichts als eine unkonventionelle Alternative zu den Seychellen oder Malediven zu sein. Dort freilich gibt es die religiösen und sozialen Spannungen nicht, die das Leben auf den Philippinen und in ihren Nachbarregionen gegenwärtig so riskant machen.

Es war am Ostersonntag, dem 23. April. Bewaffnete Islamisten - der übliche Terminus für die Abu-Sayyaf-Rebellen - dringen in die Hotelanlage auf der malaysischen Touristen-Insel Sipadan ein und verschleppen 21 Urlauber auf die südphilippinische Insel Jolo: Renate Wallert, ihren Mann Werner und ihren Sohn Marc, neun Malaysier, zwei Franzosen, zwei Südafrikaner, zwei Finnen, zwei Philippiner und eine Libanesin. Einige Tage später droht ein Sprecher der Abu-Sayyaf-Gruppe ("Schwert Gottes") mit der Enthauptung der Geiseln, sollten die Forderungen der Entführer nicht erfüllt werden. Aber welche Forderungen?

Am 1. Mai setzt die seltsame Öffentlichkeitsstrategie der Entführer ein, die ihre Aktion mehr oder weniger direkt in die Weltnachrichten übertragen lassen. Ein Reporter wird vorgelassen und berichtet über die desolate Lage der Geiseln. Dann startet das Militär eine unprofessionelle Befreiungsaktion, die im Kugelhagel scheitert; die Geiseln werden an einen anderen Ort im Dschungel gebracht. Eine Ärztin erhält Zutritt und berichtet später Genaueres über den Gesundheitszustand der Entführten: Renate Wallert ist geschwächt, nimmt keine Nahrung zu sich, hat Rücken- und Kreislaufprobleme, möglicherweise auch eine Art Herzinfarkt. Erst zwei Wochen später, am 27. Mai, nimmt Robert Aventajado im Auftrag der philippinischen Regierung die Verhandlungen mit Abu Sayyaf auf. Die Gespräche ziehen sich hin, scheitern, werden wieder aufgenommen. Gerüchte, taktische Falschmeldungen und Lügen verknoten sich zu einem undurchdringlichen Wirrwarr. Einen Monat später, am 24. Juni, kommt eine Geisel frei, ein Malaysier; am 2. Juli wird der "Spiegel"-Reporter Andreas Lorenz entführt, der die deutschen Geiseln Ende Mai interviewt hatte. Aber von wem? Es wird deutlich, dass "Abu Sayyaf" eher ein Gattungsbegriff für eine ganze Reihe rivalisierender Gruppierungen unterschiedlicher Radikalität und Vernunft ist.

Am 14. Juli wird ein weiterer Malaysier freigelassen, am 17. Juli Renate Wallert. Eine Geste des guten Willens der Entführer, wie es in offiziellen Mitteilungen heißt? Ergebnis geschickter Verhandlungen von Außenminister Joschka Fischer und seinen Amtskollegen, dem Franzosen Hubert Védrine und dem Finnen Erkki Tuomioja, die am Mittwoch und Donnerstag in Manila waren? Man darf vermuten, dass die hochrangigen Diplomaten überhaupt nicht angereist wären, wenn sich nicht zumindest eine Teillösung abgezeichnet hätte. Und es ist anzunehmen, dass die Freilassung Renate Wallerts nur ein erster Teil eines Verhandlungspakets ist, dessen Einzelheiten erst nach und nach bekannt werden dürften.

Renate Wallert aber ist nicht nur eines der Opfer einer disparaten, von draußen letztlich undurchschaubaren Entführungsaktion gewesen, sondern auch Spielball der Öffentlichkeitsstrategie ihrer Entführer. Offenbar begriffen die Rebellen sehr schnell, dass sie den Massenmedien der Welt eine begehrte Ware geben konnten: das echte Leiden eines echten Menschen. "Wie lange hält sie das noch durch?", fragte die "Bild"-Zeitung in immer neuen Varianten - kein Ausrutscher der Boulevardpresse, denn auch das ZDF-Auslandsjournal zeigte ungeschnitten, wie die nervlich völlig zerrüttete Frau plötzlich in Panik geriet, weil während eines Interviews irgendwo im Hintergrund ein Schuss knallte. Wiederholt zeigten Bilder sie reglos auf einer Trage, während ihr andere Geiseln Luft zufächelten, ihr körperlicher Verfall wurde täglich dokumentiert anhand der wachsenden Differenz zwischen Passbild und Realität; die mehr oder weniger präzisen Bulletins widersprachen sich dennoch, je nachdem, wer gerade vor welches Mikrofon geriet. Schlaganfälle? Infarkte? Ruhr?

In Göttingen geriet unterdessen Dirk Wallert unter Druck. Der 30-jährige Sohn der Wallerts mag Tauchen nicht, war deshalb zu Hause geblieben und wurde nun von unzähligen Journalisten mit Fragen bombardiert. Ein Reporter von Sat 1 war der erste, der ihm suggerierte, ein Exklusivvertrag sei eine Möglichkeit, den Informationsfluss unter Kontrolle zu halten - der Zuschlag ging für angeblich 10 000 Mark recht preisgünstig an den Sender. Ob die Vereinbarung allerdings jetzt noch viel wert ist?

Für Renate Wallert selbst war der Tag der Freilassung durchaus nicht nur eine Befreiung. Wie sie später versicherte, hatte sie sich im Gespräch mit Chefunterhändler Aventejado zunächst geweigert, allein zu gehen: "Ich werde nicht ohne meinen Mann und meinen Sohn gehen. Heute ist unser 34. Hochzeitstag." Aventejado begrüßte sie mit einer Umarmung und versuchte, tröstende Worte zu finden: "Ich bin sicher, Ihr Mann versteht, warum Sie sich heute von ihm trennen mussten." Magenkrämpfe schüttelten sie, als sie von den Entführern übergeben wurde; die Regierung brachte sie in einem Schützenpanzer in die Inselhauptstadt Jolo, dann mit mit einem Hubschrauber in die Provinzhauptstadt Zamboanga, wo sie in ein Flugzeug nach Manila umstieg. "Ich möchte jetzt gerne nach Hause", sagte sie mehrmals, während Aventejado ihr die Arrangements erklärte. Noch in der Nacht zum Dienstag sollte sie nach Deutschland geflogen werden.

Man freut sich auf ihre Rückkehr in Göttingen, wo die Nachricht über ihre Freilassung auf dem Schützenfest am Montag von Tausenden mit minutenlangem Beifall aufgenommen wurde. Dankgebete bestimmten am Abend die täglichen Fürbittandachten in der Göttinger Stephanus-Kirchengemeinde, der die Wallerts seit langer Zeit verbunden sind. Erleichterung meldeten Korrespondenten auch vom Theodor-Heuss-Gymnasium, wo Werner Wallert als Erdkundelehrer tätig ist. Und demonstrativen Optimismus: "Wir sind zuversichtlich, das neue Schuljahr zusammen mit unserem Kollegen Werner Wallert beginnen zu können", heißt es seit Beginn der Sommerferien auf der Internet-Seite der Schule, und diese Hoffnung hat nun neue Nahrung bekommen. Schüler, Kollegen, einzelne Gruppen und Freunde haben immer wieder an die Wallerts geschrieben. "Ob alles angekommen ist, wissen wir nicht", sagt Schulleiterin Ulrike Koller.

Wie auch immer diese Sache ausgeht - es wird alsbald eine Fülle von Nachahmern geben, die das Prinzip auch einmal ausprobieren möchten. Wie funktioniert dieser moderne Entführungsstil, bei dem man sich nicht mehr möglichst gut versteckt, sondern die Welt alle paar Tage zu Pressekonferenzen einlädt? Neben neuen Fragen des Kidnapper-Handwerks sind dabei wohl unweigerlich auch Grundfragen der journalistischen Ethik berührt, die sich zum ersten Mal stellten, als Reporter in Deutschland im Live-Gespräch mit Geiselnehmern auf Sendung gingen. Vor allem Renate Wallert steht vor einer erneuten Belastung: Kann sie überhaupt fertig werden mit dem Rummel, der sie ab heute erwartet?

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