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Ungewöhnliche WG. Die Studentin Anja Worschech wohnt mit dem syrischen Flüchtling Kinan im selben Haus.

© Promo

Gelungene Integration in München: Flüchtlinge und Studenten leben zusammen in einem Haus

Junge Flüchtlinge und Studenten leben in München zusammen in einem Wohnheim – und helfen sich gegenseitig. Reportage über ein gelungenes Integrationsprojekt.

Der Tag beginnt früh in der Kistlerhofstraße 144. Um 3.30 Uhr gehen die Bäckerlehrlinge zur Arbeit. Ab sieben Uhr folgen die anderen Auszubildenden und die Schüler. Und später verlassen dann die Studenten das Haus. Es ist viel los in diesem Wohnheim in Obersendling, einem schmucklosen Stadtteil im Münchner Süden. 61 junge Flüchtlinge leben hier und 42 Studenten - gemeinsam. „Es gefällt mir super hier“, sagt Anja Worschech, 20 Jahre alt, Studentin der Kulturwissenschaften. „Ich mag die Jungs sehr gerne, wir haben viel Spaß.“

Als „Integrationsprojekt Kistlerhofstraße“ wird dieses neue, ungewohnte Zusammenleben bezeichnet. Es ist bundesweit einmalig – nirgendwo sonst hat man bisher Flüchtlinge und Studenten zusammengebracht. „Die beiden Gruppen sollen sich gegenseitig unterstützen und anregen“, beschreibt Melanie Contu. „So kann Integration gelingen.“ Contu ist bei „Condrobs“, einem großen bayerischen Träger für soziale Hilfsangebote, verantwortlich für die Kistlerhofstraße.

In dem viergeschossigen Haus waren einmal Büros, doch als die Sanierung anstand, wollte der Besitzer etwas anderes damit machen. Und kam mit Condrobs zusammen. „Zwei Jahre haben wir gebraucht bis zur Eröffnung“, erzählt Melanie Contu. Im Oktober vergangenen Jahres konnten die ersten Bewohner einziehen. Die Studenten bezahlen eine ortsübliche Miete, je nach Zimmergröße sind das 400 bis 700 Euro warm. Diese können sie durch Arbeit reduzieren, zum Beispiel am Empfang.

Anja Worschech sitzt mit Kinan, einem 20 Jahre alten Syrer, der eigentlich anders heißt, in der großen Wohnküche im dritten Stock. Sie haben gelernt, Kinans Prüfungen für den Hauptschulabschluss stehen unmittelbar bevor. Kinan spricht gut deutsch – „aber ob es reicht, weiß ich nicht“, sagt er. Seit zwei Jahren ist der junge Mann, der alleine aus Syrien geflohen war, in Deutschland. „Ich habe bei meinem Onkel in Mönchengladbach gewohnt“, erzählt er. Vor zwei Monaten wurde er in das Projekt aufgenommen. Kinan trägt eine schwarze Lederjacke, die braunen Haare hat er nach oben gegelt.

Er hat einen Traum. „Ich möchte bei BMW arbeiten“, sagt er. „Geld verdienen, von meinem eigenen Geld leben, eine Familie haben, eine Heimat haben.“ Er lacht unsicher und schaut. Viele der Jungs in dem Wohnheim haben solche Träume. Sie fangen an mit Ausbildungen zum Zweirad-Mechatroniker oder Einzelhandelskaufmann. „Das sind sehr patente junge Menschen“, erzählt Melanie Contu. „Handwerklich und technisch sind sie sehr versiert.“

Kinans Traum muss nicht unrealistisch sein. Der Autobauer BMW etwa bietet spezielle Praktika und Ausbildungen für junge Flüchtlinge an. Anja Worschech hat dort schon für Kinan angerufen und sich nach den Aufnahmebedingungen erkundigt. Er selbst hätte sich das nicht getraut, noch nicht. Dafür erledigen die Jungs viele handwerkliche und technische Sachen, die in dieser großen WG anfallen. „Mit meinem großen Sofa hatte ich Bedenken, wie ich das ins Zimmer bekommen soll“, sagt die Studentin. „Aber es war überhaupt kein Probleme, die Flüchtlinge haben es locker zusammen hochgetragen.“

Die Zahl der heranwachsenden Flüchtlinge in Deutschland wird auf 70.000 geschätzt

Immer mehr heranwachsende Flüchtlinge kommen in Deutschland an. Derzeit wird ihre Zahl auf knapp 70 000 geschätzt. Für die Betreuung sind die Kommunen zuständig, und die sind zunehmend überfordert. „In den normalen Gemeinschaftsunterkünften haben die Jugendlichen keine guten Lebensbedingungen“, sagt Contu. Sie langweilen sich, werden nicht gefördert. Sie geraten in schlechte Gesellschaft, der Hang zu auffälligem Verhalten wächst, zu Kriminalität. Es ist bekannt, dass viele der jungen Flüchtlinge geschickt werden mit dem Ziel, später die ganze Familie nachzuholen. Manche von ihnen verschwinden vom Radar der Behörden, niemand weiß wohin. „Dabei kann man es schon schaffen, sie in Ausbildung zu bringen“, meint Contu. Und zu einem normalen Leben. „Aber eine Stadt muss das wollen.“ So wie München und der Oberbürgermeister Dieter Reiter (SPD), Schirmherr des Projektes. Zwei Preise hat es schon erhalten.

Gibt es auch Anfeindungen im Haus, Gewalt, Beschwerden oder Proteste aus der Nachbarschaft? Anderswo ist das ja gang und gäbe. Melanie Contu zuckt die Schultern: „Nein.“ Es werde manchmal gerangelt oder gestritten, worüber in einem Wohnheim immer gerangelt und gestritten wird – über das Aufräumen in den Küchen, das Putzen, die Benutzung der Waschmaschinen. „Sie sind genau wie normale Jugendliche“, sagt die Leiterin.

Die Studentin Anja Worschech beschreibt das Verhältnis zu den Flüchtlingen als „kumpelhaft“. Die Silvester-Übergriffe von Köln wurden im Haus intensiv diskutiert. Die Jugendlichen fragen vor allem die männlichen Betreuer etwa, wie man sich in einem Schwimmbad verhält. Sie wollen wissen, wie das in Deutschland mit Mädchen ist, wie man sich annähert, was geht und was nicht. Das allgemeine Fazit lautet, so Melanie Contu: „Man muss viele Whatsapp-Nachrichten schreiben.“

Vor dem Treffen sagt die Einrichtungsleiterin: „Bitte keine Fragen nach der Flucht, der Vergangenheit, der Familie.“ Damit haben sie schlechte Erfahrungen gemacht. Nach derartigen Gesprächen seien die Jugendlichen tagelang traurig, aufgewühlt, verstört gewesen. Bei manchen sind die Eltern tot, manche konnten sich nicht von ihnen verabschieden. Es wohnen Flüchtlinge hier, die von Granaten gezeichnet sind, andere waren Kindersoldaten. Anja Worschech sagt, dass Kinan ihr auf dem Smartphone ein Foto gezeigt hat von einer Explosion auf einer Straßenkreuzung in Syrien. Er hat es gemacht.

So trifft das Schwere auf die Leichtigkeit von Jugendlichen und Studenten, die zusammen Basketball spielen, grillen, in der Küche ratschen, in den Englischen Garten fahren. Melanie Contu fände ein Boxtraining toll oder einen eigenen kleinen Gemüsegarten im Hinterhof. Sie stellt sich auch eine gemeinsame Reise nach Berlin vor als „ Demokratie-Fahrt“.

Der Empfang durch die Nachbarschaft freut die Bewohner und die CondrobsMitarbeiter sehr. Das Holiday-Inn-Hotel nebenan bietet Praktikumsplätze und steht bereit, wenn in dem Wohnheim etwas fehlt. Geschirr und Gartenliegen wurden schon geschenkt. Der benachbarte Aktionskünstler Wolfgang Flatz hat das Design für die verschiedenen Flure gemacht, und kostenlos an der Wand aufgebracht hat das die Malerfirma Wamser, Kistlerhofstraße 148.

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