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Wie aufwändig darf die Diagnose sein? Der Gemeinsame Bundesausschuss entscheidet, welche Leistungen die gesetzlichen Kassen erstatten.

© Frank Rumpenhorst/ dpa

Gemeinsamer Bundesausschuss: Über die Patienten hinweg

Im Gemeinsamen Bundesausschuss entscheiden Ärzte, Kliniken und Kassen, was den 70 Millionen gesetzlich Versicherten an Leistungen zusteht. Patientenvertreter haben dabei wenig zu melden. Verfassungsjuristen sehen das als Problem.

Manche nennen das Gremium den „kleinen Gesetzgeber“ fürs Gesundheitswesen. Doch das ist gewaltig untertrieben. Denn während sich der Bundestag mit seinen demokratisch gewählten Abgeordneten vielleicht mal mit der Einführung und Wiederabschaffung einer Praxisgebühr in den Patientenalltag einmischen kann, entscheidet der Gemeinsame Bundesausschuss von Ärzten, Zahnärzten, Krankenhäusern und Krankenkassen (kurz: G-BA) über das wirklich Wesentliche: Er bestimmt, welche Leistungen den 70 Millionen gesetzlich Krankenversicherten bezahlt werden und nach welchen Qualitätsvorgaben sie zu erbringen sind.

Der Ausschuss, den kaum ein Außenstehender mit Namen kennt, reguliert nicht nur, wie die allermeisten Patienten hierzulande behandelt werden und welche Arznei sie erhalten. Er beeinflusst auch ganz wesentlich die Verdienstmöglichkeiten der Leistungserbringer. Und zwar nicht nur derer, die beim Aushandeln mit am Tisch sitzen.

Auch Pflegebranche und Pharmahersteller bleiben außen vor

Betroffen sind von den Beschlüssen der „Big Four“ beispielsweise auch die Physio- und Ergotherapeuten, die Pflegebranche, die Pharmaindustrie. Und mit jedem neuen Gesundheitsgesetz, dessen Ausgestaltung die Politik der Selbstverwaltung überträgt, wächst die Macht der Entscheider in dem kantig-modernen Bürogebäude im Berliner Stadtteil Charlottenburg.

Kein Wunder, dass es kundigen Beobachtern dabei zunehmend unwohl wird. Kritiker bezeichnen den G-BA als das „Zentralkomitee des Gesundheitswesens“. Die letztgültigen Entscheidungen unter Vorsitz des früheren CDU-Politikers und saarländischen Gesundheitsministers Josef Hecken fallen zwar öffentlich. Doch wer sich in die Sitzungen des 13-köpfigen Plenums verirrt, versteht dort meist nur Bahnhof. Den entscheidenden Teil der Arbeit verrichten nämlich zuvor neun Unterausschüsse. Hinter verschlossenen Türen. Wer darin sitzt und mit welcher Begründung wofür stimmt, erfährt kaum jemand.

Patientenvertreter dürfen mitreden, besitzen aber kein Stimmrecht

Hinzu kommt, dass die eigentlich Betroffenen wenig zu melden haben. Patientenvertreter sind formell zwar an den Entscheidungen beteiligt, besitzen aber kein Stimmrecht. Am Ende machen die fünf Vertreter des Krankenkassen-Spitzenverbandes auf der einen und die anderen fünf aus Krankenhausgesellschaft, Kassenärztlicher und Kassenzahnärztlicher Bundesvereinigung die Dinge unter sich aus. Zusammen mit drei „Unparteiischen“ an der G-BA-Spitze, von denen zwei ebenfalls von Kassen und Leistungserbringern vorgeschlagen werden. Nur der Vorsitzende gelangt anderweitig, nämlich über die Politik, in das Gremium.

Doch warum haben nur Ärzte, Klinikbetreiber und Kassen darüber zu entscheiden, was Patienten zusteht und wofür die Versicherten aufzukommen haben? Mit welcher Legitimation dürfen die das? Müsste ein Leistungskatalog, der so viele Millionen Menschen existenziell betrifft, nicht vom demokratisch gewählten Gesetzgeber erlassen oder zumindest verantwortet werden?

Karlsruhe zweifelt an der Legitimation des Gremiums

Solche Fragen stellen nicht nur Sozialrechtler, sondern auch das Bundesverfassungsgericht. Im November 2015 zweifelten die Karlsruher Richter unüberhörbar daran, dass der G-BA für seine Beschlüsse ausreichend legitimiert ist. Zwar wurde die Klage einer Patientin abgewiesen, die eine Behandlung nicht erstattet bekam und gegen die entsprechende Regelsetzung zu Felde gezogen war. Doch das Urteil lasse sich durchaus „so lesen, dass das Gericht nur auf einen passenderen Fall wartet, um sich mit dieser Frage auseinanderzusetzen“, meint Astrid Wallrabenstein vom Institut für europäische Gesundheitspolitik und Sozialrecht. Es spreche manches dafür, dass „Struktur oder Zusammensetzung des G-BA, seine Machtfülle oder seine Unabhängigkeit geändert werden“ müssten.

Es dürfe nicht sein, dass die Politik derart wichtige Entscheidungen einfach wegdelegiere und dem G-BA „Generalvollmacht“ erteile, sagt der Vorsitzende des Bundestagsgesundheitsausschusses, Edgar Franke (SPD). Auch Jürgen Wasem, Professor für Medizinmanagement an der Universität Duisburg-Essen, zweifelt an der Legitimation des Gremiums. Wieso, fragt er, dürften Zahnmediziner über Leistungsansprüche für Versicherte entscheiden, betroffene Patienten aber nicht? Und weshalb gehe man davon aus, dass sich aus dem Interesse auf Honorarsicherung auf der einen und dem auf Ausgabenreduzierung auf der anderen Seite optimale Versorgung ergebe?

Patienteninteressen kommen schnell unter die Räder

Ärzteorganisationen und Kassen agierten „nicht gemeinwohlorientierter als die Pharmaindustrie“, meint Ilona Köster-Steinebach. Die Expertin des Bundesverbands der Verbraucherzentralen sitzt seit sieben Jahren als Patientenvertreterin im G-BA. „Wir sind dort der Stein im Schuh“, sagt sie. Sie berichtet von „Sisyphos-Arbeit mit hohem Frustrationspotenzial“. Und erzählt an einem Beispiel, wie schnell Patienteninteressen im G-BA beim Geschacher der Großen unter die Räder kommen.

So war die Knochendichtemessung bei vielen Risikopatienten bis 2013 keine Kassenleistung – obwohl jeder Vierte über 50 unter Osteoporose leidet und die Krankheit oft zu spät bemerkt wird. Die Kassen scheuten Zusatzausgaben, Mediziner rechneten die Untersuchung lieber privat ab. Da sich der Sinn solcher Vorsorge schlecht abstreiten ließ, setzten sich die Patientenvertreter durch. Jedoch vereinbarten Ärzte und Versicherer dafür dann ein derart niedriges Honorar, dass Kassenpatienten die Leistung nach wie vor kaum kostenfrei erhalten. Für die ausgehandelten 17 Euro wird die aufwendige Messung nämlich nur von wenigen Ärzten als Kassenleistung angeboten. Kein Wunder: Bei Rückgabe der entsprechenden Zulassung bringt sie ihnen, als Igel-Leistung offeriert, viermal so viel.

Dass Leistungserbringer und Kassen im G-BA über Dritte und ihre eigene Regulierung entscheiden dürften, sei ein Systemfehler, meint Köster-Steinebach. Die Gemeinwohlorientierung des Gremiums müsse dringend gestärkt werden.

Doch wie? Ein volles Stimmrecht für Patientenvertreter brächte mehr Einfluss. Aber um fachlich mithalten zu können, müssten die Verbände personell aufrüsten. Dagegen spräche auch die Abhängigkeit vieler Selbsthilfegruppen von der Pharmaindustrie. Womöglich setzten sich dann auch wieder nur die Starken durch, warnt Wallrabenstein. „Patientenbelange ohne Lobby könnten sogar stärker als derzeit unter die Räder geraten.“ Und müssten dann nicht andere Betroffene ebenfalls Sitz und Stimme erhalten – von den Pflegeakteuren bis zu den Arzneiherstellern?

Streit um Personalien bietet Gelegenheit für Reform

Zweite Möglichkeit: Die Politik mischt sich stärker ein. Das Naheliegendste für mehr demokratische Legitimation wäre es, den G-BA unter die Fachaufsicht des Bundesministers zu stellen, meint Wasem. Jedoch bestünde dann die „Gefahr, dass Fachliches zugunsten politischer Opportunitäten zurückstecken muss“. Und ist man mit der Selbstverwaltung im Vergleich zu staatlich gelenkten Systemen bisher nicht gut gefahren?

Vielleicht gibt es aber kleinere Lösungen. Hilfreich wäre eine Verpflichtung, das Ablehnen von Anträgen inhaltlich zu begründen, sagt Köster-Steinebach. Oder wenn die Unparteiischen nicht von den „Big Four“ im G-BA, sondern von anderen gesellschaftlichen Gruppen vorgeschlagen würden.

Man sollte bestehende Strukturen „erst einreißen, wenn man weiß, was man stattdessen haben will“, sagt der neuerlich kandidierende Vorsitzende Hecken. Hierauf habe er bisher „keine überzeugende Antwort gehört“. Doch aufgrund eines Streits um die Neubesetzung der beiden Vizeposten steht der G-BA gerade besonders unter Beobachtung. Der Gesundheitsausschuss muss sich mit den Personalien befassen, womöglich nutzt die Politik ja die Gelegenheit zu echter Reform.

Vorschläge dazu hat auch eine von der Stiftung Münch berufene Kommission gemacht. Die Zahl der Unparteiischen an der Spitze sollte von drei auf neun erhöht werden, empfehlen die Wissenschaftler. Sechs sollten künftig von Ärzten, Kliniken und Kassen bestellt werden, drei vom Gesundheitsausschuss mit Blick auf Patienten, Arzneihersteller und Medizintechnik. Die direkt entsandten Vertreter von Leistungserbringern und Versicherern hätten dann kein Stimmrecht mehr, sie dürften nur noch mitberaten.

Dieser Text erschien in der "Agenda" vom 20. November 2017 - einer Publikation des Tagesspiegels, die jeden Dienstag erscheint. Die aktuelle Ausgabe können Sie jeweils bereits am Montagabend im E-Paper des Tagesspiegels lesen.

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