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© dpa

Bonn: Das Bundes-Boomdorf

Als Hauptstadt-Provisorium wurde es belächelt. Dann wurde es abgewickelt und musste Berlin weichen. Aber Bonn kommt wieder.

Zur Entspannung lehnt sich Erik Bettermann schon mal im Sessel zurück, legt die Beine auf den Schreibtisch und genießt die Aussicht auf den Rhein und das Siebengebirge. So wie jetzt der Intendant der Deutschen Welle schwärmten jahrzehntelang Bonner Politiker von ihrem idyllischen Arbeitsplatz im damaligen Regierungsviertel. Auch gut zehn Jahre nach dem Weggang von Bundesregierung und Parlament sei Bonn eine „liebens- und lebenswerte Stadt“, versichert Lokalpatriot Norbert Blüm, seinerzeit einer der engagiertesten Gegner des Berlin-Umzugs. Allerdings hat sich seit der Jahrtausendwende keine deutsche Großstadt so radikal verändert wie die einstige Bundeshauptstadt.

„Bonn erfindet sich neu“, beobachtet der Westdeutsche Rundfunk. Symbol des Wandels ist der vom renommierten Architekten Helmut Jahn aus Stahl, Glas und Beton erbaute Post-Tower in der Rheinaue: 162,5 Meter hoch, 41 Ober- und fünf Untergeschosse. Vor dem Haupteingang steht die von Markus Lüpertz geschaffene Bronzefigur des römischen Götterboten Mercurius, nachts leuchtet die Fassade in verschiedenen Farben. 2 000 Mitarbeiter sind in der Konzernzentrale der Deutsche Post AG beschäftigt.

Nebenan im „Langen Eugen“, wo früher Bundestagsabgeordnete ihre Büros hatten, residieren die Vereinten Nationen. 19 UN-Organisationen mit rund 700 Mitarbeitern sind mittlerweile in Bonn angesiedelt. Sie kümmern sich ums Klima, die Erhaltung der europäischen Fledermauspopulation oder den Aufbau eines Tsunamiwarnsystems für Atlantik und Mittelmeer. Auf dem Dach weht die Fahne mit der von zwei Olivenzweigen umrahmten Erdkugel, Bonn darf sich offiziell UN-Stadt nennen.

Unternehmen wie Telekom, Post, Postbank, Solarworld, Haribo, der Status als UN- und Bundesstadt mit den sechs verbliebenen Ministerien Verteidigung, Gesundheit, Landwirtschaft, Umwelt, Entwicklungshilfe, Bildung sowie die attraktive Museumsmeile mit Einzel- oder Gruppenführungen durch den 1964 für Ludwig Erhard erstellten Kanzler-Bungalow lassen Bonn auch Investoren reizvoll erscheinen. Über den Bau eines Beethoven Festspielhauses sollen die Bürger in diesem Frühjahr abstimmen. „Die Stadt hat mit dem Wegzug der Regierung nichts von ihrer Internationalität verloren“, begründet Hotelmanager Carsten K. Rath seine Entscheidung, auf dem rechtsrheinischen Gelände einer ehemaligen Zementfabrik die im November 2009 mit dem Besuch der deutschen Fußball-Nationalmannschaft eingeweihte Luxusherberge „Kameha Grand“ zu errichten. Bonn habe „eine unglaubliche Finanzkraft“.

Nach jüngsten Prognosen könnte Bonn sogar noch zulegen. Bis 2025, errechnete das Landesamt für Datenverarbeitung und Statistik Nordrhein-Westfalen, wird die Einwohnerzahl von derzeit fast 317000 auf 341500 ansteigen. In 20 Jahren, so die NRW-Statistiker, werde es „Boomtown schlechthin“ sein. Beim Städteranking 2009 der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft (INSM) und der „Wirtschaftswoche“ ist Bonn fünfzehnter unter 50 getesteten Großstädten. Berücksichtigt werden ökonomische und strukturelle Indikatoren wie Einkommen, Bruttoinlandsprodukt, Investitionsquote. Bonn punktet vor allem beim niedrigen Altersdurchschnitt und höheren Bildungsgrad. So haben 19,7 Prozent aller sozialversicherungspflichtig Beschäftigten einen Hochschul- oder Fachhochschulabschluss, sieben Prozent mehr als im Bundesdurchschnitt. Die INSM-Studie sieht München als Sieger, Berlin auf Platz 44.

Treibende Kraft beim Bonner Aufschwung war Bärbel Dieckmann. Sie verbreitete nach ihrer Wahl zur Oberbürgermeisterin 1994 wieder Zuversicht in der vom Umzugsbeschluss drei Jahre zuvor immer noch schockierten Stadt. Mit Hartnäckigkeit und Charme gelang es der vormaligen Studiendirektorin am Ernst-Moritz-Arndt-Gymnasium, Bonn als Kultur-, Wissenschafts- und Wirtschaftsstandort zu etablieren. Gewiss half dabei der Bund mit Ausgleichszahlungen von 1,4 Milliarden Euro. Doch dass 25 000 durch den Umzug verlorenen Arbeitsplätzen inzwischen 35 000 neue gegenüberstehen, ist auch Dieckmanns Verdienst. „Sie hat großen Anteil daran, dass wir uns mit der Konzernzentrale in Bonn so gut aufgehoben fühlen“, sagt Postchef Frank Appel.

„Clintons vom Rhein“ wurde das Erfolgspaar Bärbel und Jochen Dieckmann genannt. Er war SPD-Landesvorsitzender, Justiz- und Finanzminister in NRW, sie gewann für die Sozis im traditionell schwarzen Bonn erstmals die OB-Wahl. Als sich die Mutter von zwei Zwillingspärchen im vorigen Herbst nach 15 Amtsjahren verabschiedet, applaudiert auch der politische Gegner. „Bonn steht heute gut da“, erklärt Nordrhein-Westfalens Ministerpräsident Jürgen Rüttgers.

Seit Anfang Dezember hat sich das Bild der Bonner Lichtgestalt verdunkelt. Im nach Meinung der „Rheinischen Post“ „größten deutschen Bauskandal seit Jahren“ ermittelt die Staatsanwaltschaft gegen Bärbel Dieckmann wegen des Verdachts der Untreue im besonders schweren Fall. Ausgerechnet ihr letztes, das als Vorzeigeprojekt des UN-Standorts geplante World Conference Center Bonn (WCCB) samt 320-Betten-Hotel, droht zum persönlichen Debakel zu werden.

„Spuren führen nach Nordafrika“, meldet der „General-Anzeiger“ auf der Titelseite, ganz wie im Krimi. Das Blatt spricht von der „Millionenfalle“. Es geht um 60 Millionen Euro höhere Baukosten als veranschlagt und es geht vor allem darum, ob die Stadt frühzeitig wusste, dass der Investor, der koreanisch-amerikanische Immobilienentwickler SMI Hyundai, Zahlungsprobleme hatte. Dennoch wurde ihm nach einem Bericht der „Süddeutschen Zeitung“ von der Sparkasse Köln-Bonn ein Kredit über 104 Millionen Euro zugebilligt, für den die Stadt letztlich haftet. Sie habe sich „in vermögensgefährdender Weise gegenüber Dritten verpflichtet“, sagt Oberstaatsanwalt Fred Apostel, was Dieckmanns Anwalt zurückweist.

Neben Dieckmann wird auch gegen zwei frühere Mitglieder der städtischen Projektleitung ermittelt, den ehemaligen Stadtdirektor Arno Hübner und Amtsleiterin Evi Zwiebler. Für SMI-Hyundai-Chef Man Ki-Kim wurde ein internationaler Haftbefehl ausgestellt, drei festgenommene Manager am Bau beteiligter Firmen kamen nach „umfassenden Aussagen“ (Apostel) wieder frei. Alles drehe sich, heißt es in Bonn, um Bestechung, Bestechlichkeit im geschäftlichen Verkehr und Untreue. Laut Apostel will sich Dieckmann, jetzt Präsidentin der Welthungerhilfe, nur über ihre Verteidigung zu den Vorwürfen äußern. Kritikern im Stadtrat hielt die 60-Jährige entgegen: „Wenn man Betrüger erkennen könnte, gäbe es keinen Betrug.“

Zwar sucht die Stadt Investoren, doch Dieckmanns Nachfolger Jürgen Nimptsch geht davon aus, dass das WCCB in den nächsten Monaten fertiggestellt wird. Das dürfte Guido Westerwelle freuen. Im neuen Kongresszentrum soll am 24. und 25. April der 61. FDP-Bundesparteitag stattfinden, für den Parteichef mit dem Wahlkreis in der früheren Hauptstadt auch eine Gefühlssache. Zum ersten Mal seit der deutschen Einheit einen Bundesparteitag nach Bonn zu holen – dafür, so Westerwelle, „brennt mir das Herz“.

Rheinländer Westerwelle weiß, dass seine Landsleute bisweilen Bestätigung brauchen. Auch wenn der Bonner Kabarettist Konrad Beikircher spöttisch behauptet, sie seien die „Buddhisten des Westens“, die gelassen jeder Lebenslage nach der Devise begegnen: Et es wie et es – der Bedeutungsverlust schmerzt immer noch. Wenn mal wieder der Gesamtumzug zur Diskussion steht, die Kosten der Pendelei mit jährlich zehn Millionen Euro berechnet werden und Haushaltsexperten die Verlegung der sechs Ministerien samt den 10000 Regierungsbeamten an die Spree empfehlen, machen Bonn-Freunde wie Norbert Röttgen die Gegenrechnung auf: Es werde Dekaden dauern, bis sich das amortisiere. Eine Menge Sympathien bei Bonner Belegschaft und Medien erwirbt sich der neue Gesundheitsminister Philipp Rösler gleich in seiner Antrittsrede, als er klarstellt: „Es bleibt so, wie es ist.“ Das Berlin/Bonn-Gesetz, das die Aufgabenteilung zwischen beiden Städten regelt, werde nicht in Frage gestellt.

Ob Umweltminister Röttgen „sichtbare und regelmäßige Präsenz in Bonn“ verspricht oder die neue Parlamentarische Staatssekretärin im Entwicklungsministerium Gudrun Kopp ankündigt: „Berlin rückt näher an Bonn“ – die lokalen Medien berichten ausführlich darüber. Bonn und die große Politik gehören nach Überzeugung vieler Menschen am Rhein weiter zusammen. Es hat den Gästen im Museum Koenig sehr gefallen, dass Hans-Dietrich Genscher bei der Verleihung des „Internationalen Demokratiepreises Bonn 2009“ an den tschechischen Regimekritiker, Schriftsteller und früheren Präsidenten Vaclav Havel sagt: „Bonn ist die Stadt, in der die großen demokratischen und freiheitlichen Traditionen von der Frankfurter Paulskirche vor 160 Jahren, von Weimar vor 90 Jahren, 1949 mit der Gründung der Bundesrepublik Deutschland ihre Fortsetzung fand, bis sie vor 20 Jahren mit der europäischen Freiheitsrevolution und dem Mauerfall in Berlin für alle Deutschen die Unumkehrbarkeit erhielt.“

Dass Dieckmann-Vorgänger Hans Daniels bei den Bonnern „fehlenden Hauptstadtstolz“ ausgemacht haben will, erscheint kaum nachvollziehbar. Sie haben zwar nie mit ihrer Sonderstellung geprotzt, aber es hat ihnen geschmeichelt, wenn Friedrich Nowottny mit seinem „Bericht aus Bonn“ über die Mattscheibe flimmerte oder die Großen der Welt wie Königin Elizabeth, John F. Kennedy und Michail Gorbatschow zu Besuch kamen. Unvergessen bleibt der 4. September 1962, als Frankreichs Staatspräsident Charles de Gaulle vom Rathausbalkon den Menschen auf dem Marktplatz in deutscher Sprache zurief: „Es lebe Bonn, es lebe Deutschland, es lebe die deutsch-französische Freundschaft.“ 17 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs waren die „Erbfeinde“ versöhnt.

Mit rheinischem Humor lachten die Bonner den Spott weg, den sie vor allem anfangs wegen ihres „Bundesdorfs“ auszuhalten hatten. Konrad Adenauer, der im nahen Rhöndorf wohnte, hatte die Weichen für das Beamten- und Universitätsstädtchen gestellt, gegen die Mitbewerber Frankfurt, Kassel, Stuttgart. Morgens wurde der beim Amtsantritt bereits 73-jährige Bundeskanzler im Mercedes 300 abgeholt und ins drei Kilometer entfernte Königswinter chauffiert, von dort brachte ihn eine Fähre auf die andere Rheinseite. Bald lästerten an Großstadtleben gewohnte Reporter, entweder es regne in der neuen Bundeshauptstadt oder die Bahnschranke sei zu. Kaum ein Bericht kam ohne das Bild der vor dem Auswärtigen Amt grasenden Schafherde aus und über Bonns Nachtleben wurde gejuxt: Die Dame sei nach Köln gefahren.

Das Versprechen, nach dem Umzug keine Ruinen zu hinterlassen, haben die Politiker gehalten. Und an einer Änderung des Berlin/Bonn-Gesetzes zeigt Angela Merkel kein Interesse. „Doch die Musik spielt natürlich in Berlin“, weiß Intendant Bettermann, dem aus zwei verschiedenen Standorten resultierende Probleme vertraut sind. 1200 fest angestellte Mitarbeiter hat der Sender in Bonn, 400 in Berlin, wo das Auslandsfernsehen Deutsche Welle TV produziert wird. Bettermann prophezeit, dass „irgendwann alle Ministerien in Berlin sein werden, mit Ausnahme des auf der Hardthöhe fest verankerten Ministeriums für Verteidigung“. Die Zukunft Bonns sieht er als internationale Konferenzstadt: „Bonn muss das Genf Deutschlands werden.“

Am auffälligsten war die Internationalität Bonns immer in Bad Godesberg. Menschen unterschiedlicher Herkunft und Hautfarbe bildeten eine Multikulti-Gesellschaft wie von Claudia Roth gemalt. Im Bonner Süden, vor vier Jahrzehnten noch ein selbstständiger Badeort, wohnten vorzugsweise Diplomaten in den zahlreichen Villen aus der Gründerzeit, es gab schicke Boutiquen, teure Restaurants und ein kaufkräftiges Publikum. Inzwischen haben die Inhaber des Modehauses Braun&Liessem schon mal daran gedacht, den Verkauf von Herrenartikeln einzustellen. Begründung: Gute Kleidung sei hier nicht mehr gefragt. Bad Godesberg ist der Verlierer des Regierungsumzugs.

„Was ist aus dem einst beschaulichen Ort in den zehn Jahren geworden? Woher kommt diese Aggression?“, fragt die Journalistin und Buchautorin Ingrid Müller-Münch. Sie hat ein Doku-Stück über den Wandel Bad Godesbergs verfasst, das im vorigen Oktober in den Kammerspielen des Theaters Bonn Premiere hatte: „Zwei Welten“. Die prallen mit solcher Wucht aufeinander, dass Müller-Münch bereits Parallelen zum Berliner Problemkiez Neukölln zieht. Sie hat 60 Bewohner zu ihren Eindrücken befragt – meist Schülerinnen und Schüler, aber auch Lehrer, Polizisten, Pfarrer, Richter. Die Interviews werden im Theater authentisch wiedergegeben. Sie dokumentieren eindrucksvoll, warum Gewalt unter Jugendlichen so leicht eskaliert. Ein „Gib mal Kippe, deutscher Pisser“ gegen ein „Hey, ihr Scheißkanaken“ und schon geht man aufeinander los. Mehrfach, berichtet die Autorin, hätten junge Migranten die Partys von Bad Godesberger Gymnasiasten gestürmt und sie mit Baseballschlägern oder Eisenstangen traktiert.

Seit die Diplomaten Bad Godesberg verlassen haben, sind verstärkt Familien mit Migrationshintergrund zugezogen. Die Lebenswelt dieser Jugendlichen, oftmals chancenlos auf dem Arbeitsmarkt, unterscheidet sich meist sehr von der einheimischer Abiturienten mit besten Berufsaussichten. Das kann überall zu Konflikten führen. Die Besonderheit hier, so Müller-Münch, bestehe darin, dass „die Entwicklung nicht langsam vonstatten ging, sondern mit dem Wegzug der Bundesregierung begann“.

Eine starke Verjüngung der Bevölkerung hat Erik Bettermann in Bonn festgestellt, auch eine andere Struktur. „Die Telekom-Yuppies geben jetzt den Ton an“, sagt Johannes Zurnieden, der sein „Phoenix Reisen“ seit Studententagen zu einem der Branchenführer ausbaute. Zurnieden vermisst die Gespräche mit Politikern und Journalisten, die man in den Kneipen am Regierungsviertel ständig traf. In der „Provinz“ machten Gerhard Schröder und Joschka Fischer auf Bierdeckeln bereits Kabinettslisten, als Helmut Kohl noch fest im Kanzlersessel saß.

Die „geringere intellektuelle Potenz“ fällt dem Berliner Gastronom Friedhelm Drautzburg („StäV“) bei Besuchen in der alten Heimat auf. Wobei das den neben Norbert Blüm einst lautesten „Umzug ist Unfug“-Trommler nicht mehr weiter grämen muss. Denn er weiß: „Was Bonn an kreativen Köpfen verloren hat, bereichert Berlin.“

Kurt Röttgen

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