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Dirty Dancing

© defd

Catskill Mountains: Alles Bingo!

Hier küsste Johnny in „Dirty Dancing“ sein Baby, begann Jerry Lewis’ Karriere. In den Catskill Mountains machten Millionen jüdischer New Yorker Ferien.

Sie hielten es nicht mehr aus in der Stadt. Geflohen vor Armut und Pogromen, hatten sie sich New York als Neues Jerusalem ausgemalt. Nun saßen sie in der Wirklichkeit: zusammengepfercht an den Nähmaschinen der sweatshops, zehn, zwölf Stunden am Tag, sechs, sieben Tage die Woche. Die stinkenden Straßen quollen über vor Menschen, fliegende Händler überschrien sich gegenseitig, das ganze Leben spielte sich hier ab. In den düsteren Mietshäusern war ja zum Leben kein Platz, da wohnten schon mal 14 Leute in zwei Zimmern: Vater, Mutter, sechs Kinder und sechs Untermieter. In der Lower East Side lebten mehr Menschen auf engem Raum als in Bombay.

Wenn es noch eine Steigerung gab, so war es der Sommer, wo man die Sonne zwar meist immer noch selten zu sehen, aber umso heftiger zu spüren kriegte. Dann wurde es so heiß und feucht, dass man kaum noch Luft bekam, die Straßen dampften, die Menschen auch. Kein Baum, kein Gras, nicht ein einziger Halm.

Und so ergriffen sie wieder die Flucht: in die Catskill Mountains, knapp 100 Meilen nördlich von Manhattan. In Upstate New York lag das Gebiet, das fast ein Jahrhundert lang im Sommer „das jüdische Eden“ war. Und zwar das der Armen wie der Reichen; diese eröffneten schon im 19. Jahrhundert ihre eigenen komfortablen Herbergen, nachdem sie von Christen abgewiesen worden waren: „No Dogs! No Jews!“ stand da. „No Hebrews Wanted.“

Auf der östlichen, der fruchtbaren Seite des Hudson residierten die Roosevelts und die Vanderbilts, dort gab es ein Jesuitenkloster und eine berühmte Kadettenanstalt – Orte, die bequem mit der Bahn zu erreichen waren. Der Weg in die westlich vom Hudson gelegenen – abgelegenen – Catskills war sehr viel beschwerlicher, konnte in der Anfangszeit acht Stunden dauern. Er war so beschwerlich wie das Beackern des steinigen Bodens. Kein Wunder, dass die Bauern nur allzu gerne Urlaubsgäste aufnahmen.

Die Idee aus der Not erwies sich als lukratives Konzept: Allein zwischen 1900 und 1906 wurden 1200 Bauernhöfe an Juden verkauft, die diese fast alle in Pensionen verwandelten. Was als Ferien auf dem Bauernhof begann, und von der Gewerkschaftsbewegung stark unterstützt wurde, entwickelte sich schnell zum Vorreiter des Cluburlaubs mit Rundumversorgung und animiertem Spaßprogramm – all inclusive. Als offizieller Erfinder des Cluburlaubs gilt zwar der Belgier Gérard Blitz, der sich auf Mallorca nicht nur um die Unterkunft seiner Gäste in Zelten kümmerte, sondern auch um das Freizeitprogramm. Aber das war 1950, zu einer Zeit, als die Resorts in den Catskills schon ein halbes Jahrhundert Erfahrung, Krise und Expansion hinter sich hatten und gerade einen neuen, den letzten Boom erlebten.

Anfangs reichte es den Urlaubern, frische Milch von leibhaftigen Kühen zu trinken und Eier echter Hühner zu verspeisen, das war ihnen Vergnügen genug. Essen, koscheres Essen, blieb auch bis zum Schluss eine Hauptattraktion; wobei es im „Borscht Belt“, dem Pendant zum christlichen Bible Belt im konservativen Süden der USA, sehr viel mehr als Rote-Bete-Eintopf gab: Gefilte Fish, Bagels mit Lachs, Hühnchen in jeder Form, serviert in immer riesigeren Speisesälen. Je mehr, desto besser, hieß die Devise: All you can eat. Der Dichter Joseph Rolnick, den die New Yorker Luft so krank gemacht hatte, dass Freunde ihn Anfang des 20. Jahrhunderts in die „jüdischen Alpen“ schickten, sagte, dass er den Wolken noch nie so nahe gewesen war wie hier, in dem kleinen Zimmer seiner Pension auf einem Hügel in Liberty. In zehn Wochen dort nahm er 38 Pfund zu, viel zu essen sei für alle gleichbedeutend mit guter Erholung gewesen. Mit einem abgedroschenen Witz aus den Catskills beginnt Woody Allen seinen „Stadtneurotiker“: Zwei ältere Damen sitzen in einem Berghotel. Sagt die eine: „Gott, das Essen hier ist wirklich schrecklich!“ Sagt die andere: „Stimmt, und dann noch so kleine Portionen.“

Das Unterhaltungsprogramm, das zunächst aus ein bisschen Klavierspiel bestand, einer kleinen Bibliothek und einem Spielplatz für die Kleinen, nahm fast so rasch zu wie Joseph Rolnick: Bowling und Billard, Tanz und Musik, Theater und Shows, Schwimmen und Reiten, Tennis und Golf … Auch beim Spaßprogramm hieß die Devise bald: All you can take. Und gern auch noch mehr. Als Animateure wurden sogenannte tummlers angestellt, die sich zwischen den Gästen tummeln sollten, hier einen blöden Witz reißen, dort die Mädchen zum Schönheitswettbewerb am Pool zusammentrommeln.

In dem Film „Dirty Dancing“, der Ferien in den Catskills („bei Kellerman’s“) auch für Nicht-New Yorker lebendig werden ließ, taucht einer von ihnen auf – eine dicke, penetrante Nervensäge. Dauernd schreit in diesem Filmsommer ’63 jemand durchs Megafon die nächste Attraktion heraus, „Achtung! Achtung! Achtung! Das Hufeisenwerfen fängt an!“ Die Mädchen setzen sich falsche Haare auf für den Perückenwettbewerb, die Eltern spielen Golf auf grünen Hügeln, erwachsene Menschen hüpfen über die Wiese wie Hasen, treten sich beim Tanz-Kurs auf die Füße, und am Donnerstagabend heißt es: „Bingo! Bingo! Bingo!“ Die für die Unterhaltung zuständigen Angestellen solcher Hotels schufteten und schwitzten kaum weniger, als die Arbeiter in den sweatshops der Lower East Side.

Ruhige, beschauliche Natur, das war es offenbar am wenigsten, was die New Yorker in den Wäldern suchten. Sie trafen sich lieber am Pool als am See. Die Städter suchten Menschen. Am liebsten solche männlichen Geschlechts.

So sehr sich die Catskills veränderten – konstant blieb der Frauenüberschuss. Auf zwölf Mädchen, zählte ein Urlauber im Jahre 1904, kam ein Junge. Selbst die verheirateten Frauen waren meist solo, denn Familien, die es sich erlauben konnten, und das waren immer mehr, blieben nicht nur zwei Wochen, sondern den ganzen Sommer. Die arbeitenden Männer rollten dann am Wochenende aus der Stadt mit den Zügen, später mit dem Auto an, mit dem man nur noch knapp zwei Stunden brauchte. Und zogen sich gern schnell wieder zum Kartenspielen zurück.

Um die weiblichen Gäste bei Laune zu halten, kam den Hoteldirektoren eine geniale Idee: Sie heuerten Collegestudenten an, die sich fast alle mit Ferienjobs ihr Studium finanzierten. Die waren nicht nur günstige Saisonarbeiter, sondern auch noch gepflegte Gesellschafter. „Kümmert euch um alle Töchter!“, schärft der Hoteldirektor in „Dirty Dancing“ seinen Kellnern aus Harvard und Yale ein. „Auch die hässlichen! Seid romantisch!“ Die Catskills galten als größte jüdische Eheanbahnungsinstitution des Landes – zumindest hofften die Mütter das. Für Hunderttausende war es der Ort des ersten Flirts, des ersten Sex, des ersten Liebeskummers.

Die Catskills konnte sich fast jeder leisten, der Ferienbetrieb beruhte auf einem Dreiklassensystem. Auf der untersten Stufe standen die kuchaleyns, schlichte Unterkünfte, in denen die Gäste, wie der Name schon sagt, selber in einer großen Gemeinschaftsküche kochten. Dann kamen die Feriensiedlungen mit kleinen Bungalows; und schließlich die Hotels, die oft als bescheidene Pensionen begonnen hatten und dann zu riesigen Ferienanlagen anschwollen. Die berühmtesten waren das Concord und Grossinger’s, die sich immer wieder gegenseitig zu übertrumpfen versuchten. Hatte der eine einen Golfplatz, baute der andere zwei.

Die Grenzen dieser Klassengesellschaft waren durchlässig. Bei einigen Bungalows war das Unterhaltungsprogramm der Hotels im Preis inbegriffen – wenn nicht, wusste man sich auch zu helfen. In Art Spiegelmans Comic „Maus“ verbringt der Vater den Sommer in den „Cosmopolitan Bungalows“. Jeden Tag nimmt Wladek Spiegelman seinen heimlichen Schleichweg zum (real existierenden) Pines Hotel, setzt sich dort in den Innenhof, nimmt an den kostenlosen Tanzstunden für die Hotelgäste teil und spielt Bingo mit ihnen. Nur wenn er gewinnt, kann er die Preise nicht einkassieren – dafür müsste er seine Zimmernummer verraten.

In einem kuchaleyn verbrachte der 16-jährige Woody Allen seine Sommerferien, mit Mutter und Schwester in einem Raum – „ein Rattenloch“, wie er später sagte. Dabei war er, Stadtmensch durch und durch, die treibende Kraft gewesen, in die Berge zu fahren, die ihm von seinem geliebten New York so weit weg erschienen „wie die Türkei“. Ein Freund hatte ihm in Weinstein’s Majestic Bungalow Colony einen Job verschafft: als Zauberer. Als Assistentin diente ihm seine zehnjährige Freundin Marion. Es waren Woody Allens erste, wenn auch unbezahlte öffentliche Auftritte. Aber wie viele jüdische Komiker würde er später in den Catskills an seinen Sketchen und Witzen feilen. Milton Berle, Danny Kaye, Sid Caesar, sie alle begannen ihre Karriere in den Catskills, nutzten die Hotels als Probebühne. An Material mangeltes es ihnen nicht, die Pauschalurlauber, ein hartes Publikum, lieferten jeden Tag neuen Stoff.

Der Sänger Eddie Fisher wurde in den Catskills zum Star, Jerry Lewis trat schon mit fünf Jahren als Clown auf. Seine Eltern, jüdische Entertainer, tingelten wie viele Kollegen in den Catskills von einem Hotel zum anderen. Die Organisation hatten Agenten übernommen, meist mit Sitz in Manhattan. Einer von ihnen ist die Titelfigur in Woody Allens „Broadway Danny Rose“, ein gescheiterter Catskill-Komiker, der seine Witze immer bei anderen klaute. Jetzt versucht er, einem Hoteldirektor seine Artisten warmzureden: ein einbeiniger Steptänzer, ein stotternder Bauchredner, ein blinder Xylofonspieler.

In den besten Zeiten (es gab auch andere) traten in den großen Resorts – die sich jetzt gern „Hotel and Country Club“ nannten – ganz andere Leute auf: Marlene Dietrich, Judy Garland, Lionel Hampton. Grossinger’s hatte einen besonders cleveren PR-Manager, der berühmte Sportler zum Training oder zur Erholung einlud; Basketballstars, Boxchampions, Schachmeister wie Bobby Fischer, die dann wiederum die Journalisten großer Zeitungen und Sender anlockten.

1968 erklärte Nelson Rockefeller, Gouverneur von New York, den 16. Juni zum Jennie Grossinger Day. Die Hoteldirektorin, so die „New York Times“, regierte schließlich „mit königlicher Würde ein Reich größer als Prinzessin Gracias Monaco“. Es war das erste Mal im Staat New York, dass jemand zu Lebzeiten so geehrt wurde. Allerdings war das, was sie verkörperte, zu dieser Zeit schon fast Historie.

Das Fliegen war inzwischen so günstig, dass den Amerikanern die ganze Welt offen stand, Hotels in Miami und Las Vegas übertrumpften ihre Vorgänger noch an üppiger Extravaganz. Alte Stammgäste kauften sich nun Ferienwohnungen in Florida, in New York musste niemand mehr schwitzen, zumindest in den Wohnungen nicht, die hatten fast alle Klimaanlage. Viele Städter waren für immer in die grünen Vorstädte geflohen, Antisemitismus war zumindest kein so offenes Problem mehr. Frauen hatten keine Zeit, zwei Monate Ferien zu machen, sie waren jetzt selber berufstätig, und das Fernsehen war für Entertainer attraktiver als die Ferienbühnen, selbst wenn diese 1500 Sitzplätze hatten. In Art Spiegelmans „Maus“ ist es nicht zufällig der alte Vater, der Urlaub im Bungalow in den Catskills macht, mit Nachbarn, von denen viele, wie er, Holocaustüberlebende sind; der Sohn hat darauf keine Lust mehr. „Für uns geht alles zu Ende“, seufzt der alte Hoteldirektor Max Kellerman wehmütig am Ende von „Dirty Dancing“. „Glaubst Du, dass die Kids mit ihren Eltern herkommen wollen, um Foxtrott zu lernen?“, fragt er seinen Bandleader. Jugendliche wie Baby hatten keine Lust mehr, wie die Hasen über die Wiese zu hoppeln, sich unter den Augen der Eltern zu vergnügen, zwischen Leuten, die ihnen viel zu bieder und konservativ, oft auch zu vulgär waren. Sie wollten die neue Freiheit auskosten – die einige von ihnen in Woodstock entdeckten. Auch Woodstock liegt in den Catskills; allerdings fand das Festival dann doch nicht in dem Dorf statt, wo man Hippies skeptisch gegenüber stand – so wie viele Jahrzehnte zuvor der Gründer der dortigen Künstlerkolonie Juden strikt ablehnte. Die Organisatoren von Woodstock wichen auf die Farm eines jüdischen Bauern aus, in Sullivan County, dem Gebiet, in dem die meisten Ferienanlagen lagen.

„Einige verzweifelte Bungalow-Besitzer versuchten ihre Häuschen mit den angesagten Farben anzustreichen: rosa, lila, gelb und rot“, schreibt Irwin Richman in „Borscht Belt Bungalows“. „Aber der Effekt war ähnlich, als wenn sich eine 75-Jährige Make-Up wie Madonna ins Gesicht schmieren würde.“ Die meisten der einst 1000 Anlagen sind inzwischen geschlossen. Einige verfallen und verwildern, ein paar sind abgebrannt, wieder andere, auch das Grossinger’s, wurden abgerissen und durch Neubauten ersetzt. Nur der „Monster Golf Course“ blieb erhalten. Jetzt sind es am ehesten orthodoxe Juden, die in eigenen Siedlungen Ferien machen. Aus anderen Resorts wurden Ferienwohnungen, Yoga- und Kongresszentren.

Was aber den neuen Nutzungen fehlt, ist das Herz, schreibt Stefan Kanfer in seinem Buch über das jüdische Eden, „A Summer World“: „the romance“. Das Liebesabenteuer, die Romantik – das, so glaubt der New Yorker, war es, was den Charme der Catskills ausmachte. „Romance erhielt die Hotels während der großen Depression und die Kriege hindurch, zog neue Generationen an ...“ Das, und das Gefühl zu einer großen Familie zu gehören. Jetzt gibt es keine Catskills mehr, nur das Catskill Institute, in dem sich Historiker und Veteranen an die glorreiche, schrille, romantische Vergangenheit erinneren.

Das Berliner Haus der Kulturen der Welt eröffnet am 24. August ein großes New York-Festival, mit Ausstellungen, Performances, Lesungen, Konzerten und Filmen – darunter einige von Woody Allen.

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