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Geschichte: Die Guten und die Bösen

Stets wurden sie verehrt: die Davids gegen die Goliaths. Bis die Farc in Kolumbien den Guerillakampf kriminell machte.

Der Dichter und der Diktator saßen beim Frühstück in Havanna, als die sensationelle Nachricht aus Bogotá eintraf. Gabriel García Márquez und Fidel Castro sprangen auf und liefen, so schnell sie konnten – beide sind jenseits der 80 –, zu Fidels Fernseher. Dort verfolgten die Freunde auf „CNN en Español“ die spektakuläre Befreiung Ingrid Betancourts durch die kolumbianische Armee. „Wenn ich so etwas schriebe, würde es doch keiner glauben“, ließ García Márquez, selbst Kolumbianer und jedes Jahr zum Urlaub auf Kuba, später wissen. Und fügte zur Zukunft der gedemütigten Guerillagruppe Farc hinzu: „Ich glaube, es ist der Anfang von etwas.“

Tatsächlich ging am 2. Juli mit der Befreiung Betancourts aus den Händen der Farc etwas zu Ende: die Epoche der lateinamerikanischen Guerilla. Und ausgerechnet Hugo Chávez hat es vorhergesagt. „Wir brauchen keine Guerilla mehr. Farc: Legt die Waffen nieder!“, appellierte der sozialistische Präsident Venezuelas schon Wochen vor dem Coup der Kolumbianer. Er schien bemerkt zu haben, dass ihm seine Freundschaft mit den bewaffneten Stalinisten keine Sympathiepunkte einbrachte. Denn die Farc sind zwar die größte und mit 44 Jahren auch älteste Guerillabewegung Lateinamerikas. Doch eines sind sie nicht mehr: die Guten.

Die Kolumbianer wünschten ihre Niederlage, täglich desertieren Kämpfer. Zudem hat die Regierung die militärische Initiative übernommen. Auch das darf keiner Guerilla passieren. Ohnehin sind die Farc keine Volksbewegung im Geiste Robin Hoods mehr, sondern eine kriminelle Vereinigung im Stile Pablo Escobars. Um zu überleben, handeln sie mit Kokain, rekrutieren Kinder und terrorisieren Zivilisten. Die Farc sind zum Selbstzweck geworden.

Das unterscheidet sie von den meisten anderen Guerillagruppen, die in den vergangenen 50 Jahren zwischen Chile und Mexiko existierten. Diese stritten gegen die Grundübel des Kontinents: die Plünderung seiner Reichtümer und die Konzentration von Land, Geld und Macht in den Händen weniger. Kurzum: Sie wollten das Gute.

Fünf größere Guerillagruppen gibt es heute noch in Amerika: In Kolumbien operiert das schwache Nationale Befreiungsheer ELN. In Peru ist der berüchtigte Leuchtende Pfad auf 150 Mitglieder geschrumpft. Nur sporadisch tritt die Revolutionäre Volksarmee EPR in Mexiko in Erscheinung. Dort existiert auch die kuriose Zapatistische Armee der Nationalen Befreiung. Die EZLN hat das Internet zur Waffe gemacht und ist die erste Guerilla des 21. Jahrhunderts. Allen gemeinsam ist, dass sie keine Gefahr für die Staaten darstellen, gegen die sie revoltieren. Diese werden heute von hochgerüsteten Drogenkartellen bedroht.

Grund genug also für einen Rückblick auf ein halbes Jahrhundert Guerillakampf, der seit Fidel Castros Einmarsch in Havanna dem Kontinent sein Zeichen einbrannte und auch in Europa deutliche Spuren hinterließ. Mit Ché Guevara brachte er die globale Ikone für Widerstand und Umsturz hervor. Der Revolten-Jesus blickt heute freilich nur noch von T-Shirts entschlossen in die Zukunft.

Der popkulturellen Dominanz des Argentiniers zum Trotz – der Guerillakrieg ist kein lateinamerikanisches Phänomen, sondern gründet auf einer uralten Tradition: Schon 515 Jahre vor Christus trieb das Reitervolk der Skythen die Armee des Perserkönigs Darius I. mit Überraschungsattacken zur Verzweiflung. 350 Jahre später führte Judas Makkabäus einen Partisanenkrieg gegen die Syrer, nachzulesen im alttestamentarischen Buch der Makkabäer. Die Römer wiederum hatten sich an den Rändern ihres Imperiums mit unzähligen Widerständlern herumzuschlagen. Auf der iberischen Halbinsel, in Gallien, Germanien und Britannien wurden sie von militärisch unterlegenen Gruppen herausgefordert. Guerillakrieg, das war schon immer wie der Kampf Davids gegen Goliath: Witz gegen Arroganz, Überraschung gegen Berechenbarkeit.

Der Begriff „guerrilla“ tauchte dann erstmals während der Befreiungskriege der Spanier gegen Napoleon zwischen 1808 und 1814 auf. Er stammt vom spanischen Wort „guerra“ ab und heißt wörtlich: Kriegchen. Damals waren es kleine Einheiten, die die Besetzung Spaniens für Napoleons Grande Armée zum Albtraum machten. Sie nutzten Mittel, die 2000 Jahre vor ihnen schon die Iberokelten gegen die Römer angewandt hatten, überraschten die Soldaten in Schluchten und schleuderten Felsen auf sie. Die Franzosen wiederum griffen zum Terror gegen die Zivilbevölkerung, verewigt in Francisco Goyas Gemälde „El tres de Mayo de 1808 en Madrid“.

Guerillakrieg ist also keineswegs charakteristisch für eine bestimmte Ideologie, Epoche oder Kultur. Er definiert sich auch nicht über den Grund eines Kampfes, sondern einzig über das Wie der Auseinandersetzung. Guerillakampf ist immer der Versuch, die Frage zu beantworten: Wie kann der Schwache Krieg gegen den Starken führen? Oder wie der chinesische Stratege Sun Tsu vor 2500 Jahren in „Die Kunst des Krieges“ schrieb (das heute gern in Managerseminaren verwendet wird): „Die Struktur einer Armee muss dazu dienen, Stärke zu meiden und Schwäche zu schlagen.“ Ein Gedanke, den Mao Zedong später aufgriff: „Ich habe zehn Kämpfer gegen hundert. Aber ich greife nur an, wenn zehn gegen einen kämpfen.“ Ein aufmerksamer Leser Maos destillierte daraus die Erkenntnis: „Beginne kein Gefecht, das du nicht gewinnen kannst.“ Der Schüler war Ché Guevara, der den Satz 1960 in seiner Partisanenfibel „Guerillakrieg“ notierte. Darin legte er akribisch dar, welche Regeln der erfolgreiche Guerillero zu befolgen habe: „Greif an und hau ab. Warte, liege im Hinterhalt. Schlag wieder zu. Und immer so fort, lass dem Feind keine Ruhe.“

Castro und Ché sind nicht die ersten Guerilleros Lateinamerikas. 1780 etwa stritt der Indio Tupac Amaru II. in den Anden gegen die Spanier. Und in den 1920ern kämpfte der Bauer Augusto Sandino gegen die Besetzung Nicaraguas durch US-Marines. Doch mit Ché und Fidel beginnt die Epoche des Guerilleros auf dem Kontinent – aus einem simplen Grund: Sie gewannen. Der sagenhafte Sieg ihrer Rebellentruppe, die 1956 aus zwölf Kämpfern bestand und drei Jahre später den Diktator Batista verjagte, wirkte wie ein Fanal: Es ist möglich, die Diktaturen zu schlagen, die uns als Rohstofflager verwalten und jeden Widerstand mithilfe Washingtons niedermachen. Was kurz zuvor noch aussichtslos erschien, als die CIA in Guatemala den Reformer Jacobo Àrbenz stürzte, wirkte nun machbar: Tierra y Libertad!

Castros Sieg inspirierte, vor allem die Jungen. Die tiefere Ursache für den folgenden Guerillaboom war jedoch die spanische Erbkrankheit: die quasi-feudalistische Monopolisierung der Macht durch eine kleine europäischstämmige Elite. So besaßen in den 1960ern zwei Prozent der Bevölkerung Lateinamerikas 50 Prozent des Reichtums. Der nicaraguanische Diktator Somoza redete in den Siebzigern davon, dass sein Volk aus Ochsen bestehe, die zu schuften hätten. Und als Napoleon Duarte, Mitglied der salvadorianischen Junta, 1980 von der „New York Times“ gefragt wurde, warum es in seinem Land eine Guerilla gebe, antwortete er verblüffend aufrichtig: „50 Jahre Lügen, 50 Jahre Ungerechtigkeit, 50 Jahre Frustration. Dies ist die Geschichte eines Volks, das zu Tode hungert.“ Die Revolte gegen diesen Zustand erhielt nun den Segen der aufkommenden Befreiungstheologie: „Wenn Jesus lebte, wäre er Guerillero“, predigte etwa der kolumbianische Priester Camilo Torres Anfang der Sechziger – und griff zur Kalaschnikow.

So schossen die Guerillas nach Castros Sieg wie Pilze aus dem Boden. Allein in Mexiko sind bis heute etwa 50 Gruppen bekannt, und das winzige El Salvador (so groß wie Hessen) gebar acht Widerstandsgruppen. Bis zu 250 Gruppierungen zählen Experten bis heute. Die größten hatten mehr als 20 000 Kämpfer, die kleinsten bestanden aus nicht mehr als ihrer Buchstabenkombination. Einige Guerillas wählten obskure Bezeichnungen wie die „Bewaffnete und Herzlose Kolumne Jean Marc Rouillan“ (Chile). Andere bevorzugten schier endlose Namen wie das „Geheime Revolutionäre Komitee der Armen – Gerechtigkeitskommando 28. Juni“ (Mexiko). Nur wenige zeigten Sinn für Humor wie „Alfaro lebt, verdammte Scheiße!“ (Ecuador).

Während in Montevideo, Buenos Aires und Rio de Janeiro studentische Stadtguerillas operierten, attackierten und sabotierten die Aufständischen in den Anden und Mittelamerika auf dem Land. Doch keine Gruppe konnte nennenswerte Erfolge verbuchen. Das lag zum einen an dem naiven Glauben, dass man tatsächlich mit 30 Mann in jedem Land Amerikas eine Revolte anzetteln könne, wie Guevara postuliert hatte. Zum anderen aber schrillten in den USA die Sirenen. Washington stockte seine Militärhilfe für Lateinamerikas rechte Regimes auf und bildete Offiziere im Antiguerillakampf aus, darunter zahlreiche spätere Diktatoren. Einzig Nicaragua glitt ihnen aus den Händen: 1979 fegten die sandinistischen „muchachos“ den Schlächter Anastasio Somoza hinfort.

Auch in Europa löste der Sieg der Sandinisten eine Welle der Begeisterung aus. Die „Neue Welt“ wurde erneut zum Spiegel für Europas alte Sehnsucht vom Paradies. Schon Kolumbus hatte in Briefen an den spanischen König von den Bewohnern der Karibik geschwärmt: „Ich versichere Ihre Hoheit, dass es keine besseren Menschen gibt: Sie lieben andere wie sich selbst.“ Damals entstand der Mythos vom edlen Wilden, dem Gier und Neid fremd waren. Diese Utopie erhielt nun neue Nahrung. Der edle Wilde wurde zur erotisch aufgeladenen Figur des Latin- Guerillero und der Latin-Guerillera.

The Clash bringen 1980 ihr Album „Sandinista“ heraus, und das „Minihandbuch des Stadtguerilleros“ von Carlos Marighella wird über die Kreise von RAF und IRA hinaus populär. Die „taz“ beginnt damals die Spendenaktion „Waffen für El Salvador“, zwölf Jahre später sind 4 737 755 Mark und 10 Pfennige zusammengekommen. Unterdessen beweist die Redaktion in Berlin ihre Solidarität, indem sie geschlossen Kaffee der Marke „Sandino-Dröhnung“ trinkt, obwohl die Bohne schmeckt, wie sie heißt. Andere leisten konkrete Aufbauarbeit. Der Torwart Volker Ippig vom FC St. Pauli geht nach Nicaragua, um beim Bau eines Krankenhauses zu helfen. Er lebt in einer Holzhütte, später grüßt er die Fans in der Bundesliga mit erhobener Faust. Kreuzberg will nicht zurückstehen. 1985 beschließt der Bezirk eine Städtepartnerschaft mit der nicaraguanischen Gemeinde San Rafael del Sur (die bis heute lebendig ist). Doch als deren Bürgermeister Kreuzberg besucht, verlässt die CDU demonstrativ das Rathaus. Der Kalte Krieg war über Zentralamerika hereingebrochen.

US-Präsident Ronald Reagan warnte damals vor dem Übergreifen der Revolution auf El Salvador und beschwor eine kommunistische Invasion aus dem Süden, denn: „San Salvador liegt näher an Houston als Washington.“ Er sandte Millionen Dollar an die antisandinistischen Contra-Rebellen, während die CIA Sabotageakte in Guerillamanier verübte, die sie durch den Kokainhandel finanzierte. Als ihre Agenten nicaraguanische Häfen verminen, werden die USA vom Internationalen Gerichtshof in Den Haag wegen Terrorismus verurteilt – ohne Konsequenzen. Zwar verhöhnen gut gelaunte sandinistische Minister Reagan im „Playboy“ als miesen Schauspieler. Doch der lacht zuletzt, und die Sandinisten werden nach aufgezwungenem Krieg 1990 abgewählt.

Nur kurz zuvor hatten im nahen El Salvador die Kämpfer der FMLN schon in der Hauptstadt gestanden. Massive Militärhilfe aus Washington aber verhindert ihren Sieg. In Guatemala wiederum lässt der Diktator Rios Montt zehntausende Mayas umbringen, um die Unterstützung für die Guerilla auszutrocknen. Der Krieg nimmt Züge eines Genozids an. Auch Rios Montt, ein evangelikaler Fundamentalist, war in einem US-Camp trainiert worden. Zeitgleich eskaliert in Peru der „Volkskrieg“ des Leuchtenden Pfads, der die Armee an Grausamkeit zu übertrumpfen sucht und Tausende ermordet. Als ihr Führer, der selbstherrliche Philosophieprofessor Abimael Guzman, gefasst wird, kollabiert die maoistische Gruppe 1992.

Damit neigt sich die Epoche der Guerilla in Lateinamerika. Die von ihr teils miterzwungene Demokratisierung machte sie überflüssig, das Scheitern der sozialistischen Utopie orientierungslos. Obwohl heute weiterhin eklatante Ungerechtigkeit herrscht, sind fast alle Regierungen des Kontinents demokratisch legitimiert. Und wie wusste schon Ché Guevara: „Die Revolte gegen ein demokratisches Regime ist äußerst schwierig.“ Ironie der Geschichte: Die Rebellen von gestern bekleiden heute Staatsämter. Uruguays Landwirtschaftsminister etwa ist ein ehemaliger Stadtguerillero.

So gibt es heute in Lateinamerika nur eine kleine Gruppe Aufständischer, die strategisch im 21. Jahrhundert angekommen ist. Am 1. Januar 1994 stürmten die mexikanischen Zapatisten mit Karabinern auf die weltpolitische Bühne, sagten dem Neoliberalismus, der mexikanischen Kleptokratie und dem Ökozid den Kampf an. Die indigenen Aufständischen beriefen sich auf den Bauernführer Emiliano Zapata und veröffentlichten die „Erste Deklaration aus dem Lakandonischen Urwald“. Sie beginnt mit den Worten: „Heute sagen wir: Basta!“

Der EZLN-Kommandant Marcos avancierte damals zum Held der Globalisierungskritiker, und die Zapatisten ereilte der Ruf, die erste postmoderne Guerilla zu sein. Denn anders als die altmodischen Farc sind sie nicht mit Schießen beschäftigt, sondern mit dem Aufbau eines globalen Netzwerks. Der Musiker Manu Chao brachte einen Koffer Dollar in den Dschungel, die Spieler von Inter Mailand spendeten 2500 Euro. Kapitän Javier Zanetti schrieb an Marcos: „Wir glauben an eine bessere Welt.“

Guerillakrieg, wir erinnern uns, das ist die Suche nach den Schwächen eines übermächtigen Gegners. Die Zapatisten haben das Prinzip weiter gedacht. Sie haben die eigene Schwäche zur Stärke gemacht. Ihre Wehrlosigkeit macht sie unangreifbar. Sie haben begriffen, was die conditio sine qua non jedes erfolgreichen Aufstands ist: die Angemessenheit der Mittel.

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