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Fußball: Forza finito

Calcio, das ist Fußball in Italien. Einst war er mehr als ein Spiel - er war der Himmel auf Erden. Nun ist er die Hölle. Die Italiener distanzieren sich von ihrem ehemals wichtigstem Volksspektakel. Hooligans verdarben die Spiele, bei denen zu viele Menschen starben.

Und doch ist manchmal alles so wie früher. Da muss man sehr, sehr zeitig aufstehen, um eine Chance zu haben auf eine Karte. Oder gar nicht erst ins Bett gehen. Wie die frierenden, übernächtigten Gestalten vor der Verkaufsstelle des AS Rom an der Via Appia, einer Straße mit mächtigen Wohnhäusern im Süden der Hauptstadt. Ein Dutzend junger Männer in Bomberjacken und dicken Daunenmänteln lehnt morgens um neun an einer Hauswand und wartet darauf, dass der Laden öffnet. Um wenigstens im Warmen weiter zu warten. Die Tickets für das Champions-League-Achtelfinale Roma – Real Madrid sollen erst ab 12 Uhr freigegeben werden, aber diese Tifosi gehen auf Nummer sicher. „Ich bin schon gestern Abend gekommen“, sagt Francesco, der Erste in der Reihe. „Ein paar Stunden war ich zwischendurch zum Aufwärmen zu Hause, da hat mich ein Freund abgelöst. Roma – Real, wer weiß, wann wir das wieder zu sehen bekommen.“

In 65 Minuten ist das Olympiastadion ausverkauft. Am kommenden Dienstag wird es eine Kulisse geben, wie sie auch in Rom immer seltener geworden ist: Tausende von Fahnen und Wunderkerzen, Fanschals und Spruchbänder. Und vor allem: 70 000 Zuschauer.

Ein seltenes Spektakel, denn ausverkaufte Stadien sind in Italien längst die absolute Ausnahme. Auch in der Champions League. Als im November Werder Bremen bei Lazio Rom spielte, sahen nur 30 000 zu, als Sporting Lissabon gegen den AS Rom antrat, gar nur 27 000. Im Mailänder Meazzastadion, mit knapp 75 000 Plätzen das größte Italiens, erschienen zu Inter Mailand – PSV Eindhoven knapp 20 000 Zuschauer.

Zwar hat das Desinteresse der Italiener an ausländischen Mannschaften, die üblichen Topteams ausgenommen, eine gewisse Tradition. Gebetsmühlenhaft wird den Trainern der heimischen Champions-League-Teilnehmer immer wieder die Frage gestellt: „Was ist Ihnen wichtiger, der Europacup oder die Meisterschaft?“, und tapfer antworten die derart Bedrängten: „Natürlich die Meisterschaft. Schließlich ist die Serie A die beste Liga der Welt.“ Darüber kann man inzwischen geteilter Meinung sein. Die meisten Superstars, auch Italiener wie Fabio Cannavaro und Luca Toni, spielen anderswo, in England, Spanien oder eben Deutschland. Nach Italien ziehen neuerdings die, deren Karriere sich dem Ende zuneigt: Ronaldo (spielt er? spielt er nicht?), Figo (immer noch) und Patrick Vieira. Gewiss, ein paar Superstars sind noch verblieben, Gig Buffon, Zlatan Ibrahimovic und Kaká, der Weltfußballer des Jahres 2007. Spieler, die eigentlich die Massen anziehen müssten. Tun sie aber nicht. Auch für die besten Teams des Calcio sind halbleere Ränge am Sonntag Alltag.

Beim Debüt von Trainersohn Filippo Mancini im Pokalspiel Inter Mailand – Reggiana verloren sich in der riesigen Arena des Meazzastadions 5000 Unverdrossene. Rekordmeister Juventus Turin überlegt, auf die geplante Restaurierung des Stadio delle Alpi zu verzichten – das Turiner Olympiastadion mit seinen 27 000 Plätzen reicht aus. Lazio Rom, vor ein paar Jahren noch eine Topklub mit 45 000 Dauerkarten, hat jetzt im Schnitt weit weniger als 20 000 Zuschauer. Noch trister wird es in der Provinz. Den Negativrekord in der laufenden Saison schreibt bislang das Match Empoli – Cagliari. 786 zahlende Zuschauer exklusive den auch nicht gerade in Heeresstärke anwesenden Dauerkartenbesitzern. Knapp besser besucht war Genua-Siena mit 1022 verkauften Eintrittskarten.

Es liegt am Wetter, glaubt Sergio Campana, der Vorsitzende der Spielergewerkschaft. „Wer will schon bei der Kälte draußen sitzen. Außerdem gibt es zu viele Spiele. Da suchen sich die Fans halt nur die wichtigsten aus. Am Ende sehen die Leute Fußball lieber im Fernsehen. Ich glaube, wir brauchen bequemere Stadien und günstigere Eintrittskarten.“ Und natürlich mehr Sonne an den Winterabenden. Ein bisschen klingt der wackere Campana wie jener legendäre Palermitaner Bürgermeister, der unbeeindruckt von den Mafiaattentaten in seiner Stadt behauptete: „Palermos größtes Problem ist der Verkehr.“

2007 war für den Calcio ein annus horribilis. Es gab drei Tote: Der Polizist Filippo Raciti verlor sein Leben bei einer Hooliganschlacht um das Stadion von Catania. Der Tifoso Gabriele Sandri wurde auf dem Weg zu einem Auswärtsspiel auf einem Autobahnparkplatz von einem Polizisten erschossen. Und der Vereinsfunktionär Ermanno Licursi wurde in den Katakomben eines Stadions in Kalabrien getötet, bei einer Schlägerei nach einem Match zwischen Amateuren.

Nicht nur diese Toten – und Hunderte von Verletzte – haben das Verhältnis der Italiener zum Fußball nachhaltig verändert. Sie distanzieren sich von ihrem einstigen Lieblingsspektakel, wie sie sich von der Politik distanzieren. Aus Enttäuschung. Aus Skepsis, dass „die da oben“ sowieso machen, was sie wollen, und sich dabei leichtherzig über geltende Regeln hinwegsetzen. Nicht von ungefähr benutzt man für die Herrschenden in der Politik dieselben Ausdrücke wie für die Strippenzieher im Fußball: „il palazzo“, der Palast, oder neuerdings „la casta“, die Kaste.

Spätestens seit dem Dopingprozess gegen Juventus und dem vorerst letzten großen Manipulationsskandal 2006 haben sich viele Fans definitiv vom Fußball entfernt, weil sie argwöhnen, die Mauscheleien gingen irgendwie weiter. Tatsächlich scheint der große Drahtzieher Luciano Moggi, noch bevor endlich der Prozess gegen ihn beginnt, so gut wie rehabilitiert zu sein – er tritt im Fernsehen auf und unterhält neuerdings gar eine Kolumne in der katholischen Webzeitung Petrus. Die Redaktion rechtfertigt den neuen Mitarbeiter Moggi: „Das Gebot der Nächstenliebe gilt auch für Bruder Luciano. Schließlich hat er niemanden umgebracht.“

Abgesehen von der Fußballleidenschaft der Italiener. Für die waren Moggis Schiedsrichtertelefonate nämlich tödliches Gift. Die Passion der Tifosi ist längst jener leicht depressiven Resignation gewichen, die laut Meinungsumfragen die allgemeine Stimmung in Italien ausmacht. Erschwerend kommt hinzu, dass nach den bürgerkriegsähnlichen Hooligankrawallen der letzten Monate auch die eingefleischtesten Fans schlicht um ihre körperliche Unversehrtheit im Stadion fürchten. Die durchschnittliche Zuschauerzahl stieg zwar von 18 756 in der Saison 2006/07 auf 22 000 in der laufenden Meisterschaft. Aber 1991 lag sie noch bei 34 000 und im Jahr 2000 immerhin bei 29 124 – damals beschränkten die Hooligans sich noch weitgehend auf Verbalinjurien. Jetzt gibt es Sonntag für Sonntag ein Dutzend Verletzte als Kollateralschaden. Vergangene Woche stellte die Polizei bei einem Lazio-Fan ein Unterwassergewehr sicher, das der Mann ins Stadion tragen wollte. Was er genau damit vorhatte, wurde nicht bekannt. Die Waffe machte Schlagzeilen, während das übliche Arsenal von Messern und Schlagstöcken nur noch in den Kurzmeldungen landet.

Neidisch schauen die Italiener nach England, wo die Premier League es auf 36 000 Zuschauer durchschnittlich bringt und das Publikum bis an den Spielfeldrand vorrücken darf, anstatt von der Polizei in die streng abgeschirmte „Gästekurve“ eskortiert zu werden. Dort müssen die „Gäste“ dann nach Abpfiff warten, bis die bewaffneten und behelmten Ordnungshüter sie wieder herausbringen. In den italienischen Stadien arbeiten auch Männer der Antiterroreinheit Digos. „Neulich war ich mit meinen beiden Söhnen in der Curva B“, erzählt ein Tifoso des SSC Neapel, „weil ich ihnen das bieten wollte, was mein Vater mir auch geschenkt hat: den Sonntag in der Kurve. Ich schwöre, es war das erste und letzte Mal. Die Ultras waren wie entfesselt. Ich habe zwei Stunden lang blanke Angst gehabt.“ Organisierte Gruppen aus dem Stadio San Paolo waren kürzlich beim Protest gegen die Wiedereröffnung einer Müllkippe in vorderster Front. Mit Steinen und Knüppeln ging es gegen die Polizei. Berge von Müllsäcken, aber auch Autos und eine Tankstelle wurden in Brand gesetzt, Feuerwehrleute attackiert – Szenen, wie sie sich üblicherweise im Schatten der Fußballstadien abspielen. Früher dachte man, die Gewalt im Stadion sei nichts weiter als ein Ventil für die Frust der jungen Italiener ohne Perspektive. Inzwischen hat der Fußball auch diese Ventilfunktion verloren: Die Gewalttäter organisieren sich nur noch im Stadion, die Krawalle veranstalten sie aber draußen. In Cagliari auf Sardinien wurden vor ein paar Wochen zwei „Ultras“ festgenommen, die die Villa des Regionalpräsidenten in Brand setzen wollten. Hooligans lieferten sich zudem eine Straßenschlacht mit der Polizei, um das Anlegen eines mit Müll beladenen Schiffs aus Neapel zu verhindern – übrigens mit ziemlich unverblümter Unterstützung von Rechtsaußen-Parteien.

Gewalt ist im italienischen Fußball jedoch ebenso wenig ein neues Phänomen wie die Politisierung der organisierten Fangruppen. Bereits 1925 gab es in Bologna die erste Straßenschlacht zwischen auch politisch verfeindeten Tifosi. In den 1930er Jahren war das römische Derby berüchtigt wegen der begleitenden Fanrandale – so ist das bis heute.

Von den 80 000 organisierten italienischen Ultras sind nach Schätzungen der Polizei heute fast 15 000 rechtsextrem und 4200 linksextrem. Neuerdings halten die Experten allerdings die „Unpolitischen“ für mindestens genauso gefährlich, denn die eint ihr Hass auf die Polizei und die Ablehnung staatlicher Ordnung überhaupt – besonders in Süditalien ist das traditionell eine verbreitete Haltung.

Inzwischen wird den organisierten Fans immer häufiger der gemeinsame Ausflug zu Auswärtsspielen verboten. Die Neapolitaner müssen nahezu dauernd zu Hause bleiben, oftmals aber auch die Römer, die Sarden aus Cagliari, die Genuesen. Dennoch haben die Familien sich ihren Platz im Stadion längst nicht zurückerobert. Initiativen wie die Geste des AS Rom, die leere Gästetribüne kostenlos Kindern zur Verfügung zu stellen, blieben Einzelfälle. Wann hat man zuletzt fröhliche Bilder aus einem italienischen Stadion gesehen? Selbst Nationaltrainer Roberto Donadoni gestand neulich, er neide den soeben in der EM-Qualifikation besiegten Schotten ihr Publikum, „weil bei uns so etwas nicht möglich wäre.“

Ihr Freundschaftsspiel gegen Portugal bestritt die Squadra Azzurra Anfang Februar in Zürich – nicht nur wegen der zwei Millionen Euro Prämie. Sondern auch, weil dort das Stadion ausverkauft war. Auf den Rängen saßen, die italienischen Fernsehkommentatoren bemerkten es wehmütig, viele Familien mit Kindern.

Es ist nicht nur die Gewalt, die den Italienern den Stadionbesuch vergällt. Auch aus Ingrimm darüber, wie zahlende Untertanen abgefertigt werden, anstatt wie in anderen Ländern als Kunden oder als Vereinsmitglieder umworben zu sein. Warum sollte man viel Geld und viel Nerven für ein Produkt ohne Gütesiegel zahlen?

Die italienischen Stadien sind zumeist abweisend-kalte Betonschüsseln ohne jeden Komfort, die Eintrittskarten außerhalb der Kurven (20–25 Euro) für Durchschnittsverdiener mit deutlich niedrigeren Gehältern als in Deutschland unerschwinglich. Wer trotzdem ins Stadion will, kann nicht einfach mehr ein Ticket vorm Stadiontor kaufen, sondern muss es vorher erwerben und dazu den Ausweis vorzeigen. Die Prozedur soll die Stadien sicherer machen, ist aber derart bürokratisch, dass sie viele abschreckt. Spaß am Fußball bedeutet eben auch eine gewisse Spontaneität. Aber geht es hier um Spaß?

Nichts ist der Calcio weniger als ein Sport, abgesehen vielleicht von den heroischen Anfangsjahren um die vorletzte Jahrhundertwende, als italienische Aristokraten und britische Hafenarbeiter die ersten Klubs gründeten. Aber dann kamen schon bald die großen Industriebosse und die Politiker, die den Fußball ihren autoritär geführten Imperien einverleibten und ihrem Wahlvolk oder Arbeitern anstatt Partizipation lieber teure Fußballstars anboten, die nur Geld kosteten und keinen Machtverlust.

Nirgendwo sonst in Europa wurde der Fußball zu einer so grotesken Reinkarnation des panem et circenses. Und nur in Italien konnte gut 1900 Jahre nach dem leidenschaftlichen Pferdewetter Nero ein Fußballpräsident Regierungschef werden, der dem Papst erklärte: „Wir exportieren beide eine siegreiche Idee. Sie das Christentum und ich meinen AC Mailand.“ Silvio Berlusconi, der jetzt wieder als Ministerpräsident kandidiert, hat aus Italien eine Fernsehrepublik gemacht, in der dem Fußball die vorherrschende Rolle im nationalpopulären Unterhaltungsprogramm zugewiesen wurde.

Während die Stadien zu Ruinen der Unterhaltungsindustrie verkommen, verzeichnet der Fußball im Pay-TV Zuschauerrekorde. In dieser Saison sahen 1,7 Millionen das Mailänder Derby, der Klassiker Juventus – Inter brachte es auf 2,6 Millionen. Im Free-TV hatte die gleiche Begegnung im Pokal sogar sieben Millionen Zuschauer. „Wir müssen ein neues Fenster öffnen“, hat Ligaboss Antonio Matarrese jetzt erkannt. Er meinte die Einführung eines Erstligaspiels am Sonntagmittag. Am kommenden Samstag fensterlt die Liga bereits mit drei verschiedenen Anpfiffszeiten für die Big Matches mit Inter, Milan und AS Rom. Fußball von 16 bis 22 Uhr 30. Schließlich machen die Übertragungsgelder bei den Großklubs mehr als die Hälfte der Einnahmen aus, während es die Eintrittskarten in den Stadien auf mickrige zwölf Prozent bringen. Wozu also in die heruntergekommenen Arenen investieren, wenn es doch kein Geld bringt? Ob Inter, Juve, Milan oder Roma: Keiner dieser Klubs hat ein eigenes Stadion. Wozu auch? „Die schönsten Stadien stehen nicht in Italien“, hat die römische Tageszeitung „Il Romanista“ erkannt. „Wir können sie nur aus der Ferne bewundern.“ Genauso wie die ihren Fans entrückten Fußballer. Als Fernsehsport wird der Fußball privatisiert und entpassionalisiert. Leere Stadien bedeuten für Italien einen ähnlichen Kulturwandel wie die schon etwas länger leeren Kirchen. Es ist der Verlust des italienischen Sonntags. Und daran hängt mehr als eine ganze Woche.

Birgit Schönau

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