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Franziskus

© Kitty Kleist-Heinrich, TSP

Glaube: Im Dienste ihres Herrn

Sie hegen und pflegen. Und stellten sich sogar der Roten Armee entgegen. Die Schwestern des Franziskus-Krankenhauses feiern 100 Jahre Nächstenliebe

Über die Dachterrasse des Franziskus-Krankenhauses weht am Morgen ein leichter Wind. Zwei ältere Frauen in Rollstühlen rauchen, in der Ecke löst eine Dame Kreuzworträtsel. Die Aussicht über die Dächer Berlins ist herrlich. Ruhe, Entspannung, Patienten, die schläfrig in die Sonne blinzeln. Eine Ordensschwester in schwarzer Tracht rupft verwelkte Blätter von den Blumen im Beet. Ihre Schuhe knirschen auf den terracottafarbenen Fliesen, wenn sie sich von einem Strauch zum nächsten dreht. Sie zieht eine kleine Handharke durch die Blumenerde im Beet. Ein Idyll.

13 Schwestern des Franziskaner-Ordens wohnen im Krankenhaus, ihre Klausuren liegen in den oberen zwei Stockwerken des Altbaus. Die älteste der Schwestern ist 76, die jüngste 32 Jahre alt, fünf der acht Stationen des Krankenhauses werden von Ordensschwestern geleitet. Und wer zu alt ist um Patienten zu pflegen, der kümmert sich um etwas anderes: um die Blumen im Dachgarten zum Beispiel oder um die Hauskapelle. Es sind nur 13 Schwestern – und trotzdem hat man beim Gang durchs Haus das Gefühl, als träfe man sie überall. In weißen Gummischuhen auf der Station oder mit dem Besen in der Hand im Innenhof. Das Haus an der Budapester Straße ist für die Franziskanerinnen Wohnhaus – und Lebensaufgabe. Seit Generationen ist es das, in diesem Mai seit 100 Jahren.

Die Ordensschwestern, so könnte man sagen, sind die größte Konstante im Haus an der Budapester Straße. Das Büro der Oberin, Schwester Diomedis, liegt im ersten Stock und vor dem Fenster wächst so viel Grün, dass es im Zimmer düster ist. Der Schreibtisch ist riesig – die 71-Jährige mit der großen runden Brille ist ohnehin zierlich, fast verschwindet sie hinter dem Monstermöbel. Aber der Platz ist nötig, für all die Aktendeckel, für den Computer und für die Chronik des Hauses. Die ist bewegt. Diomedis könnte sie erzählen, die uralten, handgeschriebenen Aufzeichnungen der ersten Schwestern hat sie selbst mit der Schreibmaschine abgetippt. Und sie führt sie weiter. Zum vierten Mal leitet sie das Krankenhaus als Oberin, 1964 sendete das Mutterhaus im Emsland sie erstmals nach Berlin, für ein Jahr. Zwischen 1977 und 1984, 1990 und 1996 lebte sie wieder im Haus, gemeinsam mit den übrigen Schwestern. Seit 2005 ist sie nun wieder Oberin und irgendwie hofft sie, dass es das letzte Mal ist – sie ist ein bisschen müde und die Arbeit im Haus wird nicht weniger, im Gegenteil. Diomedis hat um den Mund einen energischen Zug und wenn sie lächelt, dann tut sie dies zuerst mit den Augen – der Rest des Gesichts entspannt sich erst später. Nur erzählen mag sie nicht recht. Die Chronik, ja nun, was ist das schon, auch nur eine Chronik.

Aber das stimmt nicht. Die Geschichte des Franziskus-Krankenhauses ist eine Geschichte dieses Krankenhauses, und ein bisschen ist sie auch die Geschichte des Gesundheitswesens und des Lebens im Orden, und vor allen Dingen eine Geschichte der Nächstenliebe. Im Jahr 1908 kamen die ersten zwölf Schwestern des Franziskaner-Ordens aus Thuine im Emsland nach Berlin. Ihr Auftrag: ein Sanatorium aufbauen und führen. Gerufen hatte sie der Chirurg Eduard Wolffenstein, der Pflegepersonal für seine Privatklinik benötigte. Zu dieser Zeit begann man in Berlin, die Pflege alter und kranker Menschen aus den privaten Wohnungen in stationäre Einrichtungen zu verlagern. Eigens für die Bedürfnisse des Großbürgertums, dem die Unterbringung in den großen Sälen der städtisch-öffentlichen Krankenhäusern zuwider war, entstanden um die Jahrhundertwende komfortablere Privatkliniken. Wenn man so will, ereilte Gottes Segen zu Beginn also vor allem diejenigen, die ihn sich leisten konnten. Heute ist das Krankenhaus nicht das einzige kleine Haus in Berlin, das von christlichen Schwestern geleitet wird. Aber, so sagen die Mitarbeiter, es sei das einzige, in dem Ordensschwestern noch aktiv in der Pflege arbeiten.

Alten und Kranken zu helfen war das größte Anliegen der Schwestern der Ordengemeinschaft des heiligen Märtyrers Georg zu Thuine bei Gründung im Jahr 1869. Heute sind die knapp 1500 Schwestern der Kongregation nicht nur in Berlin, sondern auch in vielen anderen Ländern tätig, in Japan, Indonesien, Albanien oder den USA. Und weil ein Motto für die Schwestern auch ist, auf die „Zeichen der Zeit zu achten und den Menschen (zu) dienen, die heute unsere Zuwendung und Hilfe brauchen“, reicht der virtuelle Arm des Klosters längst um die ganze Welt: Sorgen und Bitten können Gläubige heute per E-Mail ins Emsland schicken – dort werden die gechatteten Bitten von den Schwestern in ihre realen Gebete aufgenommen. Vielleicht liegt es ja auch an diesem Anflug der Moderne, dass der Orden keine Nachwuchssorgen hat: Vier Novizinnen und zwei Postulantinnen bereiten sich zur Zeit auf das Leben in der Ordensgemeinschaft vor.

Als die Franziskanerinnen die Berliner Räume zum ersten Mal betraten, lagen diese voller Bauschutt. Auch das Berliner Wetter war nicht das beste: „Ein rechter Apriltag“ mit „abwechselnd Hagel und Regenschauer“. Doch „so schwierig alles schien, so gut ging alles“, notierte die Gründerin des Hauses, Generaloberin Chrysostoma, wenige Monate später. Bereits im Herbst 1908, das Sanatorium verfügte schon über 90 Betten, kaufte der Orden zwei benachbarte Wohnkomplexe – das Haus sollte erweitert werden. 1912 wurde schließlich der Grundstein für die Hauskapelle gelegt, in einigen Zimmern gab es jetzt sogar Warmwasserleitungen.

In Schwester Diomedis Erinnerungen kommt der schwungvolle Aufbruch nicht mehr so recht vor. Eher schon die in ihrer Zeit endlosen Diskussionen über die mögliche Schließung oder Erweiterung des Krankenhauses. Über Jahre, bis 1984, konnte sich die Senatsverwaltung nicht entscheiden. Vielleicht verschließt sich der Blick für die Verklärung, wenn man wie Diomedis alle Strukturen des Hauses kennt, alle Beschlüsse hat absegnen müssen. Aber es gibt andere im Orden, die mit Hingabe die Tradition studieren und hoch halten. Schwester Maria Angelis etwa, die vor elf Jahren die Pflegedienstleitung übernahm. Sie erzählt, dass viele der Ordensschwestern sich sehr mit der Geschichte des Hauses identifizieren. Einige, besonders die jüngeren, lesen in der Chronik. Abenteuerlich genug ist sie.

Zum Beispiel die Lieblingsgeschichte vieler Mitarbeiter, ein legendäres Vorkommnis aus dem April 1945, bei dem die damalige Oberin ihr Leben riskierte, um das Haus und die Patienten zu schützen. Übel gelaunt saß da in den letzten Kriegstagen ein russischer Kommandant im Gartenhaus des Krankenhauses. Zu seinen Füßen lag das eine Ende eines Zündkabels, das andere lag im Haus. Und dazwischen hatte der Kommandant Minen eingraben lassen. Die Russen glaubten, deutsche Soldaten hätten sich im Krankenhaus verschanzt. In buchstäblich letzter Sekunde trat ihm die resolute Oberin in ihrer schwarzen Ordenstracht entgegen. Der Kommandant ließ sich erweichen. Ein letztes Mal wurde das Haus durchsucht, dann kam der erlösende Befehl: Es wird nicht gesprengt!

„Jede Zeit hat ihre eigenen Herausforderungen“, sagt Diomedis. Gegen russische Kommandanten muss sie sich nicht behaupten. Sie kämpft mit Bilanzen und Abrechnungen, verhandelt mit Krankenkassen. Die wirtschaftliche Situation habe sich während der Jahre sehr verschärft, sagt sie. Bis in die frühen Sechziger war das Franziskus-Krankenhaus eine reine Belegklinik. Ärzte, die in der Stadt oder im nahen Umland eine eigene Praxis hatten, behandelten hier ihre Patienten, die meist aus der gehobenen Berliner Mittelschicht stammten. Doch die Zahl der wohlhabenden Privatpatienten sank nach dem zweiten Weltkrieg. 1962 wurde das Haus in ein allgemeines Krankenhaus mit angestellten Ärzten umgewandelt – und stand fortan auch allen Kassenpatienten zur Verfügung. Mit einem großen Chefarztwechsel zu Beginn der achtziger Jahre spezialisierte sich die Klinik auf Gefäßerkrankungen und Urologie.

Überhaupt, das Geld. Die Verhandlung über Pflegesätze sei viel komplizierter geworden. „Früher verhandelte man einfach mit den Kassen“, sagt Diomedis. Heute sieht das ganz anders aus. So anders gar, dass es auch einen fremdsprachigen Namen trägt: „Diagnosis Related Groups“, noch so ein Anflug der Moderne. Dahinter verbirgt sich das Prinzip der Krankenkassen, das Krankenhaus nicht mehr nach der Länge des Patientenaufenthalts zu bezahlen, sondern nach einem ausgeklügelten Berechnungssystem, das die Schwere der Krankheit, die notwendige Behandlung und das Alter der Patienten berücksichtigt.

Wie anders damals, als ein Baron von Braun die Franziskanerinnen um medizinische Hilfe anbettelte. Das war in den Zwanzigerjahren, der Baron war verarmter Adel, verarmt durch den großen Krieg. Die Hungersnot nach Ende des Weltkrieges, der Generalstreik und die Inflation trafen nicht nur die Franziskanerinnen im Sanatorium, sie trafen alle. Auch ihre ehemals reiche Klientel hatte viel verloren. „Wie arm und traurig ist es doch in vielen Familien geworden. Wie glücklich sind wir, dass wir doch noch oft helfen können.“, heißt es 1920 in der Chronik.

Damals wurden die Schulden des Krankenhauses mit 62 000 Mark für Kohlen und 15 000 Mark für Kartoffeln beziffert. Trotz allem wurde zeitgleich roter Marmor im Haupteingang verlegt. Ein Paradox, fürwahr, aber wenn man so will ein doch recht typisch römisch-katholisches. Denn der Marmor musste schon sein, immerhin verweilte katholisch-kirchliche Prominenz im Haus: zum Beispiel der päpstliche Nuntius Eugenio Pacelli, späterer Papst Pius XII, der die Reichsregierung regelmäßig in den Räumen des Krankenhauses empfing. Und das geht ja nicht, mag in den Nebenräumen auch das Elend wüten, ohne entsprechende Repräsentanz. Noch heute glitzern die Treppenstufen und Säulen im ehemaligen Eingangsbereich. Die Tür zur Burggrafenstraße ist allerdings seit Jahren fest verriegelt: Der einstige Haupteingang ist heute ein Notausgang – mit Marmorstufen.

Auch heute kommt durch den neuen Haupteingang in der Budapester Straße kein Hilfesuchender mehr einfach so ins Haus. „Die Patienten machen sich vorab kundig“, sagt die Oberin. Ihr Krankenhaus steht im ständigen Wettbewerb mit anderen Einrichtungen. Wer hier nicht mitzieht, verliert Patienten. Die Ansprüche der Kranken steigen stetig und die Antworten der Krankenhäuser darauf enden immer mit dem Wort „Management“: Pflegemanagement, Qualitätsmanagement, Beschwerdemanagement.

Auch die Anforderungen an das Personal, an die Schwestern und Pfleger, haben sich über die Jahre drastisch geändert. Schwester Maria Angelis, die Pflegedienstleiterin, ist Chefin von 188 Mitarbeitern. Die 43-Jährige muss sämtliche Daten und Dienstpläne im Kopf haben, hat sie auch. Betriebswirtschaftliche Kenntnisse hat sie in speziellen Schulungen erworben. Bis in die siebziger Jahre hatte das Franziskus-Krankenhaus eine eigene Krankenpflegeschule, schon 1912 lernten dort zwölf Ordensschwestern. Dann wurde die Schule ausgegliedert und gemeinsam mit anderen katholischen Krankenhäusern geführt.

Das Franziskus-Sanatorium diente während der Kriegstage als Lazarett für rund 200 Verwundete. Oft kamen die Soldaten halb tot in Berlin an, die Wunden voller Maden, ihre Uniformen voll Ungeziefer. Großes Lob gab es nach den schweren Kriegstagen für die Schwestern. Keine habe sich geekelt oder sei davongelaufen, heißt es in der Chronik.

Die erste Intensivstation erhielt das Franziskus-Krankenhaus erst 1976 – doch in den Aufzeichnungen der Schwestern finden sich schon viel früher Überlegungen zur medizinischen Ausstattung. Ende der zwanziger Jahre wurde der Gebäudekomplex saniert, umgebaut und auf den damals neuesten Stand gebracht. Das Krankenhaus verfügte alsbald über 200 Betten, vier Stationen und einen komfortablen Dachgarten. 1930 heißt es in der Chronik des Hauses: „Alle vier Stationen sind reichlich mit neuen Badeeinrichtungen, fließendem Wasser, neuen Licht- und Heizungsanlagen versehen worden. Die Einzelzimmer haben wie früher den Charakter der Privateinrichtung und Gemütlichkeit behalten.“ Fürsorglich ging es im Haus schon länger zu. Aus dem Jahr 1910 verzeichnet die Chronik ein Lob des Baron von Buchholz: „Ich bin nicht mehr unter fremden Menschen, sondern befinde mich in guten, liebevollen Händen.“

Einzig zum betreuten Sterben liegt heute niemand mehr im Krankenhaus, über den blauen Linoleumboden der hellen, freundlichen Stationen laufen die Ordensschwestern seit Mitte der sechziger Jahre in weißer Tracht. Den großen steifen Kragen, den die Schwestern auf so vielen alten Schwarz-Weiß-Fotos um den Hals tragen, gibt es nicht mehr – er war zu umständlich und hinderlich im Umgang mit den Kranken. Auch die große Haube ist kleiner geworden und auf dem Kopf nach hinten gerutscht, vorne schauen blonde, brünette oder weiße Haare hervor, manchmal rutscht eine Strähne in die Stirn, auch Nonnen können eitel sein. Der Wunsch, den Patienten vertraulich zur Seite zu stehen, ist geblieben. Die Ordensschwestern arbeiten nicht im Schichtbetrieb und sind oft spät abends noch bei den Kranken.

215 Betten hat das Franziskus-Krankenhaus heute. Auch wenn seit einigen Jahren nicht mehr in Betten, sondern in Fallzahlen gerechnet wird. Also: 19 000 ambulante und 6 400 stationäre Fälle pro Jahr. 360 Menschen arbeiten im Haus, die Ärzte eingerechnet. Das neue Arbeitszeitgesetz war hier kürzlich ein Thema, drohender Bettenabbau bleibt immer eines. Und was gab es vor knapp hundert Jahren? Ein von Schmerzen geplagter Patient wurde vor dem unseligen Selbstmord bewahrt, den Strick hatte er schon um den Hals geknüpft.

Doch, doch, die Idylle auf der Dachterasse ist schon verdient. Die Türen des Aufzugs öffnen sich oben, im achten Stock, mit einem vornehmen „Pling“. Auch am Nachmittag scheint noch immer die Sonne. Familien der Kranken sind zum Kaffeetrinken vorbeigekommen, die Blumen in den frisch geharkten Beeten wiegen sich im Wind. Die ältere Ordensschwester mit den vielen welken Blumenblättern im kleinen Eimer ist nirgends mehr zu sehen. Sie hat ihre Pflicht erledigt. Das Ergebnis genießen die anderen, echte Nächstenliebe eben.

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