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Justiz: Todesstrafe in der DDR

Die Delinquenten starben durch die Guillotine, später durch den „Nahschuss in das Hinterhaupt“. Die Kugel sollte Mörder, Spione, Saboteure treffen. Das Urteil stand meist schon vor dem Prozess fest. Erst 1987 wurde die Höchststrafe abgeschafft.

Von Andreas Austilat

Der letzte Weg des Werner Teske war ungefähr zehn Meter lang. Er führte den 39-Jährigen über einen mit Terrazzofliesen belegten Flur, hinein in einen fensterlosen Raum. Wahrscheinlich blickte Teske dort in die Nische zu seiner Linken, denn es sieht so aus, als ob es dort noch weiterginge. Doch das täuscht. Hinter ihm trat ein Mann aus dem Schatten der Tür hervor, richtete eine Pistole vom Typ Walther P 38 mit Schalldämpfer auf Teskes Hinterkopf und drückte ab.

Am 26. Juni 1981 um 10 Uhr 10 starb Werner Teske, Hauptmann des Ministeriums für Staatssicherheit, in der ehemaligen Hausmeisterwohnung der Leipziger Strafanstalt. Doch nur sehr wenige Menschen sollten in den nächsten zehn Jahren von den wahren Umständen seines Todes erfahren. Und Teskes Frau Sabine klammerte sich bis zum Ende der DDR an die vergebliche Hoffnung, ihr Mann lebe vielleicht noch irgendwo an einem verborgenen Ort.

Werner Teske fiel nicht etwa einem Feme-Mord zum Opfer. Er starb als verurteilter Spion den im Strafgesetzbuch der DDR, Paragraf 60 Absatz 1, vorgesehenen Tod durch Erschießen, zu vollstrecken durch den „Nahschuss in das Hinterhaupt“, der den Delinquenten möglichst unerwartet treffen sollte. Das entsprach dem Verständnis von Humanität, mit dem die Höchststrafe gerechtfertigt wurde: „Indem die Todesstrafe der Sicherung und dem zuverlässigen Schutz unseres souveränen sozialistischen Staates, der Erhaltung des Friedens und dem Leben der Bürger dient, trägt sie einen humanistischen Charakter.“

Todeswürdig waren in der DDR Mord, NS-Kriegsverbrechen, Hochverrat und Spionage, aber auch Kriegshetze und Sabotage sowie die sogenannte Diversion, der sich schuldig machte, wer „die Volkswirtschaft oder die Verteidigungskraft“ der DDR untergrub. Ein Delikt, das 1955 einen Eisenbahner ebenso den Kopf kosten sollte wie einen Kraftwerksdirektor. Der eine hatte eine Weiche falsch gestellt, der andere wollte sich in den Westen absetzen. An beiden wurde ein Exempel statuiert.

Teske hatte geheime Unterlagen gesammelt, vielleicht hätte er sie irgendwann westlichen Geheimdiensten übergeben. Dass er es bisher nicht getan hatte, spielte in der Urteilsbegründung ebenso wenig eine Rolle wie sein Motiv. Teske hatte wiederholt in West-Berlin groß eingekauft und Geld ausgegeben, das eigentlich für Agenten bestimmt war, die von ihm geführt wurden. Das brachte ihn in Bedrängnis. Aber die weitere Erforschung der Hintergründe hätte nur den Prozessablauf behindert. Denn der folgte einem ziemlich engen Zeitplan: Prozesseröffnung am 10. Juni 1981 um 8 Uhr 30 heißt es da, Urteilsverkündung einen Tag später um 15 Uhr 30. Berücksichtigt man die drei halben Stunden Pause, war der Verteidiger mit 30 Minuten Redezeit noch gut bedient.

So wurde Teske also hingerichtet für eine Tat, die er noch gar nicht begangen hatte. Zusätzliche Tragik verlieh seinem Fall die Tatsache, dass er der Letzte war von 211 Delinquenten, die von deutschen Richtern erst in der sowjetisch besetzten Zone und dann ab 1949 in der DDR hingerichtet wurden. Und weil die Bundesrepublik mit ihrer Gründung die Todesstrafe abgeschafft hatte, war Werner Teske auch der letzte Todeskandidat auf deutschem Boden.

Vor 20 Jahren, am 17. Juli 1987, wurde die Höchststrafe aus dem Gesetzbuch der DDR gestrichen. In aller Eile, denn eigentlich hätte dieser Schritt qua Verfassung durch die Volkskammer erfolgen müssen. Aber die Abgeordneten zu befragen, dazu war keine Zeit, Staats- und Parteichef Erich Honecker bereitete seinen Besuch in der Bundesrepublik vor. Ein humanitäres Mitbringsel kam da gerade recht. So entschied der Staatsrat auf Empfehlung des Politbüros ganz allein. Die Abgeordneten der Volkskammer durften ihre Zustimmung ein halbes Jahr später geben.

Schon vor dem Fall Teske haftete der Vollstreckungspraxis in der DDR etwas Absurdes an. Hinrichtungen wurden heimlich vollzogen, Totenscheine gefälscht und Sterbeurkunden manipuliert – Teske starb offiziell nicht durch eine Kugel in Leipzig, sondern an Herzversagen in Stendal. Seit 1975, als die Vereinten Nationen über Todesurteile informiert werden wollten, scheute die DDR allzu viel Publizität in dieser Frage. Und überhaupt, hatte eine Gesellschaft, die von sich behauptete, das Verbrechen an sich zu überwinden, die Todesstrafe nötig?

Nein, glaubte man 1947 in der Sowjetunion. Nach dem Sieg im großen Krieg wähnte sich Stalin dem Sozialismus so nahe, dass die Todesstrafe abgeschafft wurde. Das galt nicht für Militärtribunale in Deutschland, schon gar nicht für Straflager, in denen weit mehr Menschen umkamen als auf dem Schafott. Und 1949, der Kalte Krieg verschärfte sich, führte die Sowjetunion die Todesstrafe auch wieder ein. Aber vor Gründung der DDR wurde nicht nur im Osten Deutschlands hingerichtet. Im Westen bekannten sich Briten, Franzosen und Amerikaner eindeutig zur Todesstrafe.

Es war auch keineswegs ausgemacht, dass die neue Bundesrepublik diese Strafe ächten würde. Im Gegenteil, zu den beschämendsten Kapiteln bundesdeutscher Rechtsgeschichte gehört die Rehabilitierung von Nazijuristen, die als Scharfrichter aufgetreten waren. Und auch Volkes Stimme in Nachkriegs-Westdeutschland war für die Guillotine. Das Meinungsforschungsinstitut Allensbach ermittelte 1949 eine Zweidrittelmehrheit, bei den unter 30-Jährigen waren es sogar 81 Prozent.

Im Parlamentarischen Rat, der über das neue Grundgesetz beriet, saßen die mehrheitlich konservativen Befürworter den Gegnern auf der Linken etwa gleichstark gegenüber. Den Stimmungswandel leiteten ausgerechnet die beiden Vertreter der rechtskonservativen Deutschen Partei ein, denen wahrscheinlich zu Recht unterstellt wurde, sie wollten auf diese Weise Kriegsverbrecher schützen.

Am Ende wurde der Artikel 102 mit deutlicher Mehrheit ins Grundgesetz aufgenommen: „Die Todesstrafe ist abgeschafft“, heißt es dort bis heute. Als letzter Straftäter in Westdeutschland wurde am 18. Februar 1949 in Tübingen der wegen Raubmordes verurteilte Richard Schuh enthauptet. In West-Berlin starb Berthold Wehmeyer am 11. Mai 1949 unter der Guillotine, ebenfalls wegen Raubmordes. Formal außerhalb des Geltungsbereichs des Grundgesetzes wurde die Todesstrafe per Gesetz dort erst 1951 durch das Berliner Abgeordnetenhaus aufgehoben. Theoretisch galt sie in West-Berlin sogar bis zum Ende des Besatzungsstatuts 1990. Die Alliierte Verordnung 511 sah bis dahin den Tod für Waffenbesitz vor, ausgesprochen wurde die Strafe nie.

Es gab in der Bundesrepublik immer wieder Versuche, den Artikel 102 zu kippen. So forderte der CSU-Politiker Richard Stücklen vor dem Hintergrund des Falles Jürgen Bartsch, der 1967 wegen Sexualmordes an vier Jungen zu lebenslangem Zuchthaus verurteilt wurde, die Todesstrafe für Kindermörder. Alle diese Initiativen hatten keine Aussicht, die für eine Verfassungsänderung nötige Zweidrittelmehrheit zu erlangen. Es wäre auch schwierig gewesen, solch eine Initiative zu begründen. Eine abschreckende Wirkung kam der Todesstrafe jedenfalls nicht zu. Wie Richard Evans in seinem Buch „Rituale der Vergeltung“ darlegt, wurden in den 50er Jahren in der Bundesrepublik 0,26 Morde pro 100 000 Einwohner verübt, im Deutschen Reich der 30er Jahre waren es trotz Guillotine 0,28.

Auch die DDR hatte ihren Fall Jürgen Bartsch. Erwin Hagedorn war gerade 16 Jahre alt, als er 1969 zwei neunjährigen Schülern in einem Wald bei Eberswalde die Kehle durchtrennte. Hagedorn wurde erst gefasst, als er 1971 einen dritten Jungen ermordete. Im anschließenden Prozess schilderte er in allen Einzelheiten, wie er sich an den toten Jungen vergangen hatte. Doch selbst wenn sich die Juristen bei ihrem Schuldspruch im Einklang mit der Volksmeinung fühlen durften, er folgte nicht den Buchstaben des DDR-Gesetzbuchs. Weder hatte die Frage der Zurechnungsfähigkeit eine Rolle gespielt noch die Tatsache, dass Hagedorn zumindest bei den ersten beiden Fällen minderjährig gewesen war.

Eine Begnadigung kam dennoch nicht infrage. Der inzwischen 19-Jährige nahm den gleichen Weg wie Werner Teske. Ein Kleinbus vom Typ Barkas 1000 brachte ihn in die Leipziger Arndtstraße, eine ruhige Wohnstraße, gesäumt von vierstöckigen Gründerzeithäusern. In der Nummer 48 liegt der Hintereingang der Strafvollzugsanstalt. Hinter der Flügeltür gleich rechts befindet sich die ehemalige Hausmeisterwohnung, die 1960 zur zentralen Hinrichtungsstätte der DDR umfunktioniert worden war. Bis 1968 stand hier die Guillotine, noch heute kann man im Boden die eiserne Verankerung erkennen. Doch die Fallschwertmaschine, wie sie im DDR-Sprachgebrauch hieß, erwies sich als nicht störungsfrei. Aus den frühen Jahren, als die Maschine noch nicht in Leipzig stand, sind dramatische Zwischenfälle dokumentiert. So blieb das Schwert 1950 in der Schulter eines Todeskandidaten stecken. Ein als Zeuge anwesender Vollstreckungsbeamter sagte später aus, der Delinquent habe gerufen „haltet ein“ und vor Schmerz geschrien, bis nach langen 39 Sekunden endlich der Kopf fiel.

Solche Szenen sollten sich nach 1968 nicht mehr wiederholen. Fortan wurden Hinrichtungen durch Erschießen vollzogen. Auf der Strecke blieb allerdings auch der letzte Wunsch des Delinquenten. War ihm in der „Dienstanweisung des Chefs der Volkspolizei“ von 1954 noch „eine besondere Speise“, eine Zigarette und sogar Bohnenkaffee, zugestanden worden – sofern das alles „den Wert von DM 10 je Verurteilten nicht übersteigt“ – hieß es 1968 nur noch lapidar, „dem Verurteilten kann ein letzter Wunsch gewährt werden“. Dann waltete der Henker seines Amtes.

Hagedorn starb wie wahrscheinlich auch Teske durch die Hand von Hermann Lorenz, Abteilungsleiter der Leipziger Vollzugsanstalt, der 1968 zum Vollstrecker berufen worden war und dieses Amt bis 1980 oder ’81 ausübte. Zehn Jahre später beschrieb Lorenz seine Tätigkeit in einem Fernsehinterview mit dem Journalisten Roger Willemsen. Der Henker saß im Rollstuhl, tarnte sich mit einem falschen Namen, falschem Bart und übergroßer Sonnenbrille. Wortkarg offenbarte er ein bemerkenswertes Desinteresse gegenüber den Delinquenten, die er erschoss. Nicht in einem einzigen Fall will er sich für deren Vorgeschichte interessiert haben, nicht einmal hat er ihnen in die Augen geblickt und nur zweimal starb sein Opfer nicht mit dem ersten Schuss. Der anwesende Arzt markierte dann für Lorenz die Stelle auf dem Herzen, auf die der Henker seinen zweiten Schuss setzte. Willemsen kommentierte das Interview später in einem Buch mit der Bemerkung, er habe „dem unbelebtesten Stück Materie gegenübergesessen, das je Eingang ins Studio erhielt“.

Der Leipziger Hinrichtungsort wird inzwischen gelegentlich für das Publikum geöffnet, so am kommenden Samstag, wenn das Leipziger Bürgerkomitee an die Abschaffung der Todesstrafe erinnert. Es gibt Pläne, die Räume in der Arndtstraße 48 dauerhaft in eine Erinnerungsstätte umzuwandeln. Den Begriff Gedenkstätte schätzt man in diesem Zusammenhang nicht, denn nicht nur Justizopfer wie Teske sind hier gestorben, sondern auch ein Täter wie Hagedorn. Der Bundesgerichtshof hat 1995 festgestellt, dass es sich bei der Verhängung der Todesstrafe nicht zwangsläufig um Rechtsbeugung handelte, vor allem dann nicht, wenn schwerstes Unrecht geahndet wurde.

Falco Werkentin, Berlins stellvertretender Landesbeauftragter für die Stasiunterlagen, hat im Auftrag der Enquete-Kommission des Bundestags die Justiz der DDR erforscht und ist jedem einzelnen Todesurteil nachgegangen. Vollstreckt wurde 52-mal wegen politischer Delikte, 89-mal wegen NS-Verbrechen und 70-mal wegen krimineller Taten. Werkentin spricht von Justizmord, wenn eine Instanz, die weder in der Verfassung noch im Strafrecht dafür vorgesehen ist, Urteile anweist. Genau dies sei in der DDR geschehen. Nachweislich bis 1974 sei jedes Todesurteil dem Politbüro beziehungsweise dem Generalsekretär der SED vorgelegt und mit einer Entscheidung beantwortet worden. Werkentin geht davon aus, dass diese Vorgehensweise bis zum Schluss üblich war.

Die Praxis nahm besonders in den frühen Jahren groteske Züge an. Etwa als im Zuge der Verstaatlichung der Textilindustrie in Glauchau ein Schauprozess gegen die Fabrikanten geführt wurde. Die SED-Landesleitung Sachsen beschloss in ihrer Sekretariatssitzung: „Es soll durch die Massen gefordert werden, dass die Todesstrafe zur Anwendung kommt“. Die Massen reagierten prompt. Wie eng die Führung war, die der Staatsanwaltschaft selbst in minderschweren Fällen zuteilwurde, belegt ein Schreiben Erich Mielkes, Minister für Staatssicherheit, 1959 an den 1. Sekretär des ZK der SED, Walter Ulbricht. In einem Verfahren gegen einen evangelischen Pfarrer fragte Mielke an, ob die Verurteilung dem Gericht überlassen bleiben soll, wovon Mielke im gleichen Schreiben dringend abriet, „da sie sonst nicht wissen, was sie tun sollen“.

Ulbricht wusste, was er zu tun hatte. Dokumentiert ist etwa der Fall gegen Mitglieder der „sog. Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit“, in dem er selbst per Federstrich erst das Todesurteil vorschlägt und dann „Einverstanden“ an den Rand schreibt. Eine Praxis, die sich noch 20 Jahre später Honecker 1973 in einem Verfahren wegen NS-Verbrechen zu eigen machte. In einem Schreiben des für Justiz zuständigen Politbüro-Mitglieds Friedrich Ebert heißt es: „Ich bitte um Kenntnisnahme und um Rückäußerung zu der Absicht der Staatsanwaltschaft, die Höchststrafe (Todesstrafe) in dem bevorstehenden Prozess zu empfehlen.“ Honecker strich „empfehlen“, schrieb „beantragen“ und war – der Prozess hatte noch nicht begonnen – „einverstanden“.

Die DDR war kein Staat, der sich seiner Gegner durch massenhafte Hinrichtungen entledigte wie etwa Nazideutschland. Aber sie nutzte die Todesstrafe als Mittel der Einschüchterung und der Vergeltung. Die Urteile trafen nicht unbedingt Oppositionelle, sondern gerade jene, die funktionieren sollten, seien sie nun Eisenbahner, Bauern, die sich der Kollektivierung widersetzten und ihren Hof anzündeten, Kneipenschläger, die sich versehentlich an einem Parteimitglied vergriffen oder Stasileute wie Teske.

Dem Henker musste das gleichgültig sein. Vielleicht erklärt das, warum Hermann Lorenz gar nicht so genau wissen wollte, wessen Hinterkopf er da vor der Mündung hatte.

Weitere Informationen und Veranstaltungshinweise auf der Homepage des
Bürgerkomitee Leipzig e.V.: www.runde-ecke-leipzig.de

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