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© ullstein - Christian Bach

Karneval: Ausstatter des Frohsinns

Alaaf, Helau und, bitte schön, auch Hejo, es ist Karneval! Und ein Traditionsladen in Schöneberg liefert seit fast hundert Jahren das Equipment dazu.

In den Büchern von C.S. Lewis müssen die Kinder nur in einen uralten Kleiderschrank steigen, um in der wundersamen Welt von Narnia zu landen. Erwachsene haben es da schon schwerer, auch wenn sie sich manchmal danach sehnen, nur durch eine imaginäre Tür zu schlüpfen und die vermeintlich unbeschwerten Freuden der Kindheit noch einmal zu spüren. Beneidet sei der französische Schriftsteller Marcel Proust, der lediglich in eine in Lindenblütentee getauchte Madeleine zu beißen brauchte, um die Bilder seiner Kindheit in dem Dorf Combray auferstehen zu lassen. Doch wer über die Schwelle des unscheinbaren Ladens in der Hauptstraße 18 in Berlin-Schöneberg tritt, wird auf ähnliche Weise in die Vergangenheit katapultiert: Wenn man nach wenigen Schritten die Regale mit schnöden Papierservietten und Plastiktellern für die Party hinter sich gelassen hat, schwindet das Tageslicht und der schmale, lang gestreckte, nicht enden wollende Raum führt in eine magische Phantasiewelt, die man schon verloren glaubte: Rote Pappnasen, falsche Bärte und Brusthaartoupets, Indianermesser, Piraten-Augenklappen, Gruselmasken, Plastikspinnen, Lachsäcke, Pupskissen, Perücken in Rosa, Gelb oder Grün, Scherzkekse mit darunter versteckten Kakerlaken, Knallfrösche und Juckpulver. In einfachen Pappkartons, aufgereiht in alten Holzregalen, mit handgeschriebenen Preisschildern, sind die skurrilen Verkleidungsgegenstände und Scherzartikel zum Greifen nah. Man will alles anfassen, aufsetzen, anziehen, ausprobieren. An der Decke altmodische Papiergirlanden und Mond-Lampions. Willkommen in der Kindheit.

„Wenn man bei uns eintritt, ist man schon im bunten Treiben“, erklärt Geschäftsführer Jörg Reisemann die Philosophie von Deko-Behrendt. „Man ist schon auf der Party.“ Aber eben nicht auf einer modernen Designerparty, wo alles durchgestylt ist und sich die Gäste vor lauter Coolness nicht zu amüsieren trauen. Inmitten der kuriosen bis kitschigen Objekte, die vor allem Spaß verheißen, leben die Kunden ihre Phantasien aus. Wie jetzt zur Faschingszeit: Eine Frau zwängt sich in der einzigen Umkleidekabine mitten im Raum in ein Polizistinnenkostüm mit Minirock – Marke „Police Girl“ – das aber wirklich zu eng ist. Geduldig packt die Verkäuferin das Kostüm wieder ein. Vielleicht passt ja der „Flotte Käfer“ besser. Eine Dame sucht noch Flügel und bekommt nacheinander liebevoll kleine, große, durchsichtige, goldene und schwarze angelegt. Bis die richtigen dabei sind. Ein Paar sucht Dalmatinerkostüme für Mann und Frau samt Gesichtsmasken. Eine Mutter braucht ein Pferdekostüm für ihren Sohn, Größe 104. „Kommen sie bitte hier entlang“, heißt es dann, als ob diese Wünsche das Selbstverständlichste der Welt seien.

Fasching ist für Deko-Behrendt die anstrengendste Zeit im Jahr: „100 Kunden haben 100 Wünsche in 200 verschiedene Größen“, erläutert Reisemann, der seit 12 Jahren den Traditionsladen leitet, selbst aber erstaunlich nüchtern und geschäftsmäßig wirkt. Diese breite Flut von Anfragen sei schon eine „Herausforderung“. Immer wieder wird Nachschub aus dem Lager im Keller und einem kleinen Raum im Hinterhof geholt. Halloween ist wesentlich übersichtlicher: Je gruseliger, desto besser, fasst Reisemann die Wünsche zusammen. Gewählt wird zwischen sieben verschiedenen, abgeschnittenen Plastikhänden, diversen Narben, die auf die Haut aufzutragen sind und natürlich Umhängen und Hexenhüten. Dafür nehmen die Kunden auch Wartezeiten in Kauf. Wer am 31. Oktober an der Hauptstraße 18 vorbeigekommen ist, weiß, wie das aussieht: Lange Schlangen auf dem Bürgersteig, Menschen, die geduldig warten, bis sie Einlass finden. Das kennt man eigentlich nur noch von Fotos, die einen ostdeutschen Konsum zeigen, wo laut Hörensagen Orangen eingetroffen sein sollten. „Wenn wir die Kontrolle über den Laden verlieren, machen wir zu“, sagt Reisemann. Ein Türsteher lässt dann nur Kunden ein, wenn wieder ein bisschen Luft ist. Zu solchen Stoßzeiten unterstützen Aushilfen die zehn Vollzeitkräfte.

Für diesen Erfolg braucht Deko-Behrendt keine feschen Marketingexperten. Der Laden wirkt im Gegenteil wie aus der Zeit gefallen. Die schlichte Schaufensterdekoration – zum Fasching ein Kinder-Indianerkostüm und ein organgefarbener Hippyanzug mit schwarzer Lockenperücke – basiert noch auf dem Grundsatz, dass der Kunde informiert werden soll, welches Produkt er hier kaufen kann. Sie hat mit den verführerischen Kunstwerken in den Vitrinen des KaDeWe, die eher mit Atmosphäre und Lebensgefühl locken, nichts zu tun.

Werbung wird sowieso nicht gemacht. Braucht Deko-Behrendt anscheinend nicht. Der Traditionsladen, von Georg Behrendt 1914 als Geschäft für Schaufensterdekoration und Festartikel gegründet, startete in einem kleinen Raum im Hinterhof. Hier steht in einer Ecke die alte Stanzmaschine, mit der nach dem Krieg noch Preisschilder und Papphütchen hergestellt wurden. Dann kamen weitere Räume hinzu, Wände wurden eingerissen, bis eines Tages, als ein Blumenladen zumachte, die Schaufensterfassade zur Hauptstraße frei wurde. Die dunklen Holzregale stammen mindestens aus den 50er Jahren, so genau weiß das keiner mehr, weil sie irgendwie schon immer da waren. Die weißen Pappkartons, in denen die vielen kleinen Artikel ausgestellt werden, sehen auch aus, als kämen sie aus einem anderen Zeitalter. „Die hegen und pflegen und reparieren wir“, sagt Karin Reisemann, die Ehefrau des Geschäftsführers, die auch im Laden mitarbeitet. Die Plastikgestelle, die jeden Drogeriemarkt beherrschen, kann sie sich hier nicht vorstellen. Der Rechnungsblock ist originales Design von 1952 mit einer hellblauen Zeichnung des Ladens.

Im hintersten Teil des Geschäfts, wo es noch einmal um die Ecke geht, bevor das Paradies abrupt an einer Tür zum Büro endet, sind Dutzende Cowboyhüte, Zylinder, Hexenhüte aufgestapelt, dahinter die etwa 100 verschiedenen Perücken auf Styroporköpfen und darüber hängen die Girlanden und die Lampions, deren Design bisher auch noch nicht überholt wurde. „Das war vor 40 Jahren schon genauso aufgebaut“, weiß Karin Reisemann aus Erzählungen früherer Verkäuferinnen, die bis zum Rentenalter dabei waren. Und auch der Name Deko-Behrendt blieb, trotz wechselnder Eigentümer: Nach dem Krieg war kein Geld für ein neues Schild da - und dann wollte niemand mehr auf den eingeführten Markennamen verzichten.

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Schmuck im Kult. Und für jeden etwas: Pappnasen, Schminke, Flitter.Fotos: promo, p-a dpa, Ullstein, p-a dpa, ddp, Klaas-Spiekermann, Kai-Uwe Heinrich

© Kai-Uwe Heinrich TSP

Doch auch bei den Scherzartikeln scheint die Zeit stillzustehen. Juckpulver hat es anscheinend nicht nötig, dass jemand der kleinen Papiertüte mit braunem Aufdruck einen neuen „Look“ verpasst. „Hundekot mit seitlichem Klebestreifen zum Unterkleben unter den Schuh“ verkauft sich in einer Stadt wie Berlin, wo man täglich Gefahr läuft, in echte Hundehaufen zu treten, erstaunlicherweise auch immer noch. Der Plastikkot ist bei Klassenfahrten und 60. Geburtstagen gleichermaßen beliebt. Beim Konfettisack – 10 Kilo für 35 Euro – hat sich über die Jahrzehnte wohl nur der Preis geändert. Auch die vierfarbigen Luftschlangen zum Werfen scheinen unverändert, seit sie der Berliner Buchbinder Paul Demuth um 1880 eher zufällig erfunden hat.

Damals wie heute machen nur die Ordnungshüter manchem Streich ein Ende: Die Berliner Polizei sprach sich 1887 gegen die vier Meter langen Luftschlangen aus, weil sie den Verkehr gefährdeten. Erst kürzlich wurde der „Zauberzucker“ verboten, aus dem ein Herz hochsteigt, wenn man ihn in Wasser auflöst. Verschluckungsgefahr. Oder die Hinterladerfigur, aus der durch Einstecken einer Pille aus einem Zylinder plötzlich eine Papierwurst oder eine Luftschlange herausschoss, wurde verboten: Schädliche Rauchentwicklung. Aber die Kunden fragen regelmäßig nach diesen Reminiszenzen ihrer Jugend.

Der Laden ist gerade deshalb Kult, weil hier die Zeit still zu stehen scheint. Das hat etwas ungemein Beruhigendes in Zeiten rapiden Wandels. In denen deutsche Traditionsmarken, mit denen Generationen aufgewachsen sind, Insolvenz anmelden: Die Märklin-Eisenbahnen oder die Schießer-Unterwäsche. „Ich war schon als Kind hier und liebe diesen Laden“ sagt eine Mutter, die mit ihrem neunjährigen Sohn nach einem Piratenkostüm sucht. Doch sie kommen gar nicht voran, weil sie immer wieder stehen bleiben: Drei verschiedene Pupskissen in der Preislage von 1,29 bis 3,29 Euro untersucht der Junge gewissenhaft. Die Mutter empfiehlt die billigere Variante zum Aufblasen – „die hatten wir damals auch mal dem Onkel unter den Po geschoben.“ Selten sind zwei Generationen so vereint. Nach dem Mauerfall kamen viele alte Ost-Berliner vorbei und waren begeistert: Ein Ort, an dem sich während der Trennung nichts verändert hat.

„Uralte Berliner kommen mit ihren Kindern, bei Studenten, die viel Zeit zum Feiern haben, spricht es sich rum“, erklärt Reisemann. Doch seine anderen Standbeine sind das Hotel-und Gastronomiegewerbe sowie Cateringfirmen, die Girlanden, Lackfolien und Stoffe für Dekorationen kaufen. Die Fanmeile während der Fußball-WM belieferte Deko-Behrendt ebenso wie die Fernsehproduktion von „Gute Zeiten, schlechte Zeiten“, die schon mal im September Weihnachtsdekoration brauchen. Auch in der Werbebranche ist Deko-Behrendt ein Begriff: Ein Endvierziger im Anzug und Wintermantel aus feiner Wolle fragt nach Plastikeiern, einem Rettungsring und einer Nikolaus-Mitra. Kein Problem. „Wir brauchen das für die Gestaltung einer neuen Website – wo soll ich denn sonst nach so ausgefallenen Dingen fragen“, sagt der Werbefachmann. Schauspielerin Brigitte Mira hat hier schon Theaterschminke eingekauft – ein signiertes Foto an der Wand zeugt davon. Und Ulknudel Cindy aus Marzahn wird hier fündig, wenn es mal wieder darum geht, schlechten Geschmack zu demonstrieren: Auf ihrem Foto, im Selbstversuch mit rosa Perücke, hat sie auch ein für allemal klargestellt: „Ihr seid schuld, dass ich so rumlaufe.“

Und der Straßenkarneval, der mit dem Regierungsumzug aus dem Rheinland Stück für Stück importiert wurde, hat der das Geschäft weiter belebt? Immerhin zieht er mittlerweile Hunderttausende Zuschauer am Sonntag vor dem Rosenmontag auf die jetzige Route zwischen Hardenbergstraße und Ku-Damm. Der Herrscher von Deko-Behrendt schüttelt den Kopf: „Der Berliner mag sich nicht auf Befehl verkleiden, der Berliner feiert, wann er will.“ Zwar kauft der eine oder andere einen Papphut für den Straßenumzug, aber verkleiden tun die Leute sich dafür kaum. Das machen sie für die Privatpartys. Und die Profis der Berliner Karnevalsvereine ordern ihre Ornate in Fachwerkstätten.

Wenn aber der FC Union seine Silvesterparty unter das Motto 70er Jahre stellt, merkt Reisemann das am Ansturm der Käufer, die Hippy-Perücken und überdimensionierte Brillen mit bunten Blumengestellen suchen. Zwar ist der Partykeller, mit Fischernetz dekoriert und Tropf-Kerzen auf der leeren Weinflasche, damals Symbol der zunehmenden Freizeit der Deutschen, aus der Mode gekommen. Aber die Nostalgie für die farbenprächtige und irgendwie im Rückblick fast romantische Zeit besteht.

Ansonsten war dieses Jahr Silvester die Hawaiiparty in – die man eigentlich ebenso wie den Hawaii-Toast, der Höhepunkt exotischer Küche in den 50er Jahren, ausgestorben glaubte. Und die Kunden waren nicht etwa nur im Rentenalter, sondern durchaus „30something“. Der Tischvorhang „Hawaii“ und die Girlande „Tropical“ kamen dabei zum Einsatz.

Bei der Kinder-Faschingsparty sind Indianer, Piraten und Prinzessin noch immer der Renner: „Aber früher hatten wir nur zwei verschiedene Indianer-Kostüme, heute sind es zehn.“ Einige Themen sind hinzugekommen – dank der Übermacht der Hollywood-Filmindustrie: Star Wars, Fluch der Karibik oder Spiderman. Halloween ist seit langem ein anderer Höhepunkt des Feierjahres. Doch bei Deko-Behrendt hat man den Eindruck, dass in Berlin eigentlich jeden Tag gefeiert wird: Jüdischer Karneval, Hochzeiten im Frühjahr und Sommer, Sportereignisse wie die WM, Sommerfeten, Straßenfeste, Geburtstage. Zum Christopher Street Day gehen Perücken und Federboas besonders gut. Zum immer populäreren Oktoberfest reicht in der Hauptstadt auch ein billiges Dirndl aus dem Verkleidungsladen. Und dann gibt es ja noch den Karneval der Kulturen.

Weggefallen sind dagegen die Feste der Laubenpieper. Mit einfachen Holzbuden präsentierte sich Deko-Behrendt nach dem Krieg auf den Sommerfesten der Hobbygärtner und lieferte Girlanden, Tischdekoration und Servietten. Und wurde damit stadtbekannt als Partyausstatter.

Doch zunächst machten noch Pappen, Plakatständer und Drahtgitter sowie Zierkorkrinde, Zellstoffwatte und Perlvorhänge das Gros der Ware aus, die zur Dekoration der Schaufenster dienten: „Das Schaufenster ist das Gesicht des Geschäftes. Freundlich und anziehend soll es dem Passanten einen Blick der Sympathie abgewinnen, den Interessenten zum Eintreten einladen“, heißt es belehrend in einer Reklamebroschüre des Landes wohl aus den späten 50er Jahren. Damals musste man noch dafür werben, dass „Schaufenster-Dekoration ein unmittelbarer Werbequell von besonderer Wirkungskraft“ ist.

Doch im Marketingzeitalter beherzigen augenscheinlich auch immer weniger Geschäfte diesen Grundsatz: „Beim Friseur begnügt man sich heute damit, ein Plakat der Firma Wella aufzuhängen“, resümiert Karin Reisemann die Entwicklung. Und erklärt damit, warum die Dekorationsmaterialien im Sortiment zurückgegangen sind.

Anderes hat dafür überraschenderweise Bestand. Der nüchterne Geschäftsführer Reisemann wirkt selbst fast amüsiert, wenn er auf das „Papphutphänomen“ zu sprechen kommt. „An Silvester kaufen die Leute für 50 Cent einen Papphut, setzen ihn auf und freuen sich“, beschreibt er fast ungläubig einen Dauerrenner im Sortiment. Für die Älteren ist hier sicher Nostalgie am Werke. Der einfache Papphut, der Knallbonbon oder das Juckpulver, das sind die Kindheitserinnerungen. Aber anscheinend ist es auch für die Generation, die mit X-Box und Play-Station groß wird, noch aufregend, „echtes“ Theaterblut aus einem falschen Drakulazahn zu verspritzen. Oder im Computerzeitalter mit einem Geisterstift zu schreiben, dessen Tinte verblasst. Und das ist doch am Ende sehr tröstlich.

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