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Klassik: Lieben Sie Blahms?

Gibt es noch kulturelle Grenzen zwischen Völkern und Kontinenten? Nein, sagt der Markt. Und erobert mit klassischer Musik China.

Die Zenzi strahlt übers ganze Gesicht. Dabei ist das Ambiente draußen vor der Abflughalle in Schanghai-Pudong gar nicht dazu angetan, gute Laune zu verbreiten: Ein Hangar reiht sich hier so eintönig wie riesenschildkrötengleich an den anderen, das Einchecken in der Gruppe ist erfahrungsgemäß mühselig, und die zweistündige Busfahrt aus der City hierher, durch Staus und endlose Steinwüsten und -wälder, sie fühlt sich fast schlimmer an als der 12-stündige Flug in der Economy- Klasse, der vor einem liegt.

Aber die Zenzi strahlt. In Seoul nämlich, der vorletzten Station der Tour, hat sie ein Paar Schuhe entdeckt: Leoparden- respektive Tigerstiefeletten mit High Heels und einem winzigen pinkfarbenen Fellkrägelchen. Sehr chic, sehr witzig. Außerdem freut sich die Zenzi, wieder „nach Hause“ zu fliegen. Sie, die nicht einmal aus München stammt. Und auch nicht Emerenz oder Kreszentia heißt, wie man denken könnte, sondern Zheng. Zheng Hu-Gothoni, in Chengdu/China geboren, Geigerin von Beruf und seit 1987 Mitglied der Münchner Philharmoniker. Früher hätten sie auch mal ein Hannerl im Orchester gehabt, feixt Bratscher Wolfgang Stingl am letzten Abend in der Bar des Royal Meridien im 66. Stock. Das Hannerl kam aus Korea und hieß eigentlich Han-Na. Aber so san’s eben, die Bayern, immer einnehmend, immer gleich die ganze Welt umarmend.

Zwei umjubelte Novemberwochen lang sind die Münchner Philharmoniker mit ihrem Chefdirigenten Christian Thielemann im Fernen Osten unterwegs: Japan, Korea, China. Tokio, Kurashiki, Osaka, Fukuoka, Seongnam, Seoul, Schanghai. Sieben Konzerte in 14 Tagen, sechsmal Strauss, Brahms & Wagner, einmal Bruckner – jene Fünfte, mit der Sergiu Celibidache an der Isar einst den Gasteig einweihte und die auch Thielemann zu seinem Amtsantritt vor drei Jahren wählte. Tokio, schwärmt der Cellist und Orchestervorstand Manuel von der Nahmer, sei das Konzert seines Lebens gewesen, eine Symphonie wie aus einem Guss. Trotzdem mögen die Asiaten Bruckner nicht. He doesn’t sell, heißt es, und das ist nur eine vornehme Umschreibung dafür, dass man mit derartigen ästhetischen Komplexitäten und Tonhochgebirgen nichts anzufangen weiß. In zwei Jahren, wenn die Münchner wiederkommen, wird sich an diesem Umstand kaum etwas geändert haben – die hingebungsvolle Liebe zum Klassischen an sich, zum goldenen Schnitt à la Mozart & Co., der eherne Konservatismus des Publikums, all das dürfte sich treu bleiben. Die Tournee aber war ein solcher Erfolg, dass man nun getrost die eine oder andere sanfte Forderung wird stellen können. Schließlich ist Anton Bruckner Spätromantiker und keine avantgardistische Skandalnudel.

Auch finanziell scheint sich das Unterfangen gelohnt zu haben. Konkrete Zahlen werden zwar nicht verraten, aber angesichts einer Gesamtauslastung von 82,25 Prozent bei über 12 000 Sitzplätzen und Ticketpreisen von bis zu 300 Euro kann man sich an fünf Fingern abzählen, dass die Musiker mit mehreren hunderttausend Euro heimgekehrt sein dürften. Da sind dann schon mal ein Paar lustige koreanische Stiefelchen drin oder eine echt chinesische Perlenkette für die Gattin nebst passenden Ohrringlein.

In China, heißt es, läge die Zukunft der klassischen Musik, mehr noch als in den anderen asiatischen Staaten. Und das behaupten alle, ob sie nun Simon Rattle oder Kurt Masur heißen, ob sie wie die Berliner Klavierbauerfirma Bechstein den Produktionsstandort Schanghai preisen oder sich wie das englische Musikmagazin „Grammophon“ in der Mega-Metropole am Huangpu gerade eine kleine Redaktion eingerichtet haben. Phänomene wie der chinesische Weltwunderpianist Lang Lang sind also nur die Spitze eines unermesslichen Eisberges. Was aber bedeutet diese Art Zukunft? Wonach sucht die westliche Klassik im fernen Reich der Mitte? Und was erhofft oder ersehnt sich dieses von alten Meistern wie Bach oder Beethoven – und überhaupt von der Einübung in ein Ritual, das verlangt, für zwei Stunden und länger sein Handy auszuschalten, weder zu essen noch zu trinken noch Kaugummi zu kauen und obendrein stillzusitzen, während vorne allerlei anstrengend fremde Töne erklingen?

Die Chinesen sind ein ausgesprochen musikalisches Volk. Die Musikpsychologin Diana Deutsch hat dies unlängst auch statistisch untermauert: Von den 88 Erstsemestern einer Pekinger Musikhochschule hatten 52 Prozent das absolute Gehör (von den 115 eines Konservatoriums im Staate New York hingegen nur magere 7 Prozent). Die Gründe liegen in der Sprache. Das Sinitische nämlich gehört zu den Tonsprachen: Die Bedeutung des einzelnen Wortes speist sich nicht nur aus der Semantik oder Morphologie, sondern auch und vor allem aus der Tonhöhe. So kann „Ma“ Mutter oder Hanf, Pferd oder schimpfen heißen.

Gegen die These von der gleichsam angeborenen Musikalität spricht die chinesische Grammatik. Deren Syntax – nach Humboldt/Schlegel – gilt als „analytisch- isolierend“, das heißt, Wörter werden durch ihre Stellung im Satz zueinander in Beziehung gesetzt („Er jüngerer Bruder morgen gehen Peking.“). Jede noch so simple klassische Etüde hingegen schafft Hierarchien, indem sie ihre Wörter – Töne, Harmonien – beugt. Was also hört der Chinese, wenn er Beethoven hört, was begreift er? Das „Richtige“? Etwas gänzlich anderes?

„Jeder neue Einfluss hält die Kunst lebendig“, pflegt Simon Rattle in buddhistischer Manier auf Fragen wie diese zu antworten – und erstickt so alle politisch inkorrekten Überlegungen im Keim. Überlegungen, die davon ausgehen, dass es kulturell tradierte Grenzen zwischen den Völkern und Kontinenten gibt, die nicht mal eben durch massenweisen Drill oder bildungswütige Konzertbesuche auszumerzen sind. Von den Effekten und Affekten der Peking-Oper versteht der gemeine Europäer schließlich auch nichts (und dass der gemeine Chinese von seiner Tradition inzwischen ebenso wenig weiß, spitzt die Sache nur weiter zu).

Besagte Überlegungen freilich sehen auch, wie sehr der Klassikmarkt im Westen daniederliegt – und wie egal es seinen Machern auf dem Marsch gen Osten sein dürfte, inwieweit der einzelne Zuhörer unten im Saal profitiert: Hauptsache, er zahlt. Gehobener Raubtierkapitalismus im Namen der Kunst? Der Neoliberalismus hat immer recht?

Wer jedoch sieht, wie emphatisch gerade das chinesische Publikum reagiert, mit welch hoher Konzentration es dem Geschehen folgt, wie exakt es offensichtlich um die Besonderheiten der blutvollen Thielemann’schen Interpretation weiß und in welch hemmungsloses Indianerjubelgeheul es am Ende ausbricht – dem gerät seine notdürftig aufgestellte Theorie vom gefräßigen Westen und dem seelenlosen Osten rasch wieder ins Wanken. Und überhaupt: Warum sollte der moderne Mitteleuropäer, der den Kontakt zu seiner musikalischen Tradition mindestens so existenziell eingebüßt hat wie der Chinese den zur Peking- Oper, plötzlich der aufgeklärtere, wissensmächtigere Mensch sein? Nur weil er sich im Besitz einer Kultur wähnt, nach der Fremde, Nicht-Abendland-Bewohner sich verzehren?

Zu Zeiten von Rattles Vorvorgänger im Amte des Chefs der Berliner Philharmoniker lagen die Dinge noch etwas anders. Vielleicht stand Herbert von Karajans frühe Reise nach Peking 1979 aber auch nur unter einem besonders unguten Stern. Für die eigens gecharterte Boeing 747 jedenfalls, und damit fing es an, fand sich keine passende Gangway, das eilig installierte Provisorium knickte weg, zwei Musiker wurden schwer verletzt und mussten in die Schweiz ausgeflogen werden – wer traute damals schon der chinesischen Medizin. Die Konzerte schließlich fanden in einer heruntergekommenen Sporthalle statt, der Maestro drohte mehrfach mit sofortiger Abreise, die Bedingungen waren unsäglich.

Dies alles hat sich in den vergangenen 30 Jahren grundlegend gewandelt. Unter Chinas Politikern gilt der Umgang mit klassischer Musik längst als Nachweis für Progressivität, Gastspiele aus dem westlichen Ausland haben maximalen Prestigewert. Entsprechend gibt sich (fast) alles, was in der Branche Rang und Namen hat, auch zwischen Peking und Hongkong die Klinke in die Hand, und über mangelhaften Luxus beklagt sich heutzutage keiner mehr. Die neue chinesische Bourgeoisie wiederum treibt mit Hilfe von Bach & Mozart eine Art Gegenkult zum sich überlebenden Kommunismus. 80 Millionen Kinder lernen derzeit in China ein Instrument, weiß die Statistik, allein 13 Millionen davon spielen Klavier. Vielleicht sind es aber auch nur 20 oder weit über 100 Millionen, die täglich üben und üben und nochmals üben, um eines Tages so gut zu werden wie Lang Lang oder Yundi Li und ein irrwitziges Geld zu verdienen und irrwitzige 150 Konzerte im Jahr zu geben. Verlässliche Daten hierüber existieren nicht.

Was aber treibt diese vielen jungen Chinesen, von denen die Welt noch gar nichts weiß, ausgerechnet in die Arme einer Musik, die vor 100, 200 Jahren und mehr komponiert wurde, fernab in den Metropolen des alten Europa? „Gut ist, wer etwas gut nachmachen kann“, antwortet die Dolmetscherin in Schanghai, „das lernen wir in der Schule.“ Sie selbst hat in Wien Wirtschaft studiert. Schöpferisch, nein, kreativ, das seien die Chinesen nicht, und das eigentlich Chinesische an dieser Aussage ist wohl, dass die junge Frau nichts Ungeheuerliches daran finden kann. Musikmachen als Mimikry? Aus Lust an der Perfektion, aus Ehrfurcht vor einer Tradition, aus Sehnsucht nach einer Form der künstlerischen Entäußerung, die man sich selbst niemals anmaßen würde?

Die Chinesen, klagt die Autoindustrie, würden deutsche Nobelkarossen kaufen, einzig um sie zu zerlegen und nachzubauen. Eine höchst effektive Vorgehensweise, oft hart am Plagiat. Im Falle des Zhonghua M1 etwa, des chinesischen 5er-BMW, führt dies dazu, dass die Limousine mit einem Mitsubishi-Motor fährt, sich immerhin eines Giugiaro-Designs und echten BMW-Lacks rühmen darf – und gleichwohl inklusiver aller Extras höchstens 20 000 Euro kostet. Ein Menetekel für die Musik? Wir üben so lange, bis wir besser sind als ihr – denn billiger, williger sind wir sowieso?

Man darf sich freilich nicht täuschen: Die klassische Musik gibt in China nicht erst den Ton an, seit das Schwellenland im Zeichen der Globalisierung ökonomische Begehrlichkeiten weckt. Die Tradition reicht vielmehr bis ins 17. Jahrhundert zurück, als ein jesuitischer Missionar dem Kaiser ein Klavichord schenkte – ohne durchschlagenden Erfolg. Noch Kaiser Qianlong nämlich erklärte dem britischen König George III., dass China den Handel mit England nicht nötig habe: Es besitze alles, was ein zivilisiertes Volk brauche. Dazu gehört erstaunlicherweise schon früh die klassische Musik. Das Shanghai Symphony besteht seit 1890, das Hong Kong Philharmonic seit 1895. Die Konservatorien in Peking und in Schanghai werden 1950 gegründet, ihre Lehrer orientieren sich an Budapest und Moskau. Selbst Mao Tsetung unterstützt anfangs die Beschäftigung mit westlicher Klassik, jedenfalls so lange jene von Brüdern aus der damaligen Sowjetunion auch klassenkämpferisch korrekt unterrichtet wird. Die Kulturrevolution der sechziger Jahre bricht mit diesem Erbe: Musikinstrumente werden öffentlich verbrannt, Professoren und Künstler misshandelt, verschleppt, ermordet. Nichts außer ihrem Blut soll an die alten feudalistisch-bürgerlichen Werte erinnern.

Wie wenig dies letztlich gelungen ist, zeigt nicht nur die Tatsache, dass Deng Xiaoping sich 1997 zu den Klängen des Mozart-Requiems bestatten lässt. Klassik in China – eine Wahlverwandtschaft?

Heute existieren in China 30 professionelle Symphonieorchester, und wenn das spektakuläre „Ei“, das National Grand Theatre in Peking, seine Kinderkrankheiten eines nahen Tages überwunden haben wird, dann ist das Musikleben im Fernen Osten um ein futuristisches Symbol und eine Attraktion reicher. Kurz und gut: Superbegabungen wie Lang Lang oder Yundi Li fallen auch hier nicht vom Himmel. Als Vorbilder indes sind sie nicht ungefährlich. Es ist ein Phänomen (und historisch ein Ausfluss der Kulturrevolution), dass nahezu jeder chinesische Musikschüler heute Solist werden möchte. Kammermusik gilt als verpönt, ins Orchester geht nur, wem nichts anderes übrig bleibt. Ohnehin kann von einer stabilen kulturellen Infrastruktur (noch) keine Rede sein, die Möglichkeiten, die Heerscharen an ausgebildeten Talenten sowohl ausreichend zu beschäftigen als auch zu bezahlen, sind erbärmlich. Im sündteuren Nachbarland Korea hat dieses eklatante Missverhältnis dazu geführt, dass das Ansehen der klassischen Musik bereits wieder im freien Fall begriffen ist: Konzerte zu veranstalten gilt als nahezu unerschwinglich. Folge: Die einheimischen Musiker verarmen und veröden, was bleibt, sind ein paar glamouröse Galas für die Oberschicht.

Diese Gefahr, glaubt man Long Yu, besteht in China nicht. Der Dirigent und alerte Leiter des Beijing-Festivals ist mit seinen Anfang vierzig so etwas wie der amtierende „Mr. Classic“, ein später Wiedergänger des Machtmusikmenschen Herbert von Karajan. Yus Festival wird inzwischen mit drei Millionen Dollar jährlich subventioniert, und seine Visionen haben es in sich: „Mir geht es darum, das System zu verändern, die Klassik tief in der chinesischen Nation zu verwurzeln.“ Mehr Eigenes also und weniger zoologische Importe. Was ihn treibt? Die Liebe zur Musik, natürlich. Und das Leben: Sein Großvater war nicht nur Kompositionsprofessor am Konservatorium von Schanghai, sondern, wie so viele, auch Opfer der Kulturrevolution. Da gibt es etwas gutzumachen, in beide Richtungen.

Die aktuellen Bemühungen jedenfalls sind nicht zu übersehen. So schmückt ein riesiger Berg Bananen das Buffet nach dem letzten Konzert in der Shanghai Concert Hall. Vitamine in gelb. Und einige Musiker rauschen am nächsten Morgen mit dem Transrapid nach Pudong. 350 Sachen, so werden sie daheim in München ihrem Dienstherrn, dem Ober- Transrapid-Gegner Christian Ude, vorschwärmen – da ist selbst Wagner unter Thielemann nichts dagegen.

Christine Lemke-Matwey

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