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Medizinskandal: Tödliche Lüge

Es ist der größte Medizinskandal in der Geschichte der USA: die Tuskegee-Studie. 400 mit Syphilis infizierte Schwarze wurden 40 Jahre lang absichtlich nicht ärztlich behandelt. Erst 1972 kam die Wahrheit ans Licht.

Ein bisschen gewundert hatte sich Charlie Pollard schon über diese Lady, die da plötzlich vor ihm auftauchte, während er die Kühe zum Viehmarkt trieb. Warum hatte sie ihm all diese Fragen gestellt, über die Klinik und die Ärzte? Verstanden hat er die ganze Geschichte erst, als er sie am 26. Juli 1972 in der „Birmingham News“ las. Sein angeblich „schlechtes Blut“, die weißen Pillen, die nur kurz seine Schmerzen betäubt hatten, die Rückenmarkspunktion, nach der er zehn Tage lang kotzend und mit geschwollenem Kopf im Bett gelegen hatte, alles ergab plötzlich einen Sinn. Sie hatten ihn belogen, die Leute von der amerikanischen Gesundheitsbehörde. Seit über 40 Jahren hatten sie ihn als Versuchskaninchen missbraucht.

Einen Tag später hielt Charlie Pollard seinen Hut in den großen, schwieligen Händen, mit denen er seit vielen Jahren Viehzäune repariert und Kühe zum Markt getrieben hatte. Unangemeldet stand er im Büro von Fred Gray, Rechtsanwalt in Tuskegee, Alabama, der schon Martin Luther King vertreten hatte und Rosa Parks, die Frau, die sich 1955 geweigert hatte ihren Platz im Bus für einen Weißen zu räumen.

Der schwarze Farmer, 67 Jahre alt, atmete tief durch und fragte Gray, ob der denn die „Birmingham News“ gelesen hätte. Dann sagte Pollard: „Ich bin einer der Männer aus der Zeitung.“ Und er zeigte auf den Bericht über eine medizinische Studie, die „Study of Untreated Syphilis in the Male Negro“. Charlie Pollard war einer von 400 Schwarzen, die man 40 Jahre lang ahnungslos ihrer Krankheit überlassen hatte, der Syphilis. Und alles nur, weil die Ärzte von der Gesundheitsbehörde wissen wollten, was diese Krankheit im Körper ihrer Opfer anstellen würde.

Auch Fred Gray verstand: Man hatte diesem Mann und seinen Leidensgefährten die Behandlung verweigert, hatte ihre Grundrechte verletzt, sie in ein medizinisches Experiment verwickelt, wie es dieses Land noch nicht gesehen hatte. Dafür sollten sie nun zahlen. Gray strengte einen Prozess gegen die amerikanische Regierung an.

Was die Ärzte überhaupt antrieb, ist nicht nachvollziehbar. Zumal die Syphilis und ihre grausigen Folgen schon seit Jahrhunderten bekannt waren. Seit 1905 ließ sich auch ihr Erreger Treponema pallidum nachweisen. Katharina die Große, Heine, Gauguin – sie alle hatten gelitten unter der Seuche, die im ersten Stadium oft gar nicht bemerkt wird. Denn ungefähr drei Wochen nach der Ansteckung erscheint an der Stelle, an der die Bakterien in die Haut oder Schleimhaut eingedrungen sind, ein schmerzloses Geschwür, das auch ohne Behandlung nach rund einem Monat wieder abheilt.

Im zweiten Stadium glauben viele Syphiliskranke, sich eine schwere Grippe eingefangen zu haben. Der Patient fühlt sich schlapp, hat Fieber und geschwollene Lymphknoten. Ein Hautausschlag kann auftreten, der von alleine wieder verschwindet und deshalb häufig ignoriert wird. Nun kann es zu einer Latenzzeit kommen, in der der Betroffene beschwerdefrei lebt, aber weiter ansteckend ist. Nach einigen Jahren befällt die Syphilis die inneren Organe: Überall im und am Körper können entzündliche Wucherungen auftreten und Gewebe zerstören, der Gaumen bricht womöglich durch, die Aorta kann sich wuchernd durch den Brustkorb fressen.

Wer nun einen Herzinfarkt erleidet, kann sich sogar noch glücklich schätzen: Im vierten und letzten Stadium der Syphilis, in dem die Hirnhäute und Nervenbahnen betroffen sind, leiden die Patienten an Wahnvorstellungen, Schmerzanfällen und Lähmungen. Dieses Stadium führt unbehandelt zum Verlust des Verstandes, schließlich zum Tod.

Während der Schwangerschaft kann eine Mutter ihr Baby anstecken. Totgeburten sind die Folge, oder das infizierte Kind leidet an Hepatitis, Schwerhörigkeit oder Lungenentzündung. Es kann freilich bei der Geburt auch noch keine Symptome zeigen und erst Jahre oder Jahrzehnte später schwer erkranken.

Da die Männer zu keinem Zeitpunkt darüber informiert worden waren, dass sie an Syphilis litten, hatten nicht wenige von ihnen ihre Frauen angesteckt, die wiederum Kinder mit angeborener Syphilis zur Welt brachten. Das Leid, dass sie über die Männer und deren Familien gebracht hatten, nahmen die Verantwortlichen der Studie in Kauf.

Dabei war die Untersuchung ursprünglich unter philanthropischen Vorzeichen gestartet: Booker T. Washington, Direktor des Tuskegee Instituts, einer Hochschule für Schwarze, und der wohlhabende Julius Rosenwald, Gründer des Handelsunternehmens Sears, Roebuck & Company, planten in den späten 20er Jahren ein Gesundheitsprogramm für Schwarze in Macon County, einem Landkreis von Alabama, dem „Cotton State“. Denn Krankheiten wie Tuberkulose, Syphilis und Malaria waren durch die jämmerlichen Lebensbedingungen der Afroamerikaner weit verbreitet. Rosenwald hatte zuvor schon Selbsthilfeinitiativen für schwarze Südstaatler unterstützt. Doch als er durch den Börsenkrach 1929 sein Vermögen verlor, konnte er das Gesundheitsprogramm in Tuskegee nicht weiter finanzieren.

Der Public Health Service, eine Behörde im US-Gesundheitsministerium, schaltete sich ein. Aber im Gegensatz zu Rosenwald glaubte man beim PHS, dass Schwarze sowieso kaum zivilisiert seien und man die Syphilis unter ihnen niemals auslöschen könne. „Vielleicht“, so hatte der PHS-Arzt Thomas W. Murell schon 20 Jahre zuvor in einem Aufsatz geschrieben, „wird hier, in Verbindung mit der Tuberkulose, das Ende des Negerproblems liegen. Die Krankheit wird vollenden, was der Mensch nicht kann.“

Obwohl die Syphilis bereits zur Genüge erforscht war, gingen die Ärzte davon aus, dass die Krankheit bei Schwarzen andere Auswirkungen habe als bei Weißen: Bei Weißen schädige die Geschlechtskrankheit vor allem das Gehirn und die Nervensysteme, bei Schwarzen dagegen die Herzgefäße – aufgrund ihrer unterentwickelten Gehirne, die 1000 Jahre hinter denen der Weißen zurückstünden. Dass sich unter Schwarzen wegen des angeblich besonders umtriebigen Sexualverhaltens Geschlechtskrankheiten schnell verbreiten, davon war man Anfang der 30er Jahre beim PHS überzeugt – dabei war erwiesen, dass es sich bei 61 Prozent der Syphilisfälle unter Schwarzen in Macon County um eine nichtsexuell übertragene Syphilis handelte. Trotzdem: „Die Neger“, so erklärte einer der Ärzte, seien nun mal „eine notorisch syphilisdurchweichte Rasse“, sexuell hyperaktiv und verdorben, sobald sie die Pubertät erreichen.

Amerika litt unter der Großen Depression, als die Studie 1932 begann. Ungefähr 15 Millionen Menschen hatten keine Arbeit. Die Industrieproduktion in den USA war seit dem Wall Street Crash im Jahre 1929 um fast die Hälfte gesunken, ebenso wie das landwirtschaftliche Einkommen. In Macon County lebten 27 000 Schwarze – die Hälfte von ihnen unterhalb der Armutsgrenze. Obwohl die Sklaverei seit fast 70 Jahren abgeschafft war, wurden Schwarze immer noch ausgebeutet: Auf den Baumwollfeldern, die sie teuer pachteten und deren Ertrag sie zu festen Sätzen an den Landbesitzer abgeben mussten, arbeiteten sie von früh bis spät unter sengender Hitze – Erwachsene genauso wie Kinder, denn kaum eine Familie konnte es sich leisten, auf eine Arbeitskraft zu verzichten. Ohnehin gab es in den nach Hautfarbe getrennten Schulen für Schwarze nurr die Grundausstattung, so dass sie oft nicht richtig lesen und schreiben konnten. Versuchten sie aus ihrer Misere zu fliehen, wurden sie wie Leibeigene gejagt, eingesperrt, nicht selten verprügelt oder am nächsten Baum aufgeknüpft – ohne Konsequenzen für die weißen Täter.

Fast kein Schwarzer dort war jemals medizinisch versorgt worden. „A poor nigger has a hard time“, so beschrieb es ein Baumwollpflücker. Ohne Geld keine Behandlung. „Du musst das Geld gleich auf den Tisch legen oder du liegst einfach da und kratzt ab.“ Als der Public Health Service auf den Feldern und bei Gottesdiensten Handzettel verteilte, in denen „colored people“ eine kostenlose medizinische Behandlung angeboten wurde, kamen Hunderte Landarbeiter. Einer dieser Männer war Charlie Pollard. Man nahm ihnen Blut ab, schaute ihnen in den Rachen und erklärte den Schwarzen, dass sie an „bad blood“ litten, eine schwammige Bezeichnung für allerlei Maladitäten. Als „Behandlung“ verabreichten die Ärzte Vitamine und wirkungslose Mengen des damals gängigen Syphilismedikaments Salvarsan. Betreut wurden die Teilnehmer von der freundlichen schwarzen Krankenschwester Eunice Rivers, die man extra für diese Studie eingestellt hatte.

Nach dieser ersten Untersuchung beschlossen die Mediziner, bestimmte Teilnehmer für ihre Syphilisstudie zu suchen. Männer wollten sie, weil man an deren Genitalien die Symptome der Geschlechtskrankheit besser erkennen kann als bei Frauen. Außerdem sollten die Männer mindestens 25 Jahre alt und die Syphilis bereits in einem fortgeschrittenen Stadium sein.

Die Gesundheitsbehörde verschickte Aufforderungen an die männlichen Teilnehmer ihrer Gratisuntersuchung, die glaubten, an „schlechtem Blut“ zu leiden: „Jetzt bekommen Sie die letzte Chance auf eine zweite Untersuchung… Denken Sie daran, das ist Ihre letzte Chance auf eine kostenlose Spezialbehandlung!“

Und wieder vertrauten Hunderte Männer den Ärzten. Die „Spezialbehandlung“ bestand in jener äußerst schmerzhaften Rückenmarkspunktion, wie sie auch an Charlie Pollard durchgeführt wurde. Denn in der Rückenmarksflüssigkeit lässt sich das Ausbreiten der Syphilis besonders gut nachweisen. Pollard wurde wie den anderen 399 syphiliskranken Männern, die man für die Studie ausgewählt hatte, nur Aspirin, ein „Frühlings-Tonic“ genanntes Präparat und Grippemittel verabreicht. 200 gesunde Männer dienten als Vergleichsgruppe, die man der gleichen Prozedur unterzog. Und alle Ärzte im Umkreis wurden angewiesen, die Kranken nicht zu behandeln.

Den Zweck der Studie beschrieb Oliver C. Wenger, einer der führenden Köpfe des Programms, ein Jahr später in einem Brief an seinen Kollegen Raymond Vonderlehr: „Wir haben kein weiteres Interesse an diesen Patienten, bis sie sterben.“ Um die Auswirkungen der Syphilis im Körper genau studieren zu können, hielten die Ärzte Autopsien für notwendig – bei den Infizierten genauso wie bei der Kontrollgruppe, deren Leichen die Mediziner zum Vergleich öffnen wollten. Wenger warnte Vonderlehr, man müsse aufpassen, dass die Farbigen nichts von den Autopsieplänen mitbekämen, da sonst jeder „Darkey“, wie es abfällig hieß, Macon County verlassen würde.

Um die Männer im Todesfall schnell ins Krankenhaus bringen zu können, machte Eunice Rivers häufig Hausbesuche und achtete darauf, ob jemand schwerkrank im Bett lag. Den Teilnehmern versprach man 50 Dollar für eine anständige Beerdigung, die sie sich nie hätten leisten können. Nach deren Tod überredeten die Ärzte die Angehörigen zu einer „Operation“ des Verstorbenen.

De facto führten die Ärzte Autopsien durch, bei denen auch Eunice Rivers zugegen war, jene Schwester, die sich die Sorgen und Ängste der Männer anhörte, vielen von ihnen eine tröstende, vertrauenswürdige Freundin war. Oft chauffierte die Krankenschwester die nichts ahnenden Männer, die dabei fröhlich ihren Nachbarn zuwinkten, in ihrem schwarzen Chevrolet zu den Untersuchungen und zurück in ihre Hütten.

So gut kümmerte man sich um die Männer, dass der Zweite Weltkrieg an ihnen vorüberzog: In den 40er Jahren wurde Penicillin als Wunderwaffe gegen Syphilis entdeckt, doch die betroffenen Schwarzen aus Macon County wurden nicht kuriert. Im Gegenteil: Um zu verhindern, dass rekrutierte Teilnehmer bei der Armee behandelt werden konnten, stellte der PHS sie nach der Musterung vom Wehrdienst frei.

Und Nurse Rivers gab so sehr auf die Patienten Acht, dass sie einem Teilnehmer namens Herman Shaw einmal folgte, als der mit dem Bus von Tuskegee ins mehr als 200 Kilometer entfernte Krankenhaus nach Birmingham gefahren war – er war versehentlich zur Behandlung dorthin geschickt worden. Doch die nette Schwester spendierte ein Frühstück und konnte Shaw davon überzeugen, dass er nur in Tuskegee behandelt werden durfte.

Die Todesrate bei den syphiliskranken Teilnehmern war Ende der Vierziger doppelt so hoch wie in der Kontrollgruppe. Wenger erklärte dazu 1950 auf einem Seminar: „Wir wissen jetzt, wo wir vorher nur vermuten konnten, dass wir zu ihrem Leid beigetragen und ihr Leben verkürzt haben.“ 1958 erhielten diejenigen, die seit Anfang an dabei waren, 25 Dollar. In all den Jahrzehnten, die die Studie andauerte, äußerten immer wieder Mediziner Bedenken, sie weiterzuführen. Ihre Ansichten wurden ignoriert.

Bis Peter Buxtun, ein junger ehemaliger PHS-Mitarbeiter, nach jahrelangen vergeblichen Protesten im Juli 1972 eine befreundete Journalistin informierte und der „Washington Evening Star“ mit seinem Bericht am 25. Juli eine Lawine auslöste, einen Tag später berichteten die Zeitungen des ganzen Landes.

Charlie Pollard und die anderen sieben, die das Experiment 40 Jahre lang überlebt hatten, wurden 1973 mit je 37 500 Dollar entschädigt. Angehörige erhielten 15 000 Dollar, insgesamt bewilligte die Regierung zehn Millionen – Fred Gray hatte 1,8 Milliarden Dollar verlangt.

Vor zehn Jahren entschuldigten sich Präsident Bill Clinton und sein Vize Al Gore im Rahmen einer Zeremonie im Weißen Haus bei den Teilnehmern der Tuskegee Syphilis Study und ihren Familien. Charlie Pollard und Herman Shaw waren unter ihnen. An der Tuskegee University, dem früheren Tuskegee Institute, wurde zwei Jahre später das National Center of Bioethics in Research and Health Care eingerichtet.

Doch die Tuskegee Syphilis Study, in den USA ein Sinnbild der Behandlung von Schwarzen, hierzulande nahezu unbekannt, wirkt 35 Jahre nach der öffentlichen Aufdeckung des Medizinskandals immer noch nach. Viele Afroamerikaner misstrauen dem Gesundheitssystem. Nur acht Prozent aller Knochenmarkspender in den USA sind schwarz. Zu groß ist die Angst als Versuchskaninchen missbraucht zu werden. Und tatsächlich berichtet die Medizinjournalistin Harriet Washington in ihrem 2006 erschienenen Buch „Medical Apartheid“ über weitere Fälle, in denen Schwarze unnötigen Sterilisationen und medizinischen Tests unterzogen wurden.

Die Verantwortlichen der Tuskegee Syphilis Study kamen ohne Strafe davon. „All unsere Studien“, antwortete John C. Cutler, einer der Ärzte, 1988 im „American Journal of Public Health“ auf den Brief eines Kritikers, „führten zu den Erfolgen des nationalen Kontrollprogramms für Geschlechtskrankheiten.“ Worin der Erfolg denn genau bestanden hätte, führte Cutler allerdings nicht aus.

Christine Knust

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