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Geschichte: Sie nannte sich Mata Hari

Auf der Bühne ließ sie alle Schleier fallen. Im wahren Leben hütete sie ein Geheimnis bis zuletzt: ihre Identität. Im Oktober 1917 wurde die Holländerin Mata Hari erschossen – wegen Spionage für Deutschland.

Sie tanzt. Statt Arme hat sie Wellen, ihr Leib ist der einer Schlange, und auch ihr Kopf ist der einer Schlange. Später, im Krieg, wird man es jedenfalls so sehen und das tun, was Schlangenköpfen gebührt. Abschlagen! Tänzerin und deutsche Spionin, in Paris zum Tode verurteilt im Oktober 1917. Codename H 21. Unzählige Bücher und Filme verklären Mata Haris Legende. Wer war sie wirklich?

Vorerst denkt keiner etwas Böses angesichts der wiegenden, fast lauernden Bewegungen ihres Kopfes. Und jedes Mal, sekundengenau bevor das leicht zu langweilende Publikum denken kann: „Eine Schlange, nun gut, was weiter?“, fällt ein Schleier. Kein Zweifel, die Schlange häutet sich. Hat man je so auf die letzte Haut gewartet? Ein Pariser Salon 1904. Noch heißt Mata Hari nicht Mata Hari.

Striptease? Nicht dieses Wort durchzieht das Gemüt der Pariser Aristokraten. Einerseits, weil sie nie diese verachtungswürdige Sprache des verachtungswürdigen Volkes benutzen würden. Aber mehr noch, weil selbst das frivole „tout Paris“ beim Anblick der Tänzerin ein religiöser Schauer überläuft. Was die handverlesenen Gäste eines Salons hier sehen, ist in Wahrheit ein Gottesdienst. Was sie hier sehen, ist – streng genommen – nur für die Augen eines Gottes bestimmt. Für Schiwa, Gott des Hasses und des Todes!

„In Wahrheit.“ „Streng genommen.“ – Das sind sehr gedankenlose Worte, wenn von Mata Hari die Rede ist. Denn die Wahrheit ist in Wahrheit und streng genommen für die Frau, die bald Mata Hari ist, eine völlig irrelevante Kategorie. Die macht lebensuntauglich und betrügt um die Blüten des Daseins. Jeder im Saal glaubt, ein Mädchen tanzen zu sehen, das in einem indischen Tempel aufgewachsen ist. Aber, das soll sie selbst sagen: „Ich wurde im Süden Indiens geboren, an der Malabarküste, in einer heiligen Stadt mit dem Namen Jaffuapatam, in einer Familie der heiligen Kaste der Brahmanen.“

Was, in Jaffuapatam? In Leeuwarden, in der Provinz Friesland, da, wo Holland am plattesten ist, wurde sie 1876 geboren. Wenn diese Aristokraten eine Ahnung hätten, dass hier gewissermaßen das Käsemädchen Antje tanzt. Weiß sie noch, wer sie wirklich ist, als sie nach dem Schleier der Schönheit den Schleier der Jugend ablegt und dann den dritten Schleier vor ihrer Brust, den „Schleier der Wollust und der Keuschheit“? Wollust und Keuschheit. Was für sinnige Identitäten diese Inder doch kannten! Die Tänzerin mag das. Wie langweilig ist doch das Entweder- oder. Wollust und Keuschheit! Friesenmädchen und Tempeltänzerin! Nichts geht über indische Logik.

„Mein Vater, Suprachetty, wurde wegen seines barmherzigen und frommen Wesens Assivardam genannt.“ Nun, das stimmt nicht ganz. Erstens hieß er nicht Suprachetty, sondern Adam Zelle, weshalb auch seiner Tochter der beklagenswerte und etwas klaustrophobische Nachname „Zelle“ zufiel. Zweitens nannte kein Mensch ihn „Assivardam“, sondern nur „Zelle, der Verschwender“. Das lag daran, dass Adam Zelle Hutmacher war, sich aber in der Rolle eines Barons viel wohler fühlte. Hutmacher und Baron! Er verdiente sein Geld also langsam wie ein Hutmacher und gab es schnell aus wie ein Baron. Zu ihrem sechsten Geburtstag schenkte er Margaretha eine Kutsche, von Ziegen gezogen. Noch 50 Jahre später sprach man in Leeuwarden von dem kleinen Mädchen mit der dunklen Haut, den mandelförmigen Augen und dem schwarzen Haar auf dem „bokkewagen“. Wie eine orientalische Prinzessin sah sie aus.

Aber wo kamen bloß diese Augen, dieses Haar und die dunkle Haut her im plattesten Friesland? Solange der Hutmacher und seine Frau zurückdenken konnten, hatten Friesen Friesen geheiratet. Margaretha Gertrude sah sich um und erblickte: lauter Strohköpfe. Die waren doch viel zu blond, als dass aus ihnen etwas werden könnte. Und die Hutmachertochter tanzt den Tanz der sieben Schleier, 1904 in Paris. Noch denkt sie nicht daran, einmal Spionin zu werden. Aber das Grundwissen für diesen Beruf besitzt sie längst: Viele Identitäten sind besser als eine!

Dann fällt der letzte Schleier, das Symbol ihrer Leidenschaft, das Symbol ihrer selbst. Nackt, ganz sie selbst, steht sie vor Schiwa – also vor allem vor den Augen der haute volée. Ganz sie selbst? Keine künftige Spionin ist jemals ganz sie selbst. Die nackte Tatsache trügt. Den letzten Schleier, den ihrer Herkunft, wird Margaretha Gertrude freiwillig nie fallen lassen.

„Meine Mutter, erste Bajadere des Tempels von Randa Swany, starb mit 14 Jahren bei meiner Geburt. Nachdem die Priester sie eingeäschert hatten, adoptierten sie mich und nannten mich Mata Hari.“ Nein, ihre Mutter ist gar nicht gestorben, höchstens für Margaretha Gertrude. Denn die biedere Friesin hätte ihre Tochter nie in das feinste Mädchenpensionat Leeuwardens gegeben, das sich der Hutmacher gar nicht leisten konnte. Die Kinder der Eltern, die es sich leisten konnten, erschienen in der geforderten Internatskleidung. Nur Margaretha trug ihr rotes Samtkleid, gegen das ihre Mutter wohl auch gewesen wäre. Die Tochter: „Mata Hari, das bedeutet Auge der Morgenröte. Sobald ich ein paar Schritte laufen konnte, sperrten sie mich in dem großen unterirdischen Saal der Pagode des Schiwa ein, um mich in die heiligen Riten des Tanzes einzuweihen.“

Schiwa ist ein böser Gott, er hilft nicht jedem. Die Pariser feine Gesellschaft aber hat sich schon entschieden. Sie hilft. Sie reicht die schöne, tragische Inderin als Attraktion von Salon zu Salon. Und die Entschleierte nimmt an – wenn man sie sehr, sehr bittet und sie sehr, sehr gut bezahlt. Margaretha Gertrude weiß, wie schwer es ist, gut bezahlt zu werden.

Denn vor knapp zwei Jahren, im Frühjahr 1903, war sie schon einmal in Paris. Und alles, was sie hatte, war das Selbstbewusstsein des Mädchens, das im Ziegenwagen fuhr und am liebsten Knallrot trug. Ich werde Modell!, beschloss die Nordfriesin und besuchte die Maler. Einer sagte erwartungsgemäß: „Ziehen Sie sich aus!“ Margaretha Gertrude gehorchte. Es ging viel schneller als später mit den sieben Schleiern. Aber der Maler war trotzdem nicht zufrieden: „Sie könnten Modell sitzen für Kopfstudien, aber das wird sehr schlecht bezahlt!“ Nie wieder!, schwor sich Margaretha Gertrude. Vielleicht war es ja doch ein Fehler gewesen, ihren Mann und die Tochter zu verlassen?

Wenn es nach ihr gegangen wäre, hätte sie ohnehin nicht geheiratet. Wenn man ihr später, 1914, das schöne Engagement am Berliner Metropol-Theater nicht weggenommen hätte, wäre sie nie Spionin geworden. Mata Hari wird es nicht verstehen: Nur weil Europa plötzlich Krieg führen will, schließen die Theater, obwohl sie schon engagiert ist. Ja, mehr noch, der Fundusverwalter des Metropol-Theaters wird ihren Schmuck und ihre Pelze beschlagnahmen, im Wert von 80 000 Francs. Plötzlich wird sie nur noch eine Ausländerin sein, zum Reisen braucht sie einen Pass, und die Männer sind so uncharmant im Krieg. Wenn sie den Krieg ignoriert, ahnt Mata Hari im Sommer 1914, wird sie bald pleite sein. So wie einst ihr armer Vater.

Irgendwann funktionierte die indische Logik nicht mehr, und Adam Zelle war auf einmal weder Hutmacher noch Baron, sondern nur eins: pleite. 1889 wurde Margaretha Gertrude zu einer Tante gegeben, las in ihrem roten Samtkleid nur noch Romane, aber mindestens einmal auch die Lokalzeitung, und zwar „Het Nieuws van den Dag“. Dort stand: „Hauptmann aus Indien, auf Urlaub in Holland, sucht passende Frau, auch ohne Vermögen.“ Das war nicht ganz richtig, der Hauptmann suchte nur ein Abenteuer, aber das konnte er nicht schreiben. Darum war er selbst etwas später, im Juli 1895, am meisten überrascht, dass er heiratete. John Rudolf Mac Leod, holländischer Adliger schottischer Abstammung, 39 Jahre alt, heiratete Margaretha Gertrude Zelle.

Er war Offizier. Margaretha muss ihn ein bisschen geliebt haben, denn viele Jahre später, schon im Gefängnis, wird sie gestehen: „Ich liebe Offiziere. Ich habe sie mein ganzes Leben lang geliebt. Ich bin lieber die Geliebte eines armen Offiziers als eines reichen Bankiers. Mein größtes Vergnügen ist es, mit ihnen zu schlafen, ohne an Geld zu denken.“ Letzteres ist eine Galanterie, denn fast alle Mata-Hari-Biografen sind der Ansicht, dass der Mann in den Augen dieser Frau einzig zu dem Zweck erschaffen wurde, ihre Rechnungen zu bezahlen.

Das tat Mac Leod stets gewissenhaft, aber nichts konnte über seinen größten Fehler hinwegtäuschen: Er existierte nur in der Einzahl. Lady Mac Leod folgte ihrem Mann nach Java, sie bekam seine Kinder und wurde doch nie einen Gedanken los: Dies konnte doch unmöglich ihr Leben sein! Sie setzte die Rückkehr nach Europa durch und die Scheidung von ihrem Mann. Sie verließ ihre Tochter, und als sie in Paris vor diesem unmöglichen Maler stand, wusste sie noch nicht, dass sie doch ein Kapital mitgebracht hatte aus Java: die Erinnerung an die javanischen Tänze.

1905 geht der Stern Mata Haris, des Auges der Morgenröte, über Paris auf. Er strahlt kurz über ganz Europa. Und dann? Geht er wieder unter. Daran hat Mata Hari auch selbst ein wenig schuld, denn in Berlin bummelte sie mit einem schönen Hauptmann durchs Leben, und als sie nach Paris zurückkam, gab es schon mehrere Mata Haris. Frauen, die tanzten wie sie, nur besser. Dabei war sie in Deutschland gar nicht untätig gewesen. Sie hatte versucht, Richard Strauss zu überzeugen, dass nur sie seine Salomé tanzen könne. Strauss hatte ihr nicht geglaubt. Genauso wenig wie Sergej Djagilew vom russischen Ballett Lust hatte, sie zu engagieren. Ja, er schaute sie nicht einmal an. Schlimmer noch: Mata Hari kommt nun in ein Alter, da das Publikum beginnt, beim Tanz der sieben Schleier unwillkürlich zu fürchten, dass auch der letzte fallen könnte. Es ist wirklich ein Glücksfall, dass das Berliner Metropol-Theater sie engagiert hat im Frühjahr 1914. Und dann jubelt ganz Europa dem Krieg entgegen statt ihrer Premiere. Zurück in die Niederlande?

Sie kennt dort keinen mehr. Sie hat Mühe, die Sprache zu sprechen. Aber sie findet auch hier Männer, die für sie bezahlen und ihr raten, das Ende des Krieges abzuwarten. Sie wissen nicht, was sie da verlangen. Soll Mata Hari sich in Holland zu Tode langweilen? Da trifft sie den Presseattaché des deutschen Konsulats in Den Haag, Konsul Cramer. Im April 1916 erfüllt Konsul Cramer den Schöpfungsauftrag des Mannes: Er bezahlt ihre Schulden. Und will noch mehr bezahlen, wenn sie lebt wie bisher: in den teuersten Hotels absteigt und Männer kennenlernt, wichtige Männer. Sie bekommt einen Vorschuss. Und wird H 21.

Sie liebt Männer in Uniformen. Warum sollte sie die nicht nebenbei ausspionieren? Sie würde das Gleiche tun wie immer, nur anders bezahlt werden. Doppelt gewissermaßen. Und wenn sie auch für die Franzosen arbeitet, wird sie noch besser bezahlt. Das Leben ist ein Spiel. Der Krieg ist ein Spiel. Doppelagentin! Sieben Schleier? Ach was, viel mehr. Den französischen Geheimdienstchef lernt sie durch Zufall kennen, weil sie sich in einen rekonvaleszenten russischen Offizier verliebt – zum ersten Mal liebt Mata Hari einen Mann – und ihm folgen will. Aber sein Sanatorium liegt im Sperrgebiet. Sie braucht eine Erlaubnis. Jetzt steht sie auch im Dienst Frankreichs, wird aber beschattet von französischen Spionen.

Der französische Geheimdienst schickt sie ins neutrale Spanien. Mata Haris Tagebücher quellen über vor Terminen, bei Tag und bei Nacht. Das Deuxième Bureau erfährt den Klarnamen eines wichtigen deutschen Spions und was die Deutschen in Marokko vorhaben. Sie ist hochzufrieden mit sich. Doch kein Lob, kein Auftrag trifft ein aus Paris. Ohnehin hat Frankreich Mata Hari anders als Deutschland nie zur ordentlichen Spionin ernannt. Und die Deutschen? Sie schicken Funksprüche, H 21 betreffend, von Madrid nach Berlin – so überdeutlich, als wollten sie ihre Enttarnung. In Paris werden die Funksprüche gelesen.

Mata Hari irrt. Dieser Krieg ist kein Spiel. Seine Wirklichkeit übersteigt alles Vorstellbare. Und die Spionagehysterie auf beiden Seiten ist gewaltig. Als Mata Hari am 2. Januar 1917 Madrid verlässt, um sich in Paris ihre Belohnung abzuholen, ist ihr Schicksal schon besiegelt. Dieser Krieg, der nicht aufhören will, obwohl keine Seite mehr ein Gewehr halten kann, lässt sich nur noch künstlich beleben. Er braucht Schuldige. Eine kleine Tänzerin wird geopfert. Sie war, sagen die, die es wissen müssen, eine schlechte Spionin, wie sie eine schlechte Tänzerin war. Aber ist das alles?

Ganz zuletzt wird Mata Hari wieder Margaretha Gertrude Zelle. Und wird doch vielleicht zum ersten Mal wirklich Mata Hari. Jetzt bringt sie ihr Opfer nicht Schiwa dar, sie wird geopfert auf der Schlachtbank eines Krieges. Und nimmt dieses Opfer an. Nichts von den erwartbaren Nervenzusammenbrüchen einer Halbweltdame. Mit der Ruhe eines indischen Yogis beginnt sie, unheimliche Mengen zu essen, denn Todeskandidaten bekommen Sonderverpflegung.

Am 15. Oktober 1917 im Morgengrauen soll Mata Hari sterben. Man hat Mühe, sie aufzuwecken. Der protokollierende Offizier fragt, ob sie nichts zu bekennen habe. „Nichts“, antwortet Mata Hari, „und wenn, behielte ich es für mich.“ Der Geistliche und die Schwestern ihres Gefängnisses schwanken mehr auf Mata Haris letztem Gang als sie selbst. Man bindet sie am Pfahl fest, sie winkt den Schwestern und dem Pfarrer ermutigend zu. Sie wehrt die Augenbinde ab. Sie blickt dem Offiziersanwärter, der den Feuerbefehl gibt, fest in die Augen wie einst Schiwa, dem Gott. Sie sagt: „Monsieur, ich danke Ihnen!“ Elf von zwölf Kugeln treffen.

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