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Sportgeschichte: Duell am Polarkreis

Boris Spasski, Weltmeister, Sowjetunion. Bobby Fischer, genialer Exzentriker, USA. Diese beiden treten 1972 im Schach gegeneinander an – und ein Spiel, das sonst nur Experten interessiert, gerät zum Jahrhundertereignis. Wie der Kalte Krieg auf bizarre Weise ausgetragen wurde.

Im Sommer 1972 packt ein bis dahin unbekanntes Fieber die ganze Menschheit. Zwei Monate lang berichten Zeitungen auf ihren Titelseiten davon, in Bangladesch der „Observer“, in Ägypten „Al-Ahram“, in Argentinien „Clarín“. BBC erfindet auf die Schnelle eine extra Sendung, die von Millionen Zuschauern gesehen wird. Und in Deutschland, staunt der „Spiegel“, sprechen die Leute plötzlich über „geheimnisvolle Kürzel“. Sb6 Ld2 a4 Lg5 h6... In der U-Bahn stecken Fahrgäste wie besessen kleine Figuren in Holzbretter.

Der britische „Telegraph“ stellt die Diagnose: „Die Welt ist schachverrückt.“

Der Infektionsherd für dieses Fieber liegt nahe am Polarkreis, in Reykjavik, Island; genauer: Er liegt in der Laugardal-Halle, einem schmucklosen Bau mit halbrundem Tonnendach. Drinnen gibt es für 2500 Zuschauer violette Stuhlreihen. Die Bühne vorn ist etwa 20 Meter breit und zehn Meter tief, in der Mitte ein kleiner Tisch und zwei Stühle auf grünem Teppichboden, am Rand stehen Topfpflanzen. Mit 560 Quadratmetern Stoff sind Fenster und Wände verhängt, um das Tageslicht fern zu halten.

Boris Spasski kommt herein und nimmt Platz. Er ist 35, Russe, Weltmeister, er trägt einen Anzug mit Weste, sein Gesicht ist ruhig und konzentriert wie immer. Spasski sagt von sich selbst, er sei ein fauler Bär.

Bobby Fischer ist sein Kontrahent. Der Amerikaner ist 29, hochgewachsen, mit einem wiegenden Cowboyschritt, er wirkt oft fahrig, gehetzt. Seine Krawatte wird von einer silbernen Nadel gehalten, seine modischen Hemden haben große Kragen.

Es ist der 11. Juli, und Spasski beugt sich nach vorn. Seine rechte Hand fasst den Damen-Bauern und rückt ihn zwei Felder vor. Es ist 17 Uhr, die 28. Weltmeisterschaft im Schach hat begonnen.

Doch dies ist mehr als ein Schachspiel, das Ereignis ist politisch extrem aufgeladen. Hier kämpfen, so jedenfalls sehen es viele, Ost gegen West, hier befehden sich auf 64 Feldern Kommunismus und Kapitalismus während des Kalten Krieges, hier versucht ein US-Amerikaner eine sowjetische Hegemonie zu brechen: Seit 1948 gehört der Titel jenem Land, in dem vier Millionen Schachspieler registriert sind; etwa 35 000 sind es in den USA. Und entsprechen die beiden Typen nicht exakt dem Klischee der ideologischen Systeme? Auf der einen Seite der exzentrische Individualist Fischer, dem es nach eigenem Bekunden stets „ums Geld geht“; auf der anderen der privilegierte Staatsschachspieler Spasski mit dem Gehalt eines Ministers und schwedischer Limousine.

Lange hatte es so ausgesehen, als würde diese WM, die am 1. Juli beginnen sollte, gar nicht stattfinden. Zwar ist Spasski frühzeitig nach Reykjavik angereist, um sich an das nordische Klima zu gewöhnen. Doch sein Gegner fehlt. Bei der feierlichen Eröffnung im Nationaltheater bleibt der Stuhl neben Spasski leer, Islands Präsident hält wie vorgesehen seine Rede. Derweil sitzt Fischer in New York und lässt ausrichten, das Preisgeld von 375 000 Mark sei ihm zu gering (ein Auto der Mittelklasse kostet 6000 Mark). Wohl war er am 28. Juni am Flughafen JFK beim Kauf eines Weckers gesehen worden, aber dann flüchtete er vor der Pressemeute und versteckte sich bei einem Freund in Queens, öffnete die Türe nicht und ging nicht ans Telefon. Henry Kissinger schickte via Anwalt die Botschaft: „Amerika wünscht sich, dass Sie da hinfahren und den Russen besiegen.“

Unklar, ob der ideologische Appell genutzt hätte. Denn der Londoner Bankmillionär Jim Slater half auf pragmatische Weise. Als er am 3. Juli im Autoradio von Fischers anhaltendem Finanzpoker hörte, verdoppelte er die Summe („Geld ist das Problem? Feigling – hier ist es“). 750 000 Mark waren nun zu verteilen, um höchstens 36 000 hatten sich früher Weltmeister gestritten. Noch am selben Abend nahm Fischer Flug 202A nach Reykjavik.

Wer ist dieser Robert James Fischer, genannt Bobby? Ein Wunderkind, mit 14 Jahren US-Meister; kolportiert wird ein IQ von 184. Ein Großmaul mit Sprüchen wie „Am wohlsten fühle ich mich, wenn sich mein Gegner im Todeskampf windet“. Ein Egozentriker in knallgelben Slippern und froschgrünem Anzug, der von Veranstaltern Luxussuiten fordert und dort die Vorhänge zuzieht, um nicht durch die schöne Aussicht abgelenkt zu werden. Ein Genie, das aus purer Laune 1968 eine zweijährige Auszeit vom Turnierschach nimmt und dann 19 Mal in Folge gegen Weltklassespieler gewinnt; „ein Wunder“ sei dies, schrieb „Sowjetskij Sport“.

Nun also ist der Amerikaner in Island, und die Organisatoren fürchten sich. Die Sorge, er könne nicht kommen, wird von der Sorge abgelöst, er könnte wieder abreisen. Denn nichts ist Bobby Fischer recht. Neben 30 Prozent der Eintrittsgelder verlangt er vier Bodyguards und Diplomaten-Nummernschilder. Er will einen Mercedes mit Fahrer. In der Laugardal-Halle ist Fischer das Licht zu hell. Der braune Mahagonitisch, eigens angefertigt für 1200 Dollar, soll abgesägt werden. Das kunstvoll gearbeitete Schachbrett aus grünem und weißem Marmor ist ihm zu fleckig, die Felder findet er zu groß. Laut „Time“ fordert er, die vorderen sieben Stuhlreihen im Parkett abzuschrauben (es gibt nur 13), die Zuschauer kämen ihm sonst zu nah.

All dies hat ein Mann zu lösen, der zum Schiedsrichter dieser WM ernannt worden war: der Schachgroßmeister Lothar Schmid, auch Verleger Karl Mays aus Bamberg. Dort lebt er noch heute, 79-jährig, schlohweiß das Haar, er sitzt an einem niedrigen Holztisch mit eingelassenem Schachbrett, es ist nicht das einzige in seinem Wohnzimmer. Schmid sagt lächelnd, „hier drin waren schon zehn Weltmeister zu Gast, Karpow, Tal, Petrosjan, Fischer, Spasski...“; er schließt beide Augen, als könne er so die Bilder von damals besser wachrufen:

Ich hatte in Reykjavik Möbelgeschäfte besucht und 13 Stühle probiert, zwei davon habe ich mitgenommen. Fischer war damit nicht einverstanden, natürlich nicht. Er ließ einen Drehstuhl mit Rollen aus Amerika einfliegen, schwarzes Leder, ein Modell von Charles Eames. Spasski saß weniger komfortabel.

Unterdessen bekommt man in Moskau Angst, die psychische Verfassung von Spasski könne leiden, das ZK schaltet sich ein und der Leiter der Abteilung für Agitation und Propaganda verlangt: Abreise, sofort! Doch der Weltmeister, der nicht Mitglied der Partei ist, bleibt. Er zieht den Bauer zur ersten Partie, von nun an kabelt die Nachrichtenagentur AP Zug um Zug sekundenschnell um die Welt. Lothar Schmid erinnert sich:

Die Eröffnung war langweilig wie die ganze Partie, bis Bobby Fischer beim 29. Zug einen vergifteten Bauer schlug. Ein stümperhafter Fehler, vielleicht war er übermütig. So gewann Spasski noch, was auf ein Remis hinaus gelaufen wäre.

Vor der Bühne hat der Amerikaner Chester Fox Kameratürme aufgestellt, ihm gehören die Rechte für die Vermarktung der bewegten Bilder. Die Technik ist monströs, auch wenn sie mit schwarzen Planen verhüllt wurde, um nicht so stark aufzufallen. Fischer stört sich sofort daran. Man verspricht, sie abzubauen. Stattdessen wird eine der Kameras hinter einer Wand versteckt, zu sehen ist nur noch ein gebohrtes Loch in der Größe der Linse. Am zweiten Tag von Partie eins entdeckt Fischer auch diese, er schäumt, er schimpft den Schiedsrichter einen Lügner. Als er tags darauf hört, die Kameras seien nicht alle entfernt, weigert er sich, zur nächsten Partie zu kommen. Punkt 17 Uhr drückt Schmid auf die Uhr, die Sekunden ticken und Boris Spasski sitzt alleine vor den 32 Figuren.

Fischer wohnte im Hotel Loftleidir, das war rund zwei Kilometer von der Halle entfernt. Ein Auto konnte das in ein paar Minuten schaffen. Wir telefonierten. Wir besorgten eine Polizeieskorte. Wir ließen alle Ampeln zwischen Hotel und Halle dauerhaft auf Grün stellen, um alles möglich zu machen. Diese Stunde war mir unheimlich.

Um 18 Uhr, so will es das Reglement, erklärt der Schiedsrichter Spasski zum Sieger der zweiten Partie. In der folgenden Nacht, sagt Schmid, sei er tränenüberströmt im Bett aufgewacht, er glaubte „ich habe ein Genie zerstört“. Es heißt, Fischer habe seinen Rückflug gebucht. Drohungen und Petitionen werden geschrieben und zwischen den Hotels Loftleidir und Saga, wo die russische Delegation wohnt, hin und her gefahren. Henry Kissinger lässt sich in Fischers Suite durchstellen und mahnt: „Lassen Sie diese Mätzchen und spielen Sie. Sie sind unser Mann gegen die Kommunisten.“ Der Schriftsteller Arthur Koestler, berühmt geworden durch seine Abrechnung mit dem Stalinismus, schreibt in der „Sunday Times“: „Bobby ist ein Genie, doch als Propagandist für die freie Welt ist er eher kontraproduktiv.“

Und wieder einmal überrascht Fischer alle. Er schlägt vor, die dritte Partie in einem Hinterzimmer zu spielen, ohne Zuschauer und Kameras. Inzwischen sind mehrere Anwälte eingeflogen und für ihn tätig. Lothar Schmid erklärt ihnen, nach den Regeln könne nur bei einer „Störung“ der Spielort verlegt werden. Ein Anwalt bietet an, den Schachtisch per Vorschlaghammer zu zertrümmern – ob dies Störung genug sei? Spasski stimmt dem Umzug zu, obwohl er es nicht gemusst hätte.

Wir standen zusammen in diesem kleinen Raum, und wieder gefiel Fischer dieses und jenes nicht. Dann fing auch noch Spasski an zu meckern. Er drohte, in die große Halle zu gehen. Es war schrecklich. Die beiden waren ja größer gewachsen als ich, doch irgendwie packte ich sie am Schlafittchen und drückte sie auf ihre Stühle runter. Wie automatisch setzte Spasski d2 d4 - und ich wusste, die Sache ist gerettet. Fischer gewann, und Spasski wird seinen Langmut hinterher als tragischen Fehler gesehen haben.

Es steht nur noch 2:1 für Spasski, mehr als 100 Reporter schicken ihre Berichte los; auch Norman Mailer wird für „Life“ aus Reykjavik berichten. Von nun an ist die Laugardal-Halle, in der alle weiteren Partien vor Zuschauern gespielt werden, eine kamerafreie Zone – Fischer hat sich durchgesetzt. Die wenigen Filmschnipsel, die erhalten sind und immer mal wieder in Dokumentationen vorkommen, zeigen (meist schwarz-weiß) einen Fischer, der sich fahrig mit der Hand übers Gesicht wischt oder durch die gespreizten Finger Brett und Gegner beobachtet; Spasski hingegen wirkt fast ein wenig phlegmatisch, einmal aber sieht man ihn munter Tennis spielen, in orangefarbenem Hemd und langen Hosen.

Obwohl die Welt nur Fotos und Notationen übermittelt bekommt, ist die Erregung gigantisch. Das MoMA zeigt Schachfiguren aus allen Kontinenten, England importiert Schachspiele aus Plastik, weil die hölzernen rasch ausverkauft sind, ein New Yorker Reporter zieht durch 21 Bars – in 18 wird im Fernsehen über Schach geredet, nur drei zeigen das Baseballspiel der Mets.

Fischer gerät in Fahrt, nach einer Serie von Siegen führt er mit drei Punkten, zwölfeinhalb braucht er, um Weltmeister zu werden. Der Irrsinn in Reykjavik geht trotzdem weiter. Fischer protestiert gegen das Rascheln von Bonbonpapier, also gibt es nur noch ausgewickelte Drops. Fischer will alle Kinder im Zuschauerraum aus dem Parkett verbannen. Auf Fischers Wunsch werden zur sechsten Partie Brett und Figuren aus Holz benutzt; er moniert, der Kontrast der Felder sei noch schlechter als beim Marmor. Auch will er den TV-Mann Chester Fox behördlich aus Island ausweisen lassen. Irgendwer hat dem „Time“-Magazin eine Liste mit 14 neuen Fischer-Forderungen zugespielt, darunter die exklusive Nutzung des Hotelpools und zehn Dollar mehr Taschengeld täglich. In Island kursiert bald der Witz, Bobby Fischer habe beantragt, die Sonne solle drei Stunden früher untergehen.

Das Niveau der Partien war gut, mehr nicht. Es gab einige herrliche Kombinationen, aber auch mehr Fehler als gewöhnlich. Vielleicht war Spasski nervös, vielleicht genügte schon die Drohung, Fischer könnte etwas Überraschendes tun, ihn merkwürdig schwach werden zu lassen.

Die sowjetische Delegation kann sich die mäßige Leistung von Boris Spasski nicht so recht erklären. Inzwischen hat zwar auch Spasski einen Eames-Drehstuhl aus den USA, wirkt aber erschöpft. Man schickt eine Saftprobe nach Moskau, um sie vom KGB analysieren zu lassen, der entdeckt nichts. Zur 13. Partie wird Gattin Larissa zur Aufmunterung eingeflogen, ihr Mann lässt sich erstmal krank schreiben. Später werden die Organisatoren aufgefordert, Fischers Stuhl und die Lampen von Wissenschaftlern untersuchen zu lassen, möglicherweise werde Spasski durch Psychodrogen manipuliert. Chemiker und Röntgenexperten rücken an, doch Fischers Sitzmöbel ist sauber – und in den Lampenschalen finden sich nur zwei tote Fliegen (einige Quellen nennen die Zahl drei).

Am 31. August beginnt die 21. Partie, Fischer führt 11,5 zu 8,5. Boris Spasski spielt weiß und schreibt am Abend seinen 41. Zug auf Papier, das Schiedsrichter Schmid wie üblich in einen Umschlag steckt und versiegelt. Damit könnte es am folgenden Tag weitergehen. Doch der Weltmeister hat nur kurz nachgedacht und keinen optimalen Zug notiert (Dame e6 d7), das wird ihm rasch klar. Anstatt wie üblich um 17 Uhr auf der Bühne zu erscheinen, ruft er um 12 Uhr 50 bei Schmid an und verzichtet auf die Fortsetzung der Partie. Das ist ungewöhnlich und nicht gerade souverän, aber regelgerecht, Spasski geht spazieren und will nur noch „schlafen, schlafen“. 2500 Zuschauer haben jeweils fünf Dollar Eintritt bezahlt, zu sehen bekommen sie an diesem Freitag nur noch einen linkisch winkenden Fischer, den neuen Weltmeister.

52 Tage hat der Kampf gedauert.

Zur Siegerehrung am Sonntag erscheint Bobby Fischer wie so oft zu spät, er trägt einen violetten Samtanzug. Sie hängen ihm einen Lorbeerkranz um, als hätte er ein Pferderennen gewonnen. Eine kleine Filmsequenz zeigt ihn, wie er während der Laudatio ein Kuvert aufreißt, möglicherweise kontrolliert er die Summe auf dem Scheck – 470 000 Mark stehen ihm als Sieger zu. In einer späteren Szene sitzen die beiden Kontrahenten an einer Tafel mit weißer Tischdecke nebeneinander, aus dem Off ist ein Festredner zu hören. Fischer hält ein kleines Schachbrett in den Händen und spielt aus dem Kopf die letzte Partie nach. Und Boris Spasski schaut wenig begeistert zu.

PS: In Moskau wird Boris Spasski zum Politbüro einbestellt. Er macht eine Psychotherapie, gewinnt souverän die nächste Sowjetmeisterschaft und darf mit seiner dritten Frau nach Paris ziehen und weiter Schach spielen. Bobby Fischer verliert nach drei Jahren seinen Titel, weil er gegen seinen Herausforderer Anatoli Karpow nicht antritt. Er taucht ab und hat bis heute kein einziges Turnier mehr gespielt. Inzwischen lebt er in Island.

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