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Politik: Geschichten einer Gesellschaft

Das Foto ging um die Welt. Die Politik-Elite feiert die Wiedervereinigung auf einem Balkon des Reichstags. Und was ist heute? / Von Harald Martenstein

Richard von Weizsäcker

Im Grunde ist er der ewige Bundespräsident Deutschlands und, weil er so einen großen Schatten wirft, ein Unglück für alle, die nach ihm kommen. Er hat diesen Job am perfektesten hinbekommen, das ist klar. Heute führt er uns, beschienen von der untergehenden Sonne, als Zugabe auch noch die perfekte Verkörperung des Elder Statesman vor. Er berät, sitzt in Kommissionen, auf Podien, im Fernsehen, mein Gott, er berät sogar die „Japan Art Association“ in Fragen der Kunst. Weizsäcker war härter als de Mazière. Aber nicht hart wie Kohl. Die Frage, ob einer, der so schön reden, so gepflegt zuhören und so überzeugend umhergehen kann, nicht auch ein guter Kanzler geworden wäre, muss Richard von W. so manches Mal durch den Kopf gegangen sein, wenn er neben Kohl stand. Auch in diesem Moment, hier oben auf dem Balkon?

Helmut Kohl

Helmut der Große. Kanzler der Einheit. Ehrenbürger Europas. Die Frau an seiner Seite lebt nicht mehr. Er hat eine Wohnung nicht weit vom Halensee und geht gerne ins „…“. In Zittau, bei der Party zur EU-Erweiterung, wurde er mal wieder gefeiert. Solche Auftritte sind selten. So richtig rund ist es für ihn seit 1990 nicht gelaufen. Ex-Ehrenvorsitzender der CDU, das klingt irgendwie nicht gut. Wer wie Kohl sagt, dass er sein eigenes Ehrenwort über das Gesetz stellt, der macht sich den Weg in den Olymp der unumstrittenen historischen Helden natürlich schwer. Und da wollte er doch gerne hin. Aber er wird seine Gründe haben. Ob das mit der Wiedervereinigung im Detail wirklich alles so geschickt eingerichtet wurde, na, da werden wohl in 100 Jahren die Historiker das letzte Wort sprechen. Der Mantel der Geschichte weht, wie er will. Wie viele Strippen zieht er noch in der CDU? Geheimnis!

Willy Brandt

Als dieses Foto gemacht wurde, war Willy Brandt, Ehrenvorsitzender der SPD, Chef der Sozialistischen Internationale, 76 Jahre alt. Er hatte nur noch zwei Jahre zu leben. Todestag: 8. Oktober 1992. Der linke Patriot Brandt begrüßte, im Gegensatz zu anderen in seiner Partei, die Wiedervereinigung rückhaltlos. Viele Ostdeutsche erinnerten sich an seinem DDR-Besuch als Kanzler, an die „Willy, Willy“-Rufe in Erfurt. Er sagte zur Einheit den Satz aller Sätze: „Jetzt wächst zusammen, was zusammengehört.“ Brandt war folglich der einzige Sozialdemokrat, der bei den Wahlen von 1990 Helmut Kohl hätte gefährlich werden können. Aber Brandt war schon krank, er wollte nicht mehr. Eine seiner letzten großen Taten: 1990 verhandelt er mit Saddam Hussein und erreicht in einem Gespräch unter vier Augen, dass 193 im Irak als Geiseln gehaltene Ausländer ausreisen dürfen.

Oskar Lafontaine

Das Attentat auf ihn war erst fünf Monate her. Oskar Lafontaine war gegen eine schnelle Vereinigung von DDR und Bundesrepublik. Nicht alles, was er damals zu den bevorstehenden Wirtschaftsproblemen sagte, war falsch. Heute lebt Lafontaine als „Bild“-Kolumnist, gelegentlicher Talkshowgast und Buchautor im Saargau. Er ist auch in einem Werbespot für Joghurt aufgetreten. Es geht ihm, nach allem, was man weiß, gut. Er will mehr. Vielleicht bereut er es, dass er 1998 aufgehört hat, Ministerpräsident des Saarlandes zu sein, nach 13 Jahren, aber er wollte und musste Gerhard Schröders Finanzminister werden. Die Niederlage im Machtkampf gegen Schröder ist endgültig, heute weiß man das. Trotzdem wird man das Gefühl nicht los, dass von ihm noch etwas zu erwarten ist. Irgendwas. Von allen Vulkanen auf diesem Foto ist er (61) der einzige, der noch tätig ist.

Norbert Blüm

Ein paar Monate bevor dieses Foto entstand, hat er in Nordrhein-Westfalen die Landtagswahl gegen Johannes Rau verloren. Ihm ist jetzt klar, dass er nie Ministerpräsident wird. Im Kabinett hatte Norbert Blüm wahrscheinlich von allen die meiste Arbeit mit der Wiedervereinigung. Er hat den Sozialstaat des Westens umgetopft und wie ein Löwe gegen Kritiker verteidigt. Im Jahr 2000 distanzierte er sich wegen der Spendenaffäre von Helmut Kohl, der für ihn eine Art Lebenspartner war. Nach und nach trat er von seinen Ämtern zurück, stattdessen wurde er Mitglied im Rateteam von „Was bin ich?“. Blüm, der Privatmann, engagiert sich weiter für Menschenrechte. Mit Günter Wallraff und Rupert Neudeck versuchte er, 2003 nach Tschetschenien zu reisen, gegen Widerstand der Russen. Er ist wohl geblieben, was er immer war, eine ehrliche Haut und ein linker Katholik.

Lothar de Maizière

Am 2. Oktober war der letzte Ministerpräsident der DDR stellvertretender CDU-Vorsitzender geworden, Vertreter von Helmut Kohl. Am 4. Oktober wurde er Bundesminister für besondere Aufgaben. De Mazière stand auf dem Gipfel, bald würde es abwärts gehen, das wusste er natürlich noch nicht. Seine Wende setzte ein, als der „Spiegel“ ihn als „IM Czerni“ enttarnte. Wie war es wirklich? Das bleibt offen. De Mazière bestritt die Vorwürfe, er habe nur als Anwalt und im Interesse seiner Mandanten Kontakte zur Stasi unterhalten. Er trat trotzdem als Minister zurück, in der CDU gab es Reibereien mit Generalsekretär Volker Rühe. Überhaupt war der dünnhäutige, schöngeistige de Mazière nicht der Typus Mensch, der auf Dauer zum Politiker geeignet ist. Heute gilt der Anwalt als honoriger Mann. Ämter wurden ihm mehrfach angeboten. Er will keine mehr. Foto: Ullstein/Werek

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