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Gesellschaft: "Lieber tot als Pflegeheim"

Aus Angst vor einem unwürdigen Lebensabend: Die Zahl alter Leute, die sich das Leben nehmen, steigt. Allein im vergangenen Jahr nahmen sich nach Angaben des Statistischen Bundesamtes 9402 Menschen das Leben.

Inge I. ist 84 Jahre alt geworden. „So alt wie Methusalem“, sagt sie. Deshalb hat sie sich umgebracht. Das war in den ersten Oktobertagen, dabei geholfen hat ihr Roger Kusch. Kusch, der früher Hamburger Justizsenator war, hat das Gespräch über die Gründe für ihren Selbstmord aufgezeichnet und das Video ins Netz gestellt. Putzmunter sieht man die Rentnerin da auf ihrer Couch sitzen, mit verschränkten Armen plaudert sie über den Tod. Sie ist bester Laune. „Wissen Sie, was ich mir wünsche?“ strahlt sie Kusch an, er sitzt an ihrer Seite. Kusch nickt voller Verständnis. Inge I. will ruhig einschlafen, sie will selbst bestimmen, wann sie stirbt. Totale Hilflosigkeit will die alte Frau nicht erleben.

Die 79-jährige Bettina S. hat das auch so gesehen, Kusch assistierte ihr im Juni beim Selbstmord. „Ein Pflegeheim werde ich nie betreten“, sagt sie ruhig und bestimmt in ihrem Abschiedsvideo. Sie formuliert das höflich: Sie könne die Vorstellung nicht ertragen, dass das Pflegepersonal mit der ihm eigenen Autorität auf sie einwirken würde.

„Was Kusch tut, ist doch keine Sterbehilfe“, findet Christine Swientek. Die Sozialwissenschaftlerin aus Hannover beschäftigt sich schon seit Jahren mit der Lebenssituation alter Menschen. „Die Frauen waren alt, sie haben nicht im Sterben gelegen.“ „Das sind präventive Selbstmorde“, meint auch Claus Fussek, Pflegekritiker aus München. Die kann er gut verstehen, schließlich kennt er die Missstände in den Pflegeheimen. Stundenlang kann Fussek von Fällen erzählen, in denen alte Menschen in ihren Exkrementen liegen, gefesselt werden, hungern, dursten, austrocknen, sich wund liegen. Für viele ein Grund, sich das Leben zu nehmen, weiß Swientek. Es sei nicht nur Einsamkeit und Altersdepression, die zum Suizid führe. „Fast alle sagen das: lieber tot als Pflegeheim.“

Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes nahmen sich im vergangenen Jahr 9402 Menschen das Leben. Davon waren 3993 über 60 Jahre alt. Damit liegt ihr Anteil an den Selbstmorden bei 42 Prozent. Während die Gesamtzahl in den letzten Jahren gesunken ist – auf die Hälfte des Jahres 1980 – steigt sie bei den Alten an. „Das sind nur die gesicherten Mindestzahlen“, kommentiert Swientek die Statistik. Sie geht von einer sehr hohen Dunkelziffer aus: „Wir ahnen nicht einmal, wie viele Alte sich täglich umbringen.“ Das meint auch Fussek: „Die älteren Menschen haben doch alle ihre kleine Apotheke zu Hause.“ Die Hausärzte meldeten dann Herzversagen.

Dass sich jährlich Tausende von alten Menschen umbringen, hält Swientek für einen der größten Skandale dieser Gesellschaft. Die Alten würden in den Tod getrieben. „Sie sind zu einem vorzeitigen Sterben doch nur bereit, weil man ihnen keine lebenswerten Perspektiven anbietet.“ Im Grunde, meint Fussek, sei die Diskussion um die Pflege doch eine Aufforderung zum kollektiven Selbstmord. „Eine Gesellschaft, die ihren Alten keine Garantie gibt, die letzten Jahre in Würde zu verbringen, hat nicht das Recht, sich über einen Roger Kusch aufzuregen.“

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