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Die Berliner Salonière Rahel Varnhagen.

© picture-alliance / dpa

Gesellschaft und Flüchtlinge: Der bunte Salon

Vor 400 Jahren wurde in Paris eine neue Form der Geselligkeit erfunden: Menschen unterschiedlicher Herkunft und Stellung treffen sich in privatem Rahmen zum Reden. Gerade jetzt können wir davon viel lernen. Ein Essay

Ein Essay von Dorothee Nolte

Absurder geht’s kaum. Da schießen Terroristen in Paris Menschen tot, die Angst geht um. Täglich kommen tausende Flüchtlinge, in den sozialen Medien grassiert der Hass, Flüchtlingsunterkünfte werden angezündet. Und dann kommt eine wild gewordene Autorin daher und behauptet, wir bräuchten Salons?

Völlig klar: Wir brauchen funktionierende Geheimdienste, Extremismusprävention, Arbeitsplätze für Flüchtlinge und sehr viel mehr.

Aber da auch das Absurde fruchtbar sein kann, lassen Sie sich doch einmal auf den Gedanken ein. Die These dieses Textes lautet: Auch und gerade in diesen rauen Zeiten brauchen wir Salons. Wir brauchen reale Salons und den Salon als Idee. Eine Idee übrigens, die vor rund 400 Jahren in Paris erfunden wurde und die im Kern so lautet: dass sich Menschen unterschiedlicher Herkunft und gesellschaftlicher Stellung regelmäßig in privaten Häusern treffen, um miteinander zu sprechen. Um sich kennenzulernen, Gedanken zu entwickeln, Vertrauen zueinander zu fassen und sich gegenseitig zu „zivilisieren“. Davon können wir gerade im digitalen Zeitalter und in einer vom Terror bedrohten Einwanderungsgesellschaft eine Menge lernen. Das Wort „Salon“ hat bis heute einen eher großbürgerlich-adligen Beiklang, und mancher lehnt es schon deswegen ab, weil er sich darunter etwas furchtbar Gezwungenes, Steifes und Elitäres vorstellt. Hoch die Nasen! Das passt nicht ins Heute. Aber vielleicht lässt sich ja eine große Tradition doch fruchtbar machen, wenn man sich das Beste herauspickt und den Salon als eine Art Folie begreift, vor der sich die Kommunikation in einer Einwanderungsgesellschaft denken lässt.

In den Salons im 18. Jahrhundert mischten sich Adlige mit Bürgerlichen

Die Geschichte der Salons ist eng verknüpft mit der europäischen Aufklärung. In den Pariser Salons des 17. und 18. Jahrhunderts mischten sich Adlige mit Bürgerlichen, Künstler mit Gelehrten und bildeten so eine neue Form der Öffentlichkeit, jenseits von Hof und Kirche. Als die Salons ab 1790 in Berlin florierten, etwa im Gesellschaftszimmer von Henriette Herz in der Spandauer Straße oder im Elternhaus von Rahel Levin(-Varnhagen) in der Jägerstraße, da hat der Philosoph Friedrich Schleiermacher sogar eine Theorie rund um diese „freie, durch keinen äußeren Zweck gebundene Geselligkeit“ entwickelt. In einer halböffentlichen Sphäre, so schrieb er, im lockeren Gespräch könnten Menschen einander am besten Einblicke in ihre jeweiligen Welten gewähren, „so dass auch die fremdesten Gemüter und Verhältnisse dem Menschen befreundet und gleichsam nachbarlich werden können“. Nun konnte Schleiermacher nicht ahnen, dass wir heute wunderbare soziale Medien haben würden, die uns Einblicke in die Gedanken von Menschen auf der ganzen Welt liefern. Hätte er es gewusst, hätte er seinen Text dennoch nicht geändert. Denn Vertrauen zwischen Menschen entsteht nur im direkten Kontakt, das bestätigt auch die Soziologie. Salons waren also damals und können auch heute sein: Schmierstoff fürs Gemeinwesen und praktische Geistes- und Herzensbildung im Umgang mit dem Fremden. Schon in den frühen Salons war es üblich und erwünscht, dass die Gäste weitere Gäste, gerne Reisende, mitbrachten.

Salons sind Orte der Mischung und des gleichberechtigten Gesprächs, in denen Alteingesessene und Neuankömmlinge aufeinandertreffen. Dass nicht alle realen Salons seitdem diesen Anspruch eingelöst haben, dass viele eher der Selbstbestätigung der "besseren Gesellschaft" gedient haben – geschenkt. Es geht hier ums Prinzip: um das Prinzip Salon. Die Idee des Salons ist nicht an eine bestimmte Schicht oder Kultur gebunden – auch wenn sie immer eher die Rede- und Denkfreudigen, in der Regel die Gebildeteren jeder Gesellschaft, ansprechen wird. Es geht um eine Haltung, um Gesprächsfähigkeit und wie man sie entwickelt.

Dorothee Nolte, Tagesspiegel-Redakteurin, organisiert Salons, unter anderem den Tagesspiegel-Salon.
Dorothee Nolte, Tagesspiegel-Redakteurin, organisiert Salons, unter anderem den Tagesspiegel-Salon.

© Doris Spiekermann-Klaas

Ganz klar: Plaudern hilft nicht gegen Terror, und rechte Zündler oder religiöse Fundamentalisten lassen sich durch Gespräche nicht erreichen. Salons sind ein Thema für die Mitte der Gesellschaft, eine Mitte, die sich nicht durch die Höhe des Gehalts definiert, sondern dadurch, dass sie den extremen Rändern und dem Terror ein freiheitliches Lebensmodell entgegenstellt. Es ist bekannt, dass die IS-Terroristen „die Grauzone zerstören“ möchten, in der Muslime, Christen, Juden und Atheisten friedlich zusammenleben. Sie wollen, dass sich Muslime in westlichen Gesellschaften ausgegrenzt und unerwünscht fühlen. Unser Interesse dagegen muss es sein, diese „Grauzone“ zu erweitern. Deswegen brauchen wir Räume und Orte, die dem Gespräch gewidmet sind – besonders dem Gespräch zwischen Herkunftsdeutschen und Muslimen, zwischen Alteingesessenen, Einwanderern der zweiten und dritten Generation, Neuankömmlingen. Das ist der Beitrag, den die bürgerliche Mitte, die Zivilgesellschaft, den jeder von uns, egal woher er oder sie kommt, leisten kann: dieses Gespräch zu suchen, es zu ermöglichen und so angenehm wie möglich zu gestalten. Jeder kann, real oder im übertragenen Sinne, zum Salon einladen.

Wie viele muslimische Freunde haben Sie?

Machen wir doch mal einen Test: Wie viele muslimische Freunde, wie viele Bekannte mit türkischen oder arabischen Wurzeln haben Sie? (Diese Frage richtet sich nur an Nichtmuslime.) Ich meine nicht den Gemüsehändler vom Eck, nicht Ihre muslimischen Schüler oder Patienten, nicht den Handwerker oder die Kollegin, die Sie im Vorbeigehen grüßen, oder die Mutter, die beim Elternabend neben Ihnen sitzt. Auch nicht die Flüchtlinge, denen Sie als Ehrenamtliche das Essen ausgeben. Ich meine Freunde und Bekannte, die Sie zu sich nach Hause einladen und mit denen Sie ein gleichberechtigtes Gespräch führen. Haben Sie überhaupt welche? Haben Sie schon einmal mit einer Frau mit Kopftuch länger gesprochen, einfach weil Sie interessant fanden, was sie zu sagen hatte? Gibt es in Ihrem Leben regelmäßige Anlässe, bei denen Sie sich mit Muslimen unterhalten – nicht weil Sie das als Sozialpädagoge, Lehrerin, Anwalt, Ärztin beruflich tun müssen, sondern weil Sie Spaß daran haben?

Wenn Sie alle drei Fragen mit „Nein“ beantwortet haben, dann mangelt es in Ihrem Leben – und nicht nur in Ihrem – an Salon: Es mangelt an Gelegenheiten, Menschen in einem zwanglosen Rahmen und auf Augenhöhe zu begegnen. Auf Podien wird oft beklagt, dass Muslime und auch nichtmuslimische „neue Deutsche“, die Kinder und Enkel der ersten Einwanderergeneration, in Behörden, Medien und vielen Berufen unterrepräsentiert sind. Sie sind es auch in den Wohnungen und privaten Kreisen der Alteingesessenen. Die Türen zum eigenen Heim zu öffnen hat daher Symbolcharakter: Wer das tut, lädt in „die Gesellschaft“ ein. Oder besser: begibt sich mit seinen Gästen auf die Reise in eine neue, bunte Gesellschaft. Denn nichts ist wichtiger, als jetzt eine neue Mitte zu bilden, mit allen gesprächsfähigen und -willigen Muslimen. Sie sind die besten Brückenbauer. Vielleicht ist die Frau, die beim Elternabend neben Ihnen sitzt, auch eine?

Reale Salons sind ein sehr praktisches Mittel, um Menschen, die man kaum kennt, zum Gespräch zu laden. Dazu eine Geschichte: Vor etwa einem halben Jahr traf ich bei einer Geburtstagsfeier Ajo, einen Lehrer aus Aleppo. Er war erst seit sechs Monaten in Berlin, sprach aber schon ein bisschen Deutsch, so dass wir uns unterhalten konnten. Normalerweise wäre es dabei geblieben: bei einem etwas mühsamen Gespräch, irgendwann beendet durch den Gang zum Büffet. Wie soll man einen solchen zufälligen Kontakt auch fortführen? Ich habe nicht die Zeit, mich mit allen Menschen, die ich nett und interessant finde, einzeln zu Kaffee, Kino oder Kneipe zu verabreden; ein Mensch wie Ajo wird mir auch nicht in einem Berufskontext über den Weg laufen. Wäre ich ehrenamtlich in der Essensausgabe des Flüchtlingsheims tätig gewesen, in dem er damals offiziell noch lebte, wäre unser Kontakt asymmetrisch gewesen: Die eine hilft, dem anderen wird geholfen. Meine Absicht war aber gar nicht zu helfen, ich fand ihn – egoistisch vielleicht! – als Gesprächspartner interessant. Da war es praktisch, dass ich ihn zu einem Salon einladen konnte, der bei einer Freundin stattfand. Er kam und brachte seinen Bruder und dessen Frau mit, die mit ihren Söhnen schon seit zwei Jahren in Berlin leben, und sie kamen nicht nur zu diesem, sondern auch zu weiteren Salons. Aus diesen zunächst unverbindlichen Begegnungen mit der Familie Amin hat sich eine Freundschaft entwickelt, die ich als äußerst bereichernd empfinde. Und ich vermute, dass es auch eine Wirkung auf die drei Söhne hat, wenn ihre Eltern und ihr Onkel in Wohnungen von Berlinern ein- und ausgehen: Sie werden sich hoffentlich nicht so schnell ausgegrenzt fühlen, wenn sie in der U-Bahn ein misstrauischer Blick trifft oder irgendein dummer Mensch sie für Terroristen hält, weil sie schwarze Haare haben.

Es geht nicht ums Rechthaben, sondern um den gemeinsamen Ton

Hier also die Gründe, warum sich reale Salons und das Prinzip Salon so gut eignen, um eine neue Mitte der Gesellschaft zu bilden.

Im Salon treffen Fremde aufeinander: Jeder Gast weiß, dass er im Salon nicht nur auf seinesgleichen treffen wird. Schon Schleiermacher hat bemerkt, dass etwa die Berufsstände dazu neigen, „sich gleichsam unwillkürlich durch chemische Ähnlichkeit zu krystallisieren“ und immer um dieselben Themen zu kreisen. Das Gleiche gilt für Vereins- oder Parteimitglieder. Fremdenhass kann niemals „salonfähig“ sein, denn die Neugier auf das Fremde liegt im Prinzip des Salons.

Salons dienen dem gleichberechtigten Gespräch: Im Salon begegnen sich alle Beteiligten auf Augenhöhe, es gibt nicht Helfer und andere, die Hilfe brauchen, auch keine Trennung in Vortragende und Publikum. Wenn es ein musikalisches oder anderes Programm gibt, darf es nicht abendfüllend sein: Ein Salon ist kein Theater- oder Konzertabend, zu dem man zu zweit oder fünft geht und in der Pause nur mit diesen Leuten spricht.

Salons sind analog: Vertrauen zwischen Menschen entsteht nur im direkten Kontakt. Anders als in den sozialen Medien kann ich im Salon meinen Gesprächspartner nicht einfach beleidigen und ihm böse Absichten unterstellen. Ich muss zumindest ein paar Minuten lang verstehen wollen, muss meine Ansichten erklären, und wenn wir partout keine Anknüpfungspunkte finden, können wir uns freundlich abwenden. Denn im Salon steht immer jemand in der Nähe, mit dem sich ein besseres Gespräch führen lässt.

Salons sind geistig beweglich: Es geht in diesem kommunikativen Raum sowieso nicht ums Rechthaben, Sichfestbeißen, Ausdiskutieren. Eine Salontugend ist es vielmehr, über strittige Themen auch mal hinwegzugehen, sie mit einem Witz zu beenden, elegant das Thema zu wechseln. Das ist den Ernsthaften unter uns zu seicht, zu leicht. Aber es ist ein Vorteil in der Kommunikation zwischen Menschen, die sich fremd sind. Die Kunst besteht darin, auch mit dem Andersdenkenden oder dem Neuankömmling eine Ebene, einen Ton zu finden, der für beide Beteiligten angenehm ist.

Ein größeres WG-Zimmer reicht

Salons haben Gastgeber: In den historischen Salons war Gastgeberrolle fast immer weiblich besetzt. Heute kann jeder Gastgeber sein: eine Frau, ein Mann, ein homo- oder heterosexuelles Paar, eine Gruppe von Freunden. Dass aber überhaupt jemand als Gastgeber auftritt, ist wichtig. Denn die Gäste werden nicht in dessen Wohnung andere Gäste abwerten. Im Idealfall entdecken sie, durch die Vermittlung des Gastgebers, Gemeinsamkeiten.

Salons sind billig und praktisch: Man braucht kein Schloss und keine riesige Altbauwohnung, jedes größere WG-Zimmer reicht. Ob man Champagner hinstellt, Aldi-Sekt, Bier oder naturtrüben Apfelsaft oder ob man die Gäste bittet, Getränke mitzubringen, das hängt alles von den persönlichen Vorlieben und vom Portemonnaie der Gastgeber ab. Es ist auch ganz egal, wie man das Ganze nennt - "Salon" ist nur eine von vielen möglichen Bezeichnungen. Man kann spontan Menschen einladen, die einem begegnen. Am einfachsten tut man sich zu mehreren zusammen und lädt im Wechsel ein: Dann mischen sich die Bekanntenkreise.

Das Prinzip Salon lässt sich aber auch leben, wenn man keine Lust oder Gelegenheit zu realen Salons hat. Überall, beim Elternabend, im Supermarkt, sogar an der Bushaltestelle. Man stelle sich einfach vor, der fremde Mensch dort wäre ebenso wie man selbst zu einem Salon eingeladen und es gäbe einen Gastgeber, um uns herum einen geschützten Raum und ein paar grundlegende Regeln. Dann würde man ihn doch freundlich angucken, anlächeln, ein Gespräch beginnen. Und der andere, vielleicht ein Neuankömmling, würde sich erkannt, geschätzt, angenommen fühlen. Weniger fremd und weniger neu. Und schon wäre die Zone der Begegnung und der Neugier, die den Terroristen so verhasst ist, ein Stückchen größer geworden.

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