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Gesundheitssystem: Welche Krankheiten können wir uns noch leisten?

Die Krankenkassen denken darüber nach, kostspielige Medikamente für spezielle Krankheiten nicht mehr ohne Weiteres zu bezahlen. Welche Krankheiten können wir uns in Zukunft überhaupt noch leisten?

Im Bemühen, die Arzneipreise bezahlbar zu halten, wollen die Krankenkassen bei der Erstattung künftig nach einer „krankheitenübergreifenden Kosten-Nutzen- Analyse“ vorgehen dürfen. Im Klartext: Krankheiten dürften gegeneinander abgewogen werden. Um das Geld zur Bekämpfung schwerer Leiden zu haben, könnten den Versicherten die Arzneikosten für harmlosere Erkrankungen aufgebürdet werden. Und bei seltenen Krankheiten, für die nur eine besonders teure Arznei zur Verfügung steht, soll nach dem Wunsch des Spitzenverbands der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) abgewogen werden, ob der medizinische Nutzen für wenige die hohen Kosten für die Gemeinschaft rechtfertigt.

Bei der Preisgestaltung für solche Mittel müsse die Gesellschaft mitreden dürfen, fordert Verbandsvize Johann-Magnus von Stackelberg – und zwar auch auf die Gefahr hin, dass sich die Hersteller dem verweigern und dann „bestimmte Behandlungsmöglichkeiten nicht zur Verfügung stehen“. Bisher könnten Pharmafirmen für neu entwickelte Arznei, zu der es keine Alternativen gibt, jeden Preis verlangen – die Kassen müssten ihn, sofern die Wirksamkeit der Arznei nachgewiesen ist, bezahlen. „Darüber müssen wir reden“, sagt Stackelberg. Und handeln, „bevor man uns abzockt“. Der Höchstpreis müsse von einer „demokratisch legitimierten Institution“, etwa dem Gesundheitsministerium, festgelegt werden.

Experten sollen aus ökonomischer Sicht also auch über Leben und Gesundheit von Schwerstkranken befinden dürfen – damit befeuern die Kassen nicht nur die Priorisierungsdebatte unter Medizinern, sie gehen deutlich weiter. Ärztepräsident Jörg-Dietrich Hoppe hatte gefordert, dass medizinische Behandlungen künftig einer von Experten festgelegten Rangfolge unterliegen sollten. Was weniger dringlich sei, könne warten – oder gar nicht mehr erstattet werden. Von der Verweigerung wichtiger Behandlungen aus Kostengründen war keine Rede.

Wenn die Kosten für innovative Medikamente, etwa gegen Krebs oder Alzheimer, nicht gedeckelt würden, könne dies irgendwann die Ressourcen der Krankenkassen und der Beitragszahler sprengen, warnt Stackelberg. Ein Fünftel der Steigerungsraten bei den Arzneiausgaben der GKV – im vergangenen Jahr waren es 28,4 Milliarden Euro – sei schon jetzt allein auf solche Solitär-Medikamente zurückzuführen. Als Beispiel nennt der Verbandsvize die seltene Stoffwechselkrankheit Morbus Gaucher. Deutschlandweit leiden 2000 Menschen darunter, die nötige Enzym-Ersatztherapie kostet pro Patient bis zu 600 000 Euro im Jahr.

„Wenn es keine Therapiealternative gibt, kann man diese Mittel sicher nicht aus dem Erstattungskatalog streichen“, lenkt Wolf-Dieter Ludwig ein. Für den Vorsitzenden der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft wäre das „unethisch“. Lösungen müsse man aber für die neuen Mittel gegen Krebs- und chronische Entzündungskrankheiten finden, die auf Dauer nicht für alle finanzierbar seien. Oft profitiere von ihnen nur ein kleiner Prozentsatz, sagt Ludwig. Zudem sei die Behauptung falsch, dass es sich bei ihnen immer um eindeutige Verbesserungen handle. „Wir wollen nicht, dass bei lebensbedrohlichen Erkrankungen das Geld zum Fenster rausgeworfen wird, das wir anderswo dringend brauchen.“

Nach Ludwigs Beobachtung orientiert sich die Pharmaindustrie derzeit um. Statt auf „Blockbuster“ gegen Volkskrankheiten setze sie zunehmend auf Nischenprodukte, mit denen sich mehr Geld verdienen lässt. Argumentiert werde mit hohen Forschungskosten, sagt Stackelberg. Es könne aber nicht sein, dass international tätige Konzerne diese Kosten vor allem deutschen Beitragszahlern aufbürdeten, nur weil Deutschland bei den Arzneipreisen als Referenzland fungiere.

Das Gesundheitsministerium will sich auf die Debatte nicht einlassen. Selbstverständlich werde das medizinisch Notwendige finanziert, sagt Sprecher Klaus Vater. Für eine Priorisierung von Leistungen gebe es „keine Rechtsgrundlage“. Um Ausgaben zu verringern, hätten die Kassen viele andere Möglichkeiten – etwa Rabattverträge mit Arzneiherstellern. „Würden alle Kassen dem AOK-Beispiel folgen, ließen sich 1,5 Milliarden Euro pro Jahr einsparen.“ Und für „Panikmache oder Alarmismus“ gebe es auch mit Blick auf die Kassenfinanzen keinen Anlass. Die Schulden seien abgebaut, die Kassen-Rücklagen beliefen sich auf vier Milliarden Euro.

Dennoch sind die Arzneiausgaben nach den Krankenhauskosten für die Kassen der zweithöchste Posten. Dabei gibt es Erstattungsbegrenzungen. 73 Prozent der verordneten Arzneimittel sind über Festbeträge gedeckelt. Dadurch habe man 36,4 Milliarden Euro eingespart, sagt Stackelberg; allein in diesem Jahr seien es 4,3 Milliarden gewesen. Man habe es „dauerhaft geschafft, der Marketingmaschinerie und den bisweilen überzogenen Preisforderungen der Pharmaindustrie Paroli zu bieten, ohne dass die Versorgungsqualität bei Arzneimitteln für Versicherte gelitten hätte“. Bei den aktuellen Plänen zur Begrenzung der Herstellerpreise für innovative Arznei ist Letzteres nicht garantiert.

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