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Ein Beamter der Spurensicherung des LKA geht ins Haus des mutmaßlichen Entführers und Mörders von Mohamed.

© dpa

Getötete Jungen Mohamed und Elias: Der "böse Fremde" lenkt von täglicher Gewalt gegen Kinder ab

Bei Fällen wie denen der getöteten Elias und Mohamed tritt schnell in den Hintergrund, dass in Deutschland im Schnitt jeden Tag ein Kind durch Misshandlung stirbt. Wer Gewalt gegen Kinder bagatellisiert, redet den Tätern das Wort. Ein Kommentar.

Von Caroline Fetscher

Auf Schock und Zorn folgen die Fragen. Ein junger Mann raubt kleine Jungen, benutzt sie als lebendige Sexspielzeuge und ermordet die Objekte seiner Lust. Wie konnte es dazu kommen? War doch etwas auffällig an dem „unauffälligen“ Mann? Ist er klinisch krank? Manifestiert sich in seiner gestörten Persönlichkeit „das Böse“?

Anfang Oktober verschleppte Silvio S. aus Brandenburg den unbeaufsichtigten, vier Jahre alten Mohamed vom Gelände einer Berliner Behörde – die zuständig ist für Gesundheit und Soziales. Im Juli hatte derselbe Mann in Potsdam den sechsjährigen Elias beim Spielen abgefangen. An beiden Kindern beging er Sexualmorde.

Jedes Verbrechen dieser Art erzählt eine lange, traumatische Geschichte. Sie mit der Kategorie des „Bösen“ zu mystifizieren führt statt zur Klärung in die Irre. Auch im Fall Silvio S. wird wohl teils ans Licht kommen, wie die massive Störung entstand, und wie der Kriminelle sein Vorgehen vor sich selber rechtfertigte.

Grusel und Empörung über den bösen Fremden

„Ich wusste nicht, was ich tat“, „das Kind hat gar nichts gespürt“, „es ist einfach passiert.“ So sprechen die Täter. Noch im Maßregelvollzug und in Therapiesitzungen werden derlei typische Legitimationsstrategien sichtbar, wie die Studie „Tat-Sachen: Narrative von Sexualstraftätern“ belegt, mitverfasst von Michael Buchholz, Professor an der International Psychoanalytic University in Berlin.

Der Fremde aus dem Nirgendwo greift sich ein unschuldiges Kind: Das bietet Gruselfaktor und Empörungsgenuss. Es führt ebenfalls in die Irre, dass Fälle wie die von Silvio S. ablenken von den weitaus gravierenderen gesellschaftlichen Fakten. Im Durchschnitt werden 500 Kinder pro Tag in Deutschland schwer misshandelt, im Durchschnitt stirbt jeden Tag ein Kind an Misshandlung, meist durch Erwachsene aus dem engsten, familiären Umfeld. Diese alarmierenden Fakten präsentierten zwei Rechtsmediziner der Charité, Michael Tsokos und Saskia Guddat 2014 in ihrer Streitschrift „Deutschland misshandelt seine Kinder“. Präzise forderten sie von der Politik Programme zur Prävention. Wenig ist seither geschehen.

Indes geht das Misshandeln und Morden weiter. An dem Tag, an dem Silvio S. den Jungen Mohamed getötet hat, am 2. Oktober, kam in Mönchengladbach Leo zur Welt. Leo wurde 19 Tage alt. Sein Vater hat ihn zu Tode gefoltert. Der Säugling wurde gequetscht, geschüttelt, geschlagen, missbraucht und mit heißer Milch verbrüht. Die Mutter sah zu, ohne einzugreifen, und sitzt angeklagt wegen Totschlags durch Unterlassung in U-Haft. Der Vater wegen Mord.

Und in Münster steht derzeit eine Mutter vor Gericht, die ihre drei Kinder im Alter 11, 4 und 3 mit Abgasen vergiftet und getötet hat. Fälle wie diese, die gar nicht alle an die Öffentlichkeit gelangen, wühlen die Gemüter weit weniger auf als die des „bösen Mannes“, der von außen kommt.

Jahrzehntelang wurde im Bundestag über das elterliche Recht gestritten, Kindern Schmerzen zufügen zu dürfen, vulgo, das „Züchtigungsrecht“. Erst Ende des Jahres 2000 trat das Recht des Kindes auf gewaltfreie Erziehung in Kraft. Das gesellschaftliche Verleugnen, Bagatellisieren und Tabuisieren der Gewalt gegen Kinder aber hält an, belegt von verschleiernder Wortwahl wie „tragisches Familiendrama“, „schwierige Lebenssituation“, „überforderte Eltern“ – „da ist das einfach passiert.“ Da ist das einfach passiert? Das hört sich an wie die Sprache der Täter.

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