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Getöteter Al-Qaida-Chef: Die Nacht, in der bin Laden starb

Fast zehn Jahre jagten ihn die USA als ihren Staatsfeind Nr. 1, am 2. Mai 2011 erfolgte der Angriff in Abbottabad. Details darüber blieben lange geheim. Eine Rekonstruktion.

Als Osama bin Laden kurz nach Mitternacht Krach im Garten hört, greift er nicht zu seiner Kalaschnikow. Er hat sich mit seiner jüngsten Ehefrau Amal ins Schlafzimmer im zweiten Stock zurückgezogen. Es ist eine mondlose Nacht, so können sie nicht erkennen, was draußen geschieht. Seine Tochter Mariam stürmt die Treppe rauf, wird aber zurückgeschickt. Glaubt man dem pakistanischen Geheimdienstmitarbeiter, der später die Überlebenden der Nacht verhören wird, ist dies der letzte Satz, den bin Laden zu einem seiner Kinder sagen wird: „Geh runter und leg dich wieder ins Bett“.

Draußen haben zwölf Elitesoldaten der US-Kriegsmarine gerade den Absturz ihres Black Hawk MH-60 überlebt. Die Hubschrauberlandung hatten sie oft geprobt, auf einem Testgelände in North Carolina auf einem exakt nachgebauten Anwesen. Allerdings war dort, wie das Magazin „The New Yorker“ später argumentiert, die Lufttemperatur deutlich niedriger, und die bis zu fünf Meter hohe Betonmauer des Areals wurde bloß durch Stacheldraht angedeutet. Vermutlich sind es diese Details, die den Black Hawk über dem Anwesen in Abbottabad in Turbulenzen bringen. Nur weil der Pilot ein Rettungsmanöver einleitet und die Maschine mit der Nase voran ins Gemüsebeet rammt, wird niemand verletzt. Der Pilot des zweiten Black Hawk ändert seinen Plan und landet sicher auf dem freien Feld außerhalb des Anwesens.

Es ist der 2. Mai 2011, und heute wollen sie ihn fangen. Neun Jahre, sieben Monate nach den Terrorattacken von New York und Washington versuchen knapp zwei Dutzend Navy Seals, Angehörige einer Sondereinheit der US-Marine, den Anführer des Netzwerks Al Qaida zu überwältigen. Töten oder gefangen nehmen, lautet der offizielle Auftrag. Wobei Analysten der CIA schon lange überzeugt sind, dass Töten die günstigere Variante darstellt: So werde bin Laden zwar als Märtyrer verehrt, könne dafür aber keinen Prozess als Plattform für Propaganda nutzen.

Die 160 Kilometer von der Ostgrenze Afghanistans bis nach Abbottabad haben die Piloten ohne Scheinwerfer zurückgelegt.  Lokale Behörden sind nicht eingeweiht – als zu groß gilt das Risiko, dass der Plan auffliegt, da Teile des pakistanischen Geheimdienstes mit den Taliban sympathisieren. Man sei skeptisch gewesen, ob die Pakistani „das Geheimnis länger als eine Nanosekunde für sich behalten könnten“, verrät später ein Berater  Barack Obamas dem „New Yorker“.

Das gesamte Anwesen Bin Ladens wird später als 3d-Modell nachgebaut

Im Garten sprengen die Seals zunächst eine Zwischentür und gelangen so zum Hof neben dem Hauptgebäude. Durch ihre Nachtsichtgeräte entdecken sie einen Mann, der aus dem schlichten Gästehaus am Südrand den Kopf herausstreckt, sie töten ihn mit zwei gezielten Schüssen. Es ist Abu Ahmed al Kuwaiti. Der Mann, der sie im Sommer vorigen Jahres unfreiwillig zu dem verdächtigen Anwesen führte.

Den Namen al Kuwaiti hörten US-Ermittler erstmals im Januar 2003 – preisgegeben von einem in Guantanamo festgesetzten Al-Qaida-Kämpfer, der über mehrere Wochen hinweg bis zu 20 Stunden täglich verhört und dabei systematisch durch Hitze, Kälte sowie Schlafentzug gequält wurde. Der Gefangene musste Frauenunterwäsche tragen, wurde an einer Hundeleine durchs Zimmer geführt und zu Kunststücken gezwungen. Sobald er einschlief, dröhnte Musik der Popsängerin Christina Aguilera in Überlautstärke aus Boxen. Wie ein auf der Internetplattform „Wikileaks“ veröffentlichtes Protokoll belegt, erklärte der Gefangene schließlich, dass ein gewisser Abu Ahmed al Kuwaiti bei der Ausbildung der Attentäter für den 11. September 2001 geholfen habe. Später sagte ein zweiter Gefangener unter Folter aus, bei al Kuwaiti handele es sich um einen Vertrauten bin Ladens.

Erst im Sommer 2010 wird al Kuwaiti von Agenten im pakistanischen Peschawar entdeckt. Von nun an wird sein auffälliger weißer Jeep, auf dessen Ersatzreifen-Abdeckung ein weißes Nashorn prangt, mehrere Wochen observiert – bis al Kuwaiti schließlich zu dem weitläufigen Anwesen in der Garnisonsstadt Abbottabad fährt. Das Gebäude gilt in mehrfacher Hinsicht als Sensation. Einerseits, weil das Areal mit dreistöckigem Haupthaus und Nebenbauten mehrere hunderttausend Dollar gekostet haben muss. Kaum vorstellbar, dass hier ein unbedeutendes Mitglied des Netzwerks lebt. Zudem gibt es weder Telefon- noch Internetanschluss, der Müll wird komplett auf dem Anwesen verbrannt. Was noch irritiert: Das Gebäude liegt bloß einen Kilometer von einer pakistanischen Militärakademie entfernt. Das gesamte Anwesen wird später als 3d-Modell nachgebaut und Jedermann in einem Internetvideo zugänglich gemacht:

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Acht Monate lang beobachtete die CIA das Gelände in Abbottabad

Vor Entdeckung des Anwesens existierten etliche Theorien, wo sich bin Laden seit dem Einmarsch der Nato in Afghanistan im Herbst 2001 versteckt haben könnte: Als wahrscheinlich galt ein Rückzug in entlegene Stammesgebiete im Norden Pakistans. Dort waren viele Kämpfer untergetaucht, etliche starben bei Drohnenattacken der US-Armee. Denkbar war auch, dass bin Laden in einem unterirdischen Höhlensystem lebte und die Tücher im Hintergrund seiner Videobotschaften bloß hingen, um nackten Fels zu verbergen.

Acht Monate lang beobachtete die CIA das Gelände in Abbottabad. Zuerst mit Satelliten, später zusätzlich mit Agenten aus der Nähe. So war bald bekannt, dass neben al Kuwaiti auch dessen Frau sowie dessen Bruder hier lebten. Wie der US-Terrorexperte Peter Bergen in seinem jetzt erscheinenden Buch „Die Jagd auf Osama bin Laden“ beschreibt, konnten die CIA-Analysten anhand der Kleidungsstücke, die im Garten auf der Wäscheleine getrocknet wurden, auf weitere Bewohner schließen: drei Frauen, einen Mann und mindestens neun Kinder. Diese Zahlen deckten sich mit dem Wissen um bin Ladens Familie: Nach islamischem Recht standen ihm vier Frauen zu, wobei sich eine 2001 nach Saudi-Arabien abgesetzt hatte.

Die Analysten wussten auch, dass ein erwachsener Mann in dem Haus lebte. Er kam regelmäßig in den Gemüsegarten, lief einige Runden im Kreis, allerdings stets unter Plastikplanen, so dass Überwachungsbilder nur Umrisse der Person zeigten.

Nachdem die Navy Seals Abu Ahmed al Kuwaiti erschossen haben, öffnen sie ein Tor zur Straße. Hier warten Soldaten aus dem zweiten Hubschrauber, dazu ein Dolmetscher und Cairo, ein belgischer Schäferhund. Er soll Bewohner des Hauses an der Flucht hindern und später helfen, versteckte Kammern zu finden, falls sich bin Laden versteckt.

Die Teams schleichen auf das Haupthaus zu, in dem sie den Mann vermuten, der sich von Anhängern „Löwe des Islam“ oder auch „Prinz des Heiligen Kriegs“ nennen lässt, der innerhalb der US-Einsatzgruppe als „Geronimo“ geführt wird. Das Bekanntwerden dieses Details wird später einen Skandal auslösen: Indianerverbände werden sich beschweren, dass der meistgesuchte Terrorist der Welt ausgerechnet unter dem Namen eines Apachenhäuptlings aus dem 19. Jahrhundert firmierte.

Dass sich bin Laden im obersten Stock aufhält, können die Navy Seals bloß vermuten. Während der achtmonatigen Observation ist es nie gelungen, Informationen über das Innere des Baus zu bekommen. US-Terrorexperte Bergen berichtet von einer dem CIA-Direktor vorgelegten Liste mit 38 Vorschlägen, wie man Gewissheit über die Identität der Bewohner erlangen könnte. So habe ein Analyst ernsthaft vorgeschlagen, über dem Areal Stinkbomben abzuwerfen, um die Bewohner ins Freie zu treiben. Ein anderer plante, vor dem Haus unauffällig einen Lautsprecher zu installieren, durch den sich ein CIA-Agent dann als Allah ausgeben und den Bewohnern befehlen könnte, auf die Straße zu treten. Die Pläne wurden verworfen.

Bis zuletzt war nicht sicher, ob sich Bin Laden wirklich dort befand

Bis zuletzt gab es keinen Beweis dafür, dass sich bin Laden tatsächlich auf dem Anwesen befand und dass er überhaupt je hier gewesen war. Am Abend, bevor Barack Obama den Einsatzbefehl gab, schätzte der US-Präsident die Erfolgschancen auf „50 zu 50“.

Auch die Art des Angriffs war lange umstritten. Wie die „New York Times“ später herausfand, wollte Verteidigungsminister Robert Gates statt Hubschraubern lieber B-2-Bomber nach Abbottabad schicken. Um alle Gebäude sowie mögliche Bunker zu zerstören, hätte es fast drei

Dutzend 2000- Pfund-Bomben gebraucht. Dabei wären auch Bewohner der Nachbarschaft ums Leben gekommen, zudem hätte man nie beweisen können, dass bin Laden tatsächlich erwischt wurde. Am Ende befahl Obama den Einsatz der Seals.

Als die ins Haupthaus eindringen, erschießen sie drei weitere Erwachsene, es handelt sich um bin Ladens volljährigen Sohn Khalid, den Bruder von Abu Ahmed al Kuwaiti und dessen Frau. Im Erdgeschoss finden die Soldaten auch das Fernsehzimmer, in dem bin Laden regelmäßig CNN und Al Jazeera schaute und Obamas Pressekonferenzen verfolgte. Während die Frauen und Kinder gefesselt werden, stürmen Seals die oberste Etage. Bin Ladens jüngste Ehefrau Amal wirft sich vor ihren Mann, ein Soldat schießt ihr in den Unterschenkel. Anschließend eröffnet ein Soldat das Feuer auf bin Laden. Die erste Kugel trifft die Brust, die zweite in den Kopf.

In den nächsten 20 Minuten durchsuchen die Seals das Haus, sammeln Festplatten, Briefe und ein Tagebuch ein. Im ersten Stock finden sie das Zimmer, in dem bin Laden offensichtlich seit Jahren seine Videobotschaften aufnahm. Die goldene Robe, die der Terrorchef zu diesen Anlässen trug, hängt ordentlich verstaut in einer Ecke.

Die Seals sprengen den abgestürzten Hubschrauber und steigen in die inzwischen eingetroffene Ersatzmaschine. Bin Ladens Leiche nehmen sie mit. Kurz darauf erreichen erste pakistanische Polizisten den Tatort.

Im Laufe der folgenden Monate gibt das Weiße Haus immer wieder Details aus dem Privatleben des Terrorchefs an die Presse. Neben dem Färbemittel, mit dem bin Laden seinen Bart geschwärzt haben soll, verwundern vor allem dessen Tagebucheinträge. Demnach war ihm die eingeschränkte Handlungsfähigkeit Al Qaidas zwar bewusst, dennoch drängte er auf neue Anschläge in den USA, wenn auch in kleineren Dimensionen: So schlug er etwa vor, Bäume und Zementbrocken auf Eisenbahnschienen zu legen und so Züge entgleisen zu lassen. Auch eine Umbenennung seines Netzwerks stand zur Debatte. Weil vom eigentlichen Titel „Al Qaida al Dschihad“, der „Basis des Heiligen Kriegs“, im Westen nur der vordere Teil verwendet werde, drohe der religiöse Aspekt verloren zu gehen, schrieb bin Laden. Ein Neustart mit eindeutigem Namen könne helfen. Etwa: Jama’at I’Adat al Khilafat al Rashida. Gemeinschaft für die Wiederherstellung des rechtgeleiteten Kalifats. Seine Nachfolger haben die Idee bisher nicht aufgegriffen.

Peter Bergens neues Buch "Die Jagd auf Osama bin Laden" (Deutsche Verlags-Anstalt, 368 Seiten, 19,90 Euro) gewährt ausführliche Einblicke in das Innenleben Al Qaidas und die Anstrengungen der US-Regierung, bin Laden zu finden.

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