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Gleichberechtigung in Ägypten: eine Utopie.

© dpa

Gewalt gegen Frauen in Ägypten: Der ganz alltägliche Horror

Auch nach dem Ende von Hosni Mubaraks Regiment bleibt Ägypten eine männerdominierte Gesellschaft. Erstmals empört sich nun auch die UN-Menschenrechtskommissarin über Massenvergewaltigungen.

Von einer „Nacht des Horrors“ sprachen Helferinnen und Ärzte. Ein Teeverkäufer versuchte sogar mit Flammenstößen aus seiner Gasflasche, die rasenden Angreifer von ihrem Opfer wegzutreiben, das nach Leibeskräften um Hilfe schrie. Mindestens 25 Frauen sind am zweiten Jahrestag der Revolution vor einer Woche auf dem Tahrir-Platz von ganzen Männer-Horden vergewaltigt worden. Was am Abend des Rücktritts von Hosni Mubarak mit dem Missbrauch der CBS-Journalistin Lara Logan durch dutzende junge Angreifer begann, ist inzwischen zu einem Massenverbrechen gewuchert, an dem sich bei Großdemonstrationen auf dem legendären Revolutionsplatz stets hunderte männliche Täter beteiligen. Angewidert meldete sich jetzt erstmals auch die Menschenrechtskommissarin der Vereinten Nationen, Navi Pillay, zu Wort. „Ich verurteile auf Schärfste, dass die Polizei diese Verbrechen nicht verhindert und die Staatsanwaltschaft bis heute nur eine einzige Anzeige erstattet hat, obwohl mehrere hundert Männer an diesen abscheulichen Taten beteiligt waren“, sagte sie. Abgesehen davon gebe es viel zu geringe Anstrengungen, sexuelle Belästigungen und sexuelle Gewalt einzudämmen, die in zahlreichen ägyptischen Städten Gang und Gebe seien.

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Denn die inzwischen weltweit verurteilten Horrortaten gegen Frauen auf dem Tahrir-Platz sind nur die Spitze des Eisberges. Auch im Alltag sind sexuelle Übergriffe in Ägypten und anderen Nationen des Nahen Osten weit verbreitet – auch schon vor dem Arabischen Frühling. Von einem „sozialen Krebs“ sprach bereits 2008 eine Studie des „Ägyptischen Zentrums für Frauenrechte“ (ECWR), nach der 83 Prozent der ägyptischen Frauen sexuell belästigt worden sind – egal ob verschleiert oder unverschleiert. „Ich werde jeden Tag hundert Mal angemacht. Ich habe alles versucht, dies zu stoppen, aber es hört einfach nicht auf“, berichtete eine junge Frau, die als Verkäuferin arbeitet. „Ich trage weite Kleider, schminke mich nicht mehr, tue alles, um meinen Körper zu verbergen“. Einmal seien ihr zwei Männer gefolgt, „plötzlich packten sie mir vor aller Augen zwischen die Beine – ich schrie und rannte weg, keiner der Passanten griff ein“.

In der 18 Tagen des Aufstands gegen Hosni Mubarak seien die Frauen gleichberechtigt mit dabei gewesen, schrieb kürzlich die junge Kuratorin einer Ausstellung in Kairo zum Thema sexuelle Gewalt. Doch „diese Utopie dauerte nicht lange, die Gebrechen der Gesellschaft, die auf so wundersame Weise verschwunden schienen, kehrten mit voller Wucht zurück.“ Ägypten ist eine männerdominierte Gesellschaft. „Die Männer sehen es als ihr Recht an, Frauen anzugrapschen oder ihnen anzügliche Bemerkungen hinterher zu rufen“, sagt Shahira Amin, frühere Starmoderatorin des ägyptischen Fernsehen, die während der Revolution die Brocken hinwarf, weil sie nicht länger Lügen verbreiten wollte. In den überfüllten U-Bahnen oder Bussen haben die Täter leichtes Spiel. Für Frauen dagegen ist die tägliche Fahrt zur Arbeit oft eine demütigende und nervenaufreibende Tortur – eindrucksvoll dokumentiert in dem populären Spielfilm „Kairo 678“. „Egal ob im Bus oder Minibus, jedes Mal fühle ich, wie eine Hand versucht, mich zu berühren“, berichtet eine junge Studentin. „Es kommt derart häufig vor, dass ich den Sitz hinter mir inzwischen ständig im Auge behalte - als wäre ich verrückt.”

Situation auch in anderen arabischen Ländern problematisch

Vorübergehende Freiheit: Frauen während eines Protests gegen Hosni Mubarak.
Vorübergehende Freiheit: Frauen während eines Protests gegen Hosni Mubarak.

© dpa

Genauso verheerend ist auch das Gesamtbild für die arabische Region, das der „Gender Gap Index“ des Genfer Weltwirtschaftsforums zeichnet, der Jahr für Jahr Fortschritte bei der Gleichstellung von Frauen bewertet. So landete auch 2011 wieder - trotz des Arabischen Frühlings - kein arabisches Land auf den ersten 100 Plätzen. Von 135 untersuchten Nationen kam Ägypten auf Rang 123, als arabischer Spitzenreiter belegten die Vereinigten Arabischen Emirate Platz 103, Tunesien Platz 108. Die beiden Nachbarn Saudi-Arabien und Jemen sind zwar beim Pro-Kopf-Einkommen Lichtjahre voneinander entfernt, beim Mangel an Frauenrechten jedoch ganz eng beisammen. Auf den letzten Plätzen 131 und 135 gehören sie zu den Schlusslichtern des gesamten Globus.

So existiert in beiden extrem konservativen Staaten der Arabischen Halbinsel nach wie vor kein Mindestalter für Frauen bei der Hochzeit. Minderjährige können an betagte Männer verheiratet werden, die die Eltern mit einem üppigen Brautgeld ködern. Nicht selten stammen die Kinder aus armen Dörfern in Ägypten. Deren post-revolutionäre Parlamentsmehrheit aus Muslimbrüdern und Salafisten jedoch weigerte sich, in der neuen Verfassung ein Verbot des Kinderhandels aufzunehmen, was diese Praxis des sexuellen Missbrauchs unter Strafe gestellt hätte. Ähnlich wie in Ägypten beklagen nach einer Studie von Menschenrechtlerinnen auch im Jemen 90 Prozent aller Frauen, Opfer sexueller Übergriffe zu sein. Seitdem läuft die Website der Initiative über mit anonymen Erfahrungsberichten. In ihrem sozialen Umfeld jedoch schweigen die meisten Frauen, aus Scham oder weil sie ihre Arbeit nicht verlieren wollen. Einmal sei sie zur Polizei gegangen, berichtete eine 24-jährige Büroangestellte. „Danach war mir klar, es hat keinen Zweck.“ Jetzt ertrage sie alles ohne ein Wort und weine sich nur noch bei Allah aus.

Die Gründe für die jüngsten Exzesse sexueller Gewalt sind vielfältig – in Ägypten wächst Anarchie, die Polizei ist auf dem Tahrir-Platz nicht präsent und die Täter wissen, dass ihnen weder Festnahme noch Strafe drohen. Viele der jungen Männer, die sich nach Einbruch der Dunkelheit in der Menge herumtreiben, sind drogensüchtig. Die sozialen Wurzeln liegen nach Ansicht von Said Sadek, Professor für Soziologie an der Amerikanischen Universität in Kairo, in erster Linie in „Armut, Arbeitslosigkeit und dem Mangel an Lebenschancen“. Auf dem umkämpften Arbeitsmarkt betrachten Männer die Frauen als unliebsame Konkurrenten und machen ihnen deshalb das Leben in der Öffentlichkeit schwer. Die konkreten Täter wiederum seien vor allem junge Arbeitslose, die die hohen Kosten für eine Hochzeit nicht aufbringen können. „Sie sehen in diesen Übergriffen für sich die einzige Möglichkeit, ihre Sexualität auszuleben.“

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