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Wütende Proteste in Indien

© AFP

Gewalt gegen Frauen: Indiens geschundene Töchter

Die Männer, die in Indien eine Medizinstudentin vergewaltigten, müssen sich nun vor Gericht verantworten. Welche gesellschaftlichen Ursachen hat die brutale Gewalt gegen Frauen?

1000 Seiten soll die Anklageschrift samt Anhang dick sein. Es sind Dokumente des Grauens. Im Eiltempo wurde am Donnerstag in Delhi Mordanklage gegen fünf der sechs Männer erhoben, die eine 23-jährige Inderin am 16. Dezember in Delhi vergewaltigt und gefoltert haben. Nach 13 Tagen war die Medizinstudentin am Samstag ihren inneren Wunden erlegen. Der Prozess soll bereits am Wochenende beginnen. Den Beschuldigten könnte die Todesstrafe drohen. Bei dem sechsten Täter ist noch unklar, ob er volljährig ist.

Die junge Frau, deren Name geheim gehalten wird, wurde zur Symbolfigur für das Leid ungezählter Frauen in Indien. Die sechs Männer hatten die 23-Jährige und ihren Freund in Neu Delhi in einen Bus gelockt, dann den Freund bewusstlos geschlagen und die Frau vergewaltigt. Danach folterten sie die Frau mit Eisenstangen. Anschließend warfen sie das schwer verletzte Paar wie Müll auf die Straße und versuchten, die Frau zu überfahren. Ihr Freund konnte sie in letzter Minute wegziehen. Am vergangenen Samstag gab der geschundene Körper der Misshandelten auf.

Ihr Martyrium hat Indien aufgerüttelt, die Fernsehsender kennen kaum noch ein anderes Thema. Ihr Vater fordert wie viele Inder die Todesstrafe für die Täter. Auch die Polizei strebt die höchstmögliche Strafe für die Mörder der 23-Jährigen an – allerdings wird die Todesstrafe in Indien höchst selten tatsächlich vollstreckt.

Die Vergewaltigungswelle geht unterdessen unvermindert weiter. Jeden Tag gibt es Berichte über neue Schreckenstaten. Wie von dem zweijährigen Mädchen, das zu Tode vergewaltigt wurde. Oder dem Mädchen, das erst von einer Männergruppe vergewaltigt und dann angezündet wurde.

Jahrelang hat das Land weggeschaut. Auch die Politik behandelte Gewalt gegen Frauen als Kavaliersdelikt. Selbst in den Parlamenten sitzen Politiker, gegen die wegen sexueller Gewalt oder Mord ermittelt wird. Doch nun tut sich etwas. Erstmals stehen Menschen auf. Angeführt werden die Proteste von Studentinnen und Studenten, von der Mittelschicht, doch auch Menschen aus allen Schichten und allen Altersgruppen sind mit dabei. Zwar sind die Proteste kleiner geworden, doch sie gehen nicht minder engagiert weiter. Sogar in Nepal, Bangladesch und Pakistan, wo Frauen ähnliches Leid erfahren, kam es zu Kundgebungen.

Opfer werden gedemütigt und weiter verfolgt

Auch die Parteien überschlagen sich jetzt mit Vorschlägen, wie man die Gewalt gegen Frauen eindämmen könnte. Viele davon sind eher populistisch als hilfreich, wie die chemische Kastration von Tätern. Doch immerhin hat die Regierung nun Schnellgerichte eingesetzt, damit Vergewaltigungsfälle nicht länger verschleppt werden. Das ist ein erster Schritt.

Im Jahr 2011 wurden laut offiziellen Zahlen 24 206 Vergewaltigungen in Indien registriert. Doch dies ist nur die Spitze des Eisbergs. Experten gehen davon aus, dass die Dunkelziffer hundert Mal höher sein könnte. So werden die meisten Vergewaltigungen nie angezeigt. Familien setzen die Opfer unter Druck, zu schweigen. Täter bedrohen ihre Opfer weiter. Richter verdonnern sie dazu, ihre Vergewaltiger zu heiraten.

Vergewaltigung in Indien ist zudem gesetzlich so eng definiert, dass vieles gar nicht als Vergewaltigung gilt: So zählt nur vaginale Penetration als Vergewaltigung. Erzwungener Oral- oder Analverkehr dagegen nicht. Vergewaltigung in der Ehe ist überhaupt kein Straftatbestand, sondern Recht des Mannes. Die Regierung hat nun angekündigt, die Gesetze zu überarbeiten und zu verschärfen.

Selbst wenn die Opfer den Gang zur Polizei wagen und diese sich nicht weigert – wie oft geschehen –, die Anzeige aufzunehmen, geraten Aussage und medizinische Tests schnell zu einem demütigenden Albtraum. So wird bis heute der „Fingertest“ praktiziert. Dabei schieben die Ärzte dem Opfer zwei Finger in die Vagina, um zu testen, wie weit diese ist. Dies soll Auskunft geben, ob das Opfer „an Sex gewohnt“ ist. Der „Fingertest“ wird bis heute als Beweis anerkannt und von Anwälten benutzt, um Frauen als „Flittchen“ zu diskreditieren. Die wenigen Fälle, die es vor Gericht schaffen, ziehen sich oft über Jahre hin, bis die Opfer zermürbt aufgeben. Drei von vier Angeklagten werden freigesprochen. Die Opfer dagegen sozial geächtet.

Es braucht ein Umdenken in der gesamten Gesellschaft. Weite Teile von Indiens Gesellschaft sind von einem mittelalterlichen Frauenbild geprägt. Dabei hat Indien mächtige Frauen hervorgebracht. Schon lange vor Deutschland hatte es mit Indira Gandhi eine Regierungschefin, heute gilt ihre Schwiegertochter Sonia Gandhi als die heimliche Regentin. Doch zugleich behandelt Indien viele seiner Frauen wie Dreck und verehrt Männer wie kleine Götter.

Eine Studie der Thomson Reuters Foundation kommt zu dem Schluss, dass Indien das frauenfeindlichste Land unter den G-20-Staaten ist. Jedes Jahr werden zehntausende Föten abgetrieben, nur weil sie weiblich sind. Jede Stunde wird eine Frau wegen der Mitgift ermordet. Ehrenmorde, Zwangs- und Kinderheiraten, Säureattacken sind verbreitet. Erst wenn Frauen einen Sohn gebären, sind sie etwas wert. mit epd

Christine Möllhoff

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