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Politik: Gläsernes Parlament

In den USA hat kein Abgeordneter das Recht, sich gegen Fernsehübertragung zu wehren

Was öffentlich ist, darf auch gezeigt werden. Was man schildern darf, darf man auch filmen. Alle Medien – ob Presse, Radio oder TV – müssen gleich behandelt werden. Eine Privilegierung einzelner Medien verstößt gegen das Gleichheitsgebot. Auf diese vier Grundsätze lässt sich die Haltung der Amerikaner zur Frage bringen, ob ein parlamentarischer Untersuchungsausschuss im Fernsehen übertragen werden darf. Ihre Antwort lautet: Natürlich darf er. Und kein Abgeordneter hat das Recht, sich gegen das Filmen seiner Aussage zu wehren.

In den USA gilt der Grundsatz: Was nicht geheim ist, ist öffentlich. Die Unterscheidung zwischen Print- und Fernsehöffentlichkeit wirkt hier willkürlich. Nur bei der Justiz gibt es Ausnahmen. Eine davon ist der Michael-Jackson-Prozess. Aber da geht es um Kindesmissbrauch. Im Gericht von Santa Maria stehen Kinder im Zeugenstand. Sie verdienen besonderen Schutz.

Das Gebot der Öffentlichkeit ist in den USA sehr ausgeprägt. Die Vita jedes Politikers wird durchleuchtet. Selbst aktuelle Steuererklärungen, auch die des Präsidenten, werden publiziert. Einkünfte, Nebeneinkünfte, sonstige Vermögen: alles bekannt. Regelmäßig müssen Geheimdienste wie die CIA in einem Maße Rechenschaft über ihre Arbeit ablegen, das bei europäischen Kollegen Verwunderung auslöst. Und ebenso regelmäßig wird die Regierung, unter Berufung auf den „Freedom of Information Act“, der gesetzlichen Grundlage der „publicity“, zur höchsten Transparenz gezwungen.

Nahezu gläsern ist auch der parlamentarische Betrieb. Im März 1979 begann das Repräsentantenhaus, seine Sitzungen mit eigener Kamera aufzunehmen. Im selben Jahr wurde der Info-Kanal C-Span gegründet. An dem privaten, nicht profitorientierten TV-Sender sind alle führenden Kabel- und Satellitenanstalten beteiligt. Seit 1982 läuft das Programm rund um die Uhr. Als im Juni 1986 auch der Senat beschloss, seine Sitzungen öffentlich abzuhalten, kam C-Span2 hinzu. Wen morgens um drei Schlaflosigkeit plagt, der kann sich eine Unterausschusssitzung zur Reform des föderalen Energieversorgungssystems anschauen. Manchmal hilft’s. Live-Übertragungen von Untersuchungsausschüssen gehören zu den Sternstunden der US-Demokratie. Viele Kabinettsmitglieder der Bush-Regierung mussten etwa vor der „Nine-Eleven“-Kommission aussagen. Am spannendsten war der Auftritt von Ex-Sicherheitsberaterin Condoleezza Rice. Wer im Weißen Haus war wann vor einem Terroranschlag gewarnt worden? Auch die gesamte Militärführung, bis hin zu Verteidigungsminister Donald Rumsfeld, musste sich erklären. Es ging um die Folteraffäre von Abu Ghraib. Was die Nation bewegt, will sie öffentlich verhandelt wissen. Und öffentlich heißt in erster Linie: fernsehöffentlich.

Natürlich verändert die Dauerpräsenz von Kameras die Politik. Reden müssen prägnant sein. Sachkenntnis mit Esprit ist besser als ohne. Als George Washington vor mehr als 200 Jahren seine Inaugurationsrede hielt, tat er das vor wenigen Notablen. Sein zweiter, kompliziert verschlungener Satz bestand aus 87 Worten. Im TV-Zeitalter wäre das unmöglich.

Auch Klüngeleien macht das Fernsehen schwieriger. Früher genügten Disziplin, Verlässlichkeit und Parteientreue, um Karriere zu machen. Hinzu kommen müssen nun feste Überzeugungen, eine klare, verständliche Sprache sowie die Fähigkeit, komplizierte Dinge einfach zu formulieren. Das Fernsehen liebt rhetorisch versierte, telegene Rebellen. Und kluge Quereinsteiger können es zur Profilierung nutzen. Es verschafft ihnen einen Vorteil gegenüber drögen Parteifunktionären. Schaden solche Trends der Politik insgesamt? Das glaubt kaum ein Amerikaner.

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