zum Hauptinhalt
Verwitterter Schriftzug in Magdeburg: Gleichwertige Gemeinschaft erreichen

© dpa

Gleichwertige Lebensverhältnisse: Und trotzdem lieben die Menschen ihre Heimat

Auch im Westen war nie alles gleich: Vertriebene kamen in den Norden prozentual mehr als in den Süden. Ein Kommentar

Ein Kommentar von Gerd Appenzeller

„Eine Annäherung an gleichwertige Lebensverhältnisse findet derzeit nicht statt.“ Dieser Satz steht in einer Studie des Institutes für Medienforschung und Urbanistik (IMU), die für die IG Metall erarbeitet wurde. Erwähnt wurde die Studie, die die Gewerkschaft anlässlich des 25. Jahrestages der deutschen Vereinigung in Auftrag gegeben hatte, am 24. September in einem Bericht in dieser Zeitung. Überschrieben war der mit dem Titel „Der Osten kommt nicht ran“.
Das gibt den Nachrichteninhalt korrekt wieder, denn gerade in den strukturschwachen Regionen Brandenburgs, Mecklenburg-Vorpommerns und Sachsen-Anhalts könnte eine Negativspirale in Gang kommen. So heißt es in dem Bericht im Wirtschaftsteil des Tagesspiegels denn auch weiter: Niedrige Löhne führen zu niedrigen Renten, was zu Altersarmut führen kann.

Der Artikel 72 wird gerne als eine Art von Faustpfand verwendet

Von der zitierten Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse in ganz Deutschland aber ist im Artikel 72 des Grundgesetzes die Rede. Da geht es um die sogenannte konkurrierende Gesetzgebung, um Bereiche, in denen eigentlich die Länder die Gesetzgebungskompetenz haben, es sei denn, der Bund macht von seinem Recht Gebrauch, unter anderem, um gleichwertige Lebensverhältnisse herzustellen. Im führenden Grundgesetzkommentar, dem Maunz Dürig, wird dazu zwar klargestellt, dass mit den gleichwertigen Lebensverhältnissen nicht eine Gleichheit von Löhnen oder Bildungseinrichtungen und anderen Institutionen der öffentlichen Daseinsfürsorge gemeint sei. Dennoch wird der Artikel 72, seit der Wiedervereinigung verstärkt, gerne als eine Art von Faustpfand dafür verwendet, dass der Bund für soziale Chancengleichheit verantwortlich sei. Dahinter steckt ein großer Irrtum, nämlich der, dass es in der Bundesrepublik jemals gleichwertige Lebensverhältnisse gegeben habe. Wenn man einmal davon absieht, dass überall das gleiche Strafgesetzbuch und auch ein identisches Bürgerliches Gesetzbuch, das BGB, gilt, ist im alten Westdeutschland so ziemlich alles unterschiedlich gewesen, was unterschiedlich sein konnte, gerade auch im im sozialen Bereich.

Schon vor 40 Jahren, als in Bayern und Baden-Württemberg auch kleine und mittlere Städte fast überall behäbigen Wohlstand ausstrahlten, wirkten weite Teile Niedersachsens und Schleswig-Holsteins noch wie zurückgebliebene Entwicklungsregionen. Im Süden und Südwesten waren die Reallöhne deutlich höher als im Norden, und das lag nicht an der parteipolitischen Färbung der jeweiligen Landesregierungen. Schleswig-Holstein wurde von 1951 bis 1988 von christdemokratischen Ministerpräsidenten regiert, Niedersachsens Landesregierungen waren lange Jahre CDU-geführt. Aber beide Länder gingen mit großen Standortnachteilen in die bundesrepublikanische Geschichte – und verpassten Innovationen. Während sich Bayern und Baden-Württemberg zielstrebig um Industrialisierung kümmerten (die Leistung von Franz Josef Strauß wurde unlängst erst wieder gewürdigt), richteten sich Schleswig- Holstein und Niedersachsen in ihrer agrarischen Tradition ein. Niedersachsen gilt heute noch als das Schlachthaus der Republik, und wenn sich nicht um Volkswagen ein mächtiger wertschöpferischer Kern etabliert hätte, stünde das Land noch weit schlechter da.

Die norddeutschen Küstenländer mussten sich mit Strukturproblemen herumschlagen

Zu den Start-Handicaps der beiden westdeutschen Nordländer zählt auch, dass sie prozentual weit mehr armen Vertriebenen eine Heimat geben mussten als die beiden Länder im Süden. 1950 waren 27 Prozent der Einwohner Niedersachsens Vertriebene, in Schleswig-Holstein gar 33 Prozent – zum Vergleich: in Mecklenburg- Vorpommern lag der Prozentsatz bei 45, in Bayern bei 21 und in Baden-Württemberg bei nur 13,5 Prozent.

Während sich die norddeutschen Küstenländer mit Strukturproblemen herumschlagen mussten – die Werftindustrie verlor Marktanteile gegen die asiatischen Staaten –, profitierte vor allem Bayern von der deutschen Teilung. Spätestens seit dem Berlin-Ultimatum Chruschtschows 1958 beschleunigte sich die Abwanderung von Spitzentechnologien aus West-Berlin, den Verlust des Konzernkerns von Siemens hat die Stadt bis heute nicht verdaut. So, wie es die Angleichung der Lebensverhältnisse in Mecklenburg-Vorpommern an die in Bayern nie geben wird, kann auch Schleswig-Holstein den angeborenen ökonomischen Startnachteil nie aufholen, eine Gleichheit wird es nicht geben. Und trotzdem lieben die Menschen, die dort geboren sind, ihre Heimat. Das zählt.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false