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© Thilo Rückeis

Gorbatschow in Berlin: Vom Wunder des Wandels

Es gibt ein Land, das Michail Gorbatschow immer dankbar ist, sagt Hans-Dietrich Genscher beim gemeinsamen Mittagessen in Berlin. Dass damit nur Deutschland gemeint ist, weiß Gorbatschow von vielen Besuchen.

Viel zu klein ist der Säulensaal, um all die zu empfangen, die gerne gekommen wären zum Mittagessen mit den Ehrenbürgern Michail Gorbatschow und Hans-Dietrich Genscher. Aber es ist der einzig freie Raum hier heute; an der Tafel ist für nur 46 Gäste gedeckt. Das Rote Rathaus ist belegt von der Hochschulmesse, die früher angemeldet war als das Ehrenmahl heute. Überall wuseln also Jugendliche herum, sitzen links und rechts auf den Stufen mit dem dunkelroten Teppich, als Gorbatschow, Genscher und der Regierende Bürgermeister kurz vor halb eins hinaufgehen. So fällt die junge, blonde Frau an Gorbatschows Seite zunächst gar nicht weiter auf: Anastasia Virganskaya, die in Jeans und roten Converse, mit T-Shirt und schwarzer Lederjacke ihren Großvater in Berlin begleitet.

Fünf ehemalige Regierende Bürgermeister sind gekommen, Eberhard Diepgen, Walter Momper, Dietrich Stobbe, Klaus Schütz und Richard von Weizsäcker, Senatoren und Fraktionsvorsitzende, auch Sigmund Jähn ist da, der erste Deutsche im All. Der Kosmonaut trägt seinen goldenen Orden „Held der Sowjetunion“; Gorbatschow trägt einen schwarzen Rollkragenpullover.

Oben angekommen, dankt Wowereit zunächst den beiden Ehrenbürgern für deren Weitblick und diplomatisches Geschick, die zu dem geführt hätten, was in Berlin noch immer wie ein Wunder erscheine. Der Wandel habe besonderer Persönlichkeiten bedurft, Gorbatschow und Genscher hätten wesentlich zur Wiedervereinigung beigetragen. Wer sich heute beschwere über dieses und jenes, möge sich erinnern an die glücklichsten Stunden, die Berlin je erlebt habe.

Vorab gratuliert Wowereit dem früheren Außenminister Genscher zur Auszeichnung mit der Urania-Medaille, es folgt der Eintrag beider ins Gästebuch der Stadt – und ein kurzes, geflüstertes hin und her, über das Gorbatschow sogleich aufklären kann: Die Wiedervereinigung, sagt er lächelnd auf Russisch, sei leichter gewesen als die Einigung, wer nun zuerst rede, er oder Genscher.

Der frühere Generalsekretär der Kommunistischen Partei und Präsident der Sowjetunion erinnert an den Sommer von 1989, spricht von seinen Begegnungen mit Helmut Kohl, von den halb ernsten, halb leichthin vorgetragenen gegenseitigen Versicherungen, die Wiedervereinigung werde schon kommen – irgendwann im 21. Jahrhundert. Und dann geht Gorbatschow noch weiter zurück, ins Jahr 1966, als er Ost-Berlin besuchte. Dunkle, komische Häuser habe er in Erinnerung, sagt Gorbatschow. Heute aber sehe er hier eine schöne, weiße Stadt, und das alles hätten die Deutschen selbst geschafft, ohne Hilfe. Deshalb werde das Land auch besser als andere aus der gegenwärtigen Krise kommen. Er jedenfalls wünsche für weitere tausend Jahre eine glückliche Zukunft.

Genscher, der wie Gorbatschow auch vom Regierenden Bürgermeister gerahmte Fotos vom Brandenburger Tor geschenkt bekommt, mal mit der Mauer, mal ohne, dankt dem Gast aus Moskau, auch für den Rat, den dieser weiterhin gebe; das sei für ihn von großer Bedeutung. Er nennt Gorbatschow einen wichtigen Anker für die deutsch-russische Freundschaft, und schließlich sagt Genscher: Es gibt ein Land, das Gorbatschow immer dankbar ist.

Dass damit nur Deutschland gemeint ist, weiß Gorbatschow von vielen Besuchen. Bereits am Vormittag wieder, am Brandenburger Tor, liefen die Leute erfreut auf ihn zu, und nach dem Essen, Jacobsmuscheln und Hummer, Kalbsrücken, Spargel und Brunnenkresseemulsion, Mousse mit Mandel, von Sternekoch Matthias Buchholz vorbereitet, standen schon junge Besucher der Hochschulmesse vor dem Saal, um ein Autogramm von ihm, einem Politiker aus einem fernen Land, einer fernen Zeit zu erhalten. Was für ein Zeichen: Als Gorbatschow wichtig war für ihr Leben, waren sie noch nicht auf der Welt.

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