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Grenzfluss Jordan: Lauf des Wassers

Der Jordan war ein mächtiger Strom, dann wurde er zur Grenze und verödete. Die Anreinerstaaten bauten Dämme, neideten einander jeden Tropfen. Aber Gidon Bromberg kämpft dafür, dass aus dem stinkenden Rinnsal wieder „ein richtiger Fluss“ wird. Der siebte Teil unserer Sommerserie

Bevor man den Fluss sehen kann, ist er zu hören. Gidon Bromberg hält inne. Da, dieses Rauschen! Jahrelang hat der Mann darum gekämpft, das Geräusch hören zu können. „Noch vor zwei Jahren sagte man mir, mein Vorhaben sei illusorisch, und ich verrückt.“

Bromberg ist 50 Jahre alt und Umweltschützer, und gerade jetzt auf dem Weg zu einem Traum. Es geht darin um die Wiederbelebung des Jordans, dieses mythischen Flusses, der sich im Norden Israels aus libanesischen und syrischen Quellen speist und der im Toten Meer endet. Um ihn gibt es viel Streit. Er war lange eine Demarkationslinie und sein Wasser ein politisches Pfand im Kampf der Anreiner, Israels, Jordaniens und der Palästinenser. In diesem Konflikt versiegte der Fluss, hörte auf zu rauschen, war nur noch ein Rinnsal.

Aber im Mai ging Brombergs Traum in Erfüllung, man kann es von Weitem hören. Etwa zwei Kilometer südlich vom See Genezareth ragt ein gewaltiges, blaues Rohr aus der Erde. Wasser sprudelt daraus hervor. „Israel lässt erstmals wieder Frischwasser in den unteren Jordan“, erklärt Bromberg, und kann kaum aufhören zu lächeln. „Dieses Jahr werden es zwar nur sechs Millionen Kubikmeter sein, aber die Wasserbehörde will das innerhalb weniger Jahre auf 30 Millionen aufstocken.“

Die Menge ist klein für die Größe des Flusses. Doch der kleine Strom, der hier seinen Anfang nimmt, ist ein viel versprechender Beginn. Für etwas, das als unmöglich galt: Staaten im chronisch wasserarmen Nahen Osten „verschwenden“ Frischwasser für Umweltschutz, ehemalige Erzfeinde kooperieren zu beiderseitigem Nutzen.

Jemand der den Jordan vor etwa hundert Jahren kennengelernt hätte, würde ihn heute nicht wieder erkennen. Damals war er ein für hiesige Verhältnisse „gewaltiger Strom“, wie Bromberg sagt, „eigentlich das einzige nennenswerte Gewässer. Andere Bäche trockneten im Sommer meist aus“. Die 100 Kilometer zwischen See Genezareth und Totem Meer hingegen waren das ganze Jahr hindurch eine blühende Oase inmitten karger Wüste. Der niedrigste Fluss der Welt führte jährlich rund 1,4 Milliarden Kubikmeter Wasser. Fische und Otter tummelten sich darin, Leoparden labten sich an den Fluten. Über den Weiden am Ufer zogen zwei Mal im Jahr hunderte Millionen Wandervögel hinweg – schließlich liegt die Jordansenke auf der drittwichtigsten Zugvogel-Route der Erde.

Der amerikanische Marine-Lieutenant William Francis Lynch, der 1848 die erste Expedition den Fluss entlang leitete, trieb auf seinen Booten mit einer Geschwindigkeit von elf Stundenkilometern Richtung Süden. Ein Mitglied der Expedition verlor in den Stromschnellen das Leben. Noch 1917 musste der britische General Edmund Allenby bei der Eroberung Palästinas eine hundert Meter lange Pontonbrücke errichten, um den Fluss passierbar zu machen. Heute sind die klaren Zuflüsse, die Lynch beschrieb, ausgetrocknet oder mit Abwasser gefüllt. Statt gurgelnder Stromschnellen ist der Jordan eine Kloake, an den meisten Stellen nicht breiter als fünf Meter und höchstens 20 Zentimeter tief.

Der Niedergang des Jordans begann nach der Eroberung durch die Briten im ersten Weltkrieg. Sie errichteten Staudämme an seinen Nebenflüssen, um Strom zu erzeugen. Israels Staatsgründung 1948 und der darauf folgende Unabhängigkeitskrieg waren der nächste große Wendepunkt. Der Jordan wurde zum Grenzfluss verfeindeter Staaten. Bromberg drückt das Dilemma so aus: „Es ging nicht nur darum, Wasser selber zu nutzen, sondern auch darum, dem Nachbarstaat dessen Nutzung zu verweigern.“

Syrien errichtete Staubecken entlang des Yarmuk, Libanon am Hazbani, die Jordanier an allen kleinen Nebenflüssen. Sie entzogen dem Fluss so etwa die Hälfte seines Wassers. Am meisten jedoch zweigte Israel ab. In den 50er Jahren errichtete es einen gewaltigen Kanal, der Wasser vom See Genezareth nach Tel Aviv und weiter in den Negev leitete, um, gemäß israelischer Ideologie, die Wüste zum Blühen zu bringen. Jährlich wurden nun 450 Millionen Kubikmeter aus dem See abgepumpt, der Abfluss in den Jordan wurde mit einem Damm gestoppt. Weniger als zwei Prozent der ursprünglichen Wassermenge gelangten noch in den Fluss.

Minen, Stacheldraht und ein Idyll

Das hatte Folgen für Orte mit gewaltiger historischer Bedeutung. Die Klöster von Qasr al Yahud litten am stärksten. Die kleine Furt am Jordan ist seit Jahrhunderten Wallfahrtsort für christliche Pilger. Etliche kleine Kirchen und Klöster, deren Fundamente aus dem vierten Jahrhundert stammen, säumen den Weg zu der Stelle im Fluss, an der Johannes Jesus getauft haben soll, und Jesus „den Geist Gottes sah gleich als eine Taube herabfahren und über ihn kommen“, wie Matthäus schreibt. Auch für Juden hat der Ort große Bedeutung: Hier sollen die Kinder Israels nach dem Auszug aus Ägypten ins Land gekommen sein und mit der Eroberung Kanaans begonnen haben.

In den 60er und 70er Jahren wurde das Grenzgebiet zum Ausgangspunkt für palästinensische Terrorkommandos, die von Jordanien aus durch das trockene Flussbett in Israel einfielen. Die israelische Armee verminte das Gebiet und zäunte es mit Stacheldraht ein. Die Klöster kann man heute wegen der Minen nicht mehr betreten, 44 Jahre lang hatten nur Grenzpatrouillen Zutritt.

Die Taufe findet deshalb heute in Yardenit statt. Am Ufer direkt südlich des Sees Genezareth stehen Gruppen in weißen Gewändern. Einzeln waten die Pilger an Metallgeländern ins hüfthohe Wasser. Sie singen. Leise rascheln gewaltige Eukalyptusbäume im warmen Sommerwind. Mitten im Fluss wartet der Priester. Ein kleiner Junge kommt schüchtern lächelnd zu ihm, der Priester legt ihm die Hand mit einem Segensspruch auf die Stirn, hält ihm mit der anderen die Nase zu und taucht ihn rücklings unter.

Näher kann man dem Original wohl kaum kommen. Etwa 600 000 Pilger zieht es jedes Jahr hierher, Yardenit ist eine der am meisten besuchten Touristenattraktionen im Land. Ein hervorragendes Geschäft, und eine gewaltige Augenwischerei. Findet Gidon Bromberg: „Erst einmal befinden wir uns gar nicht im ursprünglichen Flussbett“, sagt er. Der Kanal wurde in den 20er Jahren von den Briten angelegt, die auch die Eukalyptusbäume aus Australien importierten und anpflanzten, um Malaria zu bekämpfen. Das Gewässer, in dem die Menschen eintauchen, sei zudem gar kein Fluss, „sondern ein zwei Kilometer langer Freiluftpool, in den sauberes Wasser aus dem See Genezareth gepumpt wird“, sagt Bromberg. Ein paar Flussbiegungen weiter südlich endet das Idyll an einem Damm.

Wer wissen will, wie der Fluss ursprünglich aussah, muss zum oberen Jordan fahren, also zu dem Teil des Flusses, der sich in den See Genezareth ergießt. Der befinde sich „zumeist in hervorragendem Zustand“, wie Bromberg sagt. Dichte Vegetation säumt den immer breiter werdenden, klaren Bergbach, der längst einer der beliebtesten Ferienorte Israels ist. Schon von weitem hört man das Kreischen der Kinder, die hier in den Sommerferien Kanus mieten und sich bei 37 Grad im Schatten erfrischen.

Ähnliches wünscht sich Bromberg für den gesamten Fluss. Der Rechtsanwalt wanderte 1988 aus ideologischen Gründen von Australien aus nach Israel ein, zu einer Zeit, in der die erste Intifada im Land tobte. „Ich wollte den Friedensprozess vorantreiben“, sagt Bromberg. Allgemeiner Pessimismus scheint ihn nur noch mehr anzuspornen.

Schon in Australien war er als Umweltschützer tätig gewesen. In seiner neuen Heimat volontierte er bei einer israelischen Umweltorganisation, 1993 schrieb er seine These über die ökologischen Konsequenzen des Friedensprozesses: „Damals wäre ein Frieden verheerend für die Umwelt gewesen“, sagt Bromberg.

Politiker träumten von 50 000 Hotelzimmern allein am Toten Meer, planten eine achtspurige Autobahn entlang des Jordans, die Afrika mit Europa verbinden sollte. „Es gab überhaupt kein Bewusstsein für Umweltfragen.“

Die zweite Intifada, die jede Aussicht auf einen baldigen Frieden zwischen Israelis und Palästinensern zerstörte, gab Bromberg paradoxerweise neue Hoffnung. „Ich musste meinen Ansatz überdenken und umformulieren. Kooperation in Umweltfragen konnte nun zu einem Vehikel für Frieden werden.“ Er gründete die Organisation „Friends of the Earth Middle East“ (FoEME), die „einzige überregionale Organisation in unserer Region“, wie Bromberg stolz sagt. Sie hat drei Direktoren. Einen israelischen, einen jordanischen, und einen palästinensischen. Nirgends sonst sind Israelis, Palästinenser und Jordanier auf ähnliche Weise ebenbürtig vertreten.

Wenn der Otter zurückkehrt

„Als wir 2005 unsere Kampagne für den Jordan starteten“, erzählt Bromberg, „dachten alle, wir seien eine Bande von Leuten, die den ganzen Tag Bäume streichelt.“ Deswegen gaben Bromberg und seine Mitstreiter zuerst Studien in Auftrag, die die wirtschaftlichen Vorteile einer Rehabilitation des Jordans erforschten. Sie richteten einen „Nachbar-Wanderpfad“ ein, damit die Anrainer mit eigenen Augen sehen konnten, wie schlecht es um ihren Fluss bestellt war. „Sie mussten sich ja nur Yardenit anschauen, um zu sehen, was für ein wirtschaftliches Potential ihnen mit dem jetzigen Zustand des Gewässers verloren geht.“

Noch fließt direkt neben dem blauen Frischwasserrohr, auf das Bromberg so stolz ist, stinkendes, schäumend grünes Abwasser ins Flussbett. Die Gischt riecht nach Fäkalien. Doch Bromberg ist zuversichtlich. „Das ist das letzte Abwasserrohr auf israelischer Seite. Bald werden alle Abwässer geklärt.“ Und er zeigt auf das in der Nachbarschaft entstehende Klärwerk Beitaniyah, das sich in der letzten Bauphase befindet.

Es markiert den letzten Abschnitt eines Wandels, in dem Israel seinen Wasserhaushalt im vergangenen Jahrzehnt umgestellt hat. Noch zur Jahrtausendwende drohte dem Land eine Wassernot. Doch inzwischen werden mehr als 80 Prozent des Verbrauchs wiederverwertet. Das ist Weltspitze. Spanien liegt mit 16 Prozent auf Rang zwei. Die Entwicklung der Membrantechnologie zur Entsalzung von Meerwasser hat überdies dazu geführt, dass Israel schon bald 600 Millionen Kubikmeter Wasser im Jahr aus dem Mittelmeer abzapft. Damit erhöht es seine Abhängigkeit vom Erdöl, verfügt aber mit dem Recycling über eine Milliarde Kubikmeter Süßwasser mehr im Jahr.

„Israel muss nicht mehr sparen“, sagt Bromberg. Den Behörden falle es jetzt leichter, dem Jordan Wasser zur Verfügung zu stellen und mit Palästinensern zu teilen. Zudem verkaufte Israel im vergangenen Jahr 13 Millionen Kubikmeter Wasser an Jordanien. Dort entstehen Klärwerke dank finanzieller Unterstützung aus den USA. Die Japaner bauen eine Anlage im palästinensischen Jericho.

Nirgends sieht man den Wandel deutlicher als im einst vereinsamten Qasr al Yahud. Der Pilgerort ist kein militärisches Sperrgebiet mehr. Die Armee räumt Minen entlang des gesamten Flusslaufs, der Zugang zur Furt ist frei. Zwischen mannshohem Schilf und Tamariskenbäumen wurde für Pilger eine gewaltige Holzplattform errichtet. Ein Schild warnt hier zwar immer noch, dass der braune Bach „kein Trinkwasser enthält“. Aber Dank des Andrangs der Menschen wird die Wasserqualität jetzt regelmäßig überwacht.

Alles soll fließen, die Zeit der Dämme, des Neids und Eigennutzes sei vorüber. Bromberg ist da unermüdlich. Mehr Wasser, lautet seine Parole. Mehr Wasser, um aus dem Jordan wieder einen „richtigen Fluss“ zu machen. „Unser Endziel“, sagt er, „sind 400 Millionen Kubikmeter Frischwasser im Jordan.“ 230 Millionen davon soll von Israel gespendet werden, 100 Millionen von Syrien, und 80 Millionen von Jordanien. „So viel brauchen wir, um Jahrzehnte von Vernachlässigung wiedergutzumachen und das Ökosystem wiederherzustellen.“

Das würde auch eine Rettung für das Tote Meer, den Endpunkt des Jordans, bedeuten. Seit den 80er Jahren sinkt der Pegel des salzigen Binnensees jedes Jahr um durchschnittlich einen Meter, seine Oberfläche ist um etwa ein Drittel geschrumpft.

Ist es vielleicht zu spät, um die ökologische Katastrophe in der an Wasser armen Region zu verhindern? Von seinem Ziel ist Bromberg jedenfalls weit entfernt. Israel machte mit dem Versprechen von 30 Millionen Kubikmetern zwar einen ersten Schritt, Jordanien leidet jedoch unter akutem Wassermangel und will kein Frischwasser zusteuern. Und Syrien? Da könne paradoxerweise der Bürgerkrieg von Nutzen sein. Das Chaos verhindert die aufwendige Instandhaltung der zahlreichen kleinen Dämme. Bromberg rechnet damit, dass schon bald, unbeabsichtigt, wieder mehr Wasser in den Jordan gelangen könnte.

Nur, was ihn selbst betrifft, hat er klare Vorstellungen. Er gelobt erst zu ruhen, wenn der Otter wieder in den unteren Jordan zurückkehrt: „Das wäre ein Zeichen, dass der Fluss sich erholt hat.“

Erschienen auf der Dritten Seite.

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