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Griechenland: Der geplünderte Staat

Freie Tage hatten 28 Stunden, und Urlaube im Luxushotel bezahlte der Fiskus. Staatsangestellte hatten in Griechenland viele Privilegien. Jetzt sind diese durch den Sparkurs bedroht, und Gewerkschafter Nikos Fotopoulos sagt: "Das werden wir nicht zulassen".

Vorgestern ist Nikos Fotopoulos auf einen Schornstein geklettert, 174 Meter hoch. „Ich müsste lügen, wenn ich sagen würde, dass ich keine Angst hatte“, gesteht Fotopoulos. „Aber es musste sein, es war ein heiliger Zweck.“

Fotopoulos ist Chef eines Zusammenschlusses mehrerer Gewerkschaften, genannt Genop, beim staatlichen Stromversorger DEI. Der rot-weiß geringelte Kamin, auf den er geklettert ist, steht beim Erdgaskraftwerk von Keratsini westlich Athens. Gemeinsam mit anderen Gewerkschaftern der Genop spannte Fotopoulos ein großes Spruchband an dem Schlot auf: „Billiger Strom – die DEI in Volkseigentum.“

Noch gehört das Unternehmen zu 51 Prozent dem Staat. Aber die Regierung von Ministerpräsident Giorgos Papandreou will sich von 17 Prozent der Aktien trennen. Der geplante Verkauf ist Teil eines Privatisierungsprogramms, mit dem die Regierung bis 2015 rund 50 Milliarden Euro zu kassieren hofft. So sollen Staatsschulden abgetragen werden.

Aber davon will Nikos Fotopoulos nichts wissen. Der stämmige Mann mit dem graumelierten Stoppelbart schlägt mit der Faust auf die Schreibtischplatte: „Das werden wir nicht zulassen!“

Ein Bild im Regal zeigt Fotopoulos, wie er als junger Mann einen Strommast erklimmt. Auf einem anderen Foto ist er mit Giorgos Papandreou zu sehen – als der noch nicht Premier, sondern sozialdemokratischer Oppositionschef war. „Ein Bild aus besseren Tagen“, sagt Fotopoulos verbittert. Er ist zwar noch Mitglied der Panhellenischen Sozialistischen Bewegung (Pasok), wie die jetzige Regierungspartei heißt, aber innerlich hat er mit ihr längst gebrochen. „Ich gehöre zum linken Flügel der Pasok“, erklärt er. Das ist nicht zu übersehen. Sein Büro hat der Gewerkschafter mit großen Bildern von Marx, Lenin, Trotzki und Rosa Luxemburg zu einer Bastion des aufrechten Geistes gemacht. Che Guevara hängt hier gleich dreimal.

Ideologisch mag Nikos Fotopoulos gefestigt sein. Aber jetzt ist er in Erklärungsnot. Kämpfen er und seine Genossen wirklich für „billigen Strom“? Oder geht es ihnen um eigene Privilegien?

Den Verdacht haben viele Griechen. 31,3 Millionen Euro hat die Gewerkschaft zwischen 1999 und 2008 als Zuwendungen von dem Unternehmen DEI erhalten. Teure Auslandsreisen der Gewerkschaftsführer, Suiten in Luxushotels, Schlemmereien in Gourmet-Restaurants, sogar Tankrechnungen für die Autos der Kinder wurden mit Firmengeldern bezahlt. Auf 100 Seiten hat der Generalinspekteur der griechischen Verwaltung solche Zahlungen akribisch aufgelistet. Jetzt ermittelt die Staatsanwaltschaft. Nikos Fotopoulos, der die Gewerkschaft seit 2007 führt, verteidigt sich: Schon seit 27 Jahren gebe es diese Zahlungen, sie seien in den Tarifverträgen vorgesehen – als mache das die Sache besser. Wird eine Gewerkschaft, die Geld vom Unternehmen annimmt, dadurch nicht abhängig? Nein, findet Fotopoulos. „Schließlich streiken wir ja immer mal wieder.“

Generationen von Griechen haben davon geträumt, einen Job bei der DEI oder einem der anderen Staatsbetriebe ergattern zu können. Und die Politiker haben diese Träume erfüllt. Wer einem Schulabgänger einen krisenfesten Job bei den Gas- oder Wasserwerken besorgte, konnte auf die Wählerstimmen der ganzen Großfamilie rechnen. Der Staat war in die Rolle eines Bittstellers geschlüpft. Beamte erhielten eine Prämie, wenn sie pünktlich zum Dienst erschienen. Auch bei Staatsbetrieben wie dem Mineralölkonzern Hellenic Petroleum wurde die Loyalität der Beschäftigten teuer erkauft, mit 18 Monatslöhnen im Jahr. Ein Nachtwächter verdient 72 000 Euro im Jahr. Und jeder Angestellte darf auf Firmenkosten fünf Tage im Jahr mit seiner ganzen Familie in einem Luxushotel verbringen. Bei der Stadtbahngesellschaft ISAP verbringen Triebwagenführer die Hälfte der Achtstundenschicht mit Pausen, ganz offiziell. Bei den Staatsbahnen OSE haben die freien Tage der Lokführer nicht 24, sondern 28 Stunden.

Jeder vierte Erwerbstätige in Griechenland wird vom Staat bezahlt – also vom Steuerzahler. Weil die öffentlichen Bediensteten praktisch unkündbar sind, nach jedem Regierungswechsel aber neue Günstlinge mit Jobs versorgt werden müssen, wuchs das Heer der Staatsdiener immer weiter. So haben Politiker, Parteien und Gewerkschaften den Staat jahrzehntelang ausgeplündert. Jetzt sitzt das Land in der Schuldenfalle.

„Entweder wir ändern uns, oder wir gehen unter“, warnt Premier Papandreou seine Landsleute. Er will das Land, dessen Strukturen zum großen Teil noch aus den 50er Jahren stammen, von Grund auf modernisieren, die öffentliche Verwaltung verschlanken, die Wirtschaft für mehr Wettbewerb öffnen. Korruption und Vetternwirtschaft hat er den Krieg erklärt. Zumindest sagt er das. Aber er stößt auf starke Widerstände. Apotheker und Spediteure, Notare und Ingenieure sind in Zünften organisiert. Sie sträuben sich gegen eine Öffnung ihrer abgeschotteten Berufsstände. Die Gewerkschaften, in der Privatwirtschaft nahezu einflusslos, im öffentlichen Dienst dafür umso mächtiger, kämpfen für die Privilegien ihrer Mitglieder. Allein bei der DEI gibt es 24 Einzelgewerkschaften. Schon das zeigt: Es geht um Einzelinteressen. Konsens besteht nur in einem Punkt: Jede Veränderung muss verhindert werden.

Für Mittwoch hatten die Gewerkschaftsdachverbände einen Generalstreik angekündigt, der zehnte seit Beginn der Sparpolitik im März 2010. Während sich damals 300 000 Menschen zu Protestmärschen versammelten, kamen aber diesmal nur 30 000 zusammen. So wenige wie nie zuvor. Und das, obwohl in Umfragen drei Viertel der Bevölkerung den Sparkurs der Regierung mit Einkommensverlusten von bis zu 20 Prozent für den falschen Weg halten. Am Rand der Proteste kam es zu Randalen, bei denen ein junger Mann lebensgefährlich verletzt wurde. Erinnerungen an den 5. Mai des vergangenen Jahres kamen auf.

Damals hatten Paraskevi Zoulia, Epaminondas Tsakali und Angeliki Papathanassopoulou nicht gestreikt und auch nicht demonstriert. Sie arbeiteten in der Marfin Egnatia Bank, als die Schaufenster ihrer Filiale in der Athener Stadiou-Straße mit Vorschlaghämmern zertrümmert und Molotowcocktails in den Kassenraum geworfen wurden. „Verbrennt die Banker“, johlte es von draußen, während die drei Angestellten in dem Gebäude starben.

Ein Jahr danach ist der 5. Mai in Athen ein dunkler Regentag. Unter einem düsteren Himmel haben sich einige Dutzend Hinterbliebene, Freunde und Kollegen der drei Toten vor der Hausnummer 23 auf der Stadiou-Straße versammelt. Auch einige Passanten halten inne. Ein Wellblechzaun verdeckt die immer noch rußgeschwärzte klassizistische Fassade der Bank. Die Menschen legen Blumen und Kränze nieder, stellen Lichter auf. Es ist 14 Uhr – die Todesstunde. Die Versammelten verharren in einer Schweigeminute. Einige beginnen zu weinen. Viele bekreuzigen sich, falten die Hände zum stillen Gebet. „Sie war immer so fröhlich“, sagt Christos Karapanagiotis, der Witwer von Angeliki Papathanassopoulou, „es gibt kein Foto von ihr, auf dem sie nicht lacht.“ Angeliki war im vierten Monat schwanger, als sie im ersten Stock der brennenden Bank qualvoll erstickte.

Mit dem Brandanschlag auf die Marfin Egnatia Bank hat die griechische Protestbewegung ihre Unschuld verloren. Das mag auch einer der Gründe sein, warum seither bei jedem Generalstreik weniger Menschen auf den Beinen sind. Vielleicht sind die Griechen aber auch ganz einfach müde geworden. Der anfängliche Zorn über das Sparprogramm weicht mehr und mehr einer schicksalsergebenen Resignation. Machtlos müssen die Menschen mitansehen, wie das Land immer tiefer in die Rezession rutscht, immer mehr Jobs verloren gehen und der Schuldenberg immer weiter wächst. Mindestens bis 2015 muss das Land eisern sparen.

Aber lohnen sich die Opfer überhaupt? Seit Wochen wird über eine Umschuldung spekuliert, jetzt sogar über eine Rückkehr zur Drachme. „Wir sind in einem Marathonlauf“, versucht Finanzminister Giorgos Papakonstantinou die Griechen anzufeuern. Er sagt allerdings auch: „Wir haben noch nicht einmal die Hälfte der Distanz zurückgelegt.“

Die meisten Griechen sind erschöpft. Aber nicht Nikos Fotopoulos. „Diese Regierung ist offenbar entschlossen, über Leichen zu gehen – aber das werden wir nicht zulassen“, donnert er. Seine Genop ist mit ihren 22 000 Mitgliedern die größte Gewerkschaftsföderation in Griechenland und die militanteste, streikfreudigste. Wenn die Regierung das Privatisierungsgesetz voraussichtlich Ende Mai dem Parlament zur Beratung vorlegt, sollen die Bediensteten des Energieriesen DEI in den Dauerstreik treten. Vielleicht gehen in Griechenland schon dann die Lichter aus.

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