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Altbundeskanzler Helmut Schmidt (SPD): "Es geht gar nicht um die Währung, wohl aber geht es um Europa!"

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Euro-Krise: Griechenland gehört zu uns

Dem Land kann geholfen werden: Durch Teilnahme an der Energiewende, mit Infrastrukturprojekten und mit Beschäftigungsgesellschaften für die Jugend.

Viel Aufmerksamkeit hat sich zuletzt auf kleinliche Streitigkeiten zwischen Paris und Berlin gerichtet. Dabei geriet aus dem Blick, dass die Meinungsverschiedenheiten zwischen der deutschen Bundeskanzlerin und dem französischen Staatspräsidenten über die Finanzhilfe für Griechenland nur eine Nebensache berührten. Die Frage, ob bei einem Rettungsplan für Athen auch die Gläubiger griechischer Staatsanleihen einbezogen werden, ist müßig. Denn in jedem Fall wird das Geld der Steuerzahler gebraucht: wenn die anderen Staaten Griechenland helfen ebenso wie in dem Fall, dass die Gläubiger wirklich einen Teil der Lasten tragen. Denn diese Gläubiger sind in Wahrheit französische oder deutsche oder andere Banken. Wenn diese Geldinstitute in Schwierigkeiten geraten, weil sie griechische Staatsschulden abschreiben müssen, dann kommen wieder die staatlichen Garantien für Banken ins Spiel. Auf gut Deutsch, am Ende geht es zulasten der Steuerzahler.

Viel wichtiger ist es, zu erkennen, dass Griechenland durchgreifend geholfen werden muss. Das gilt auch für den Extremfall, dass die griechische Regierung gegenüber ihren ausländischen Gläubigern die Zahlungsunfähigkeit erklärt. Selbst dann – und dann erst recht! – wird es entscheidend, dass Europa die griechische Wirtschaft wieder in Gang bringt. Ich denke dabei nicht exakt an einen neuen Marshallplan, wie er vor einem halben Jahrhundert den Wiederaufbau in ganz Westeuropa ermöglicht hat. Die Ausgangslage ist heute anders: Die Art und Weise, wie die Regierungen das Schuldenproblem Griechenlands seit 2009 behandelt haben, hat die griechische Volkswirtschaft zusätzlich in eine tiefe deflatorische Rezession geführt. Womöglich ist schon das Wort einer Depression angemessen. Jedenfalls ist die tiefe Unruhe in der griechischen Bevölkerung heute für alle Seiten besorgniserregend.

Dabei ist zu beachten: Wir haben eine Schuldenkrise einzelner kleinerer Euro-Länder, keine Krise der Euro-Währung. Selbst der Bankrott eines einzelnen, kleineren Mitgliedsstaates hätte nur eine vorübergehende psychologische Wirkung auf sie. Wenn man die ersten zehn Jahre des Euro mit den vorausgegangenen letzten zehn Jahren der Deutschen Mark vergleicht, dann schneidet der Euro sowohl im Innern als auch nach außen besser ab: Die Inflationsrate im Euro-Raum war geringer, der Wechselkurs des Euro war stabiler. Diese Stabilität des Euro dürfte anhalten. Deshalb ist der Euro heute auch die zweitwichtigste Reservewährung der Welt geworden. Ich gehe davon aus, dass wir in etwa 20 Jahren drei Weltwährungen haben werden: den amerikanischen Dollar, den Euro und den chinesischen Renminbi. Es geht also gar nicht um die Währung, wohl aber geht es um Europa!

Die europäischen Staatslenker dürfen nie vergessen: Von 1950 bis 2050 wird der europäische Anteil (einschließlich ganz Russlands) an der Wertschöpfung der Menschheit (globales Bruttoinlandsprodukt) von über 30 Prozent auf unter 10 Prozent sinken. Zudem sind wir der einzige Kontinent, dessen Bevölkerung nicht nur altert, sondern auch schrumpft. Am Ende dieses Jahrhunderts werden wir Europäer nur noch fünf Prozent der Weltbevölkerung ausmachen. Deshalb müssen die Nationen und die Staaten Europas zusammenhalten!

Deshalb braucht Griechenland – selbst im extremen Fall eines Staatsbankrotts! – ein über lange Zeit greifendes Programm, weit über Finanzhilfen hinaus. Das Programm muss orientiert sein an Leitideen wie Beschäftigung, Produktivität und Volkseinkommen. Es muss den griechischen Bürgern eine Wohlstandsperspektive eröffnen. Es muss aus konkreten Projekten bestehen. Zum Beispiel der Integration Griechenlands in eine Energiewende, sodass Sonnenenergie aus Athen nach Nord- und Mitteleuropa exportiert werden kann. Zum Beispiel Infrastrukturprojekte. Zum Beispiel mithilfe von Beschäftigungsgesellschaften, die einen Teil der enormen Jugendarbeitslosigkeit aufsaugen. Zugleich ist aus fiskalischen Gründen der Verkauf von Flughäfen, Häfen und anderem Staatseigentum geboten.

Wenn die EU tatsächlich ein solches Programm zustande bringen wollte, dann wäre dafür gewiss ein treuhänderischer Administrator erforderlich, der ökonomisches Wissen, politische und administrative Erfahrung vereint. Diesen zu finden und sich auf seine Kompetenzen zu einigen wird schwierig, aber unumgänglich sein. Niemand in Athen kommt dafür infrage (auch unter den Politikern oder Bankern in Deutschland sehe ich niemanden, dem diese Aufgabe zuzutrauen wäre). Vielleicht ist Jean-Claude Trichets jüngster Vorstoß eine nützliche Anregung.

Lesen Sie auf Seite 2, was Europa Griechenland zu verdanken hat.

Schmidt: "Griechenland ist das Mutterland der Demokratie." Im Bild: Statue der Göttin Athene, eingehüllt in Rauchschwaden bei Ausschreitungen an der Universität Athen.
Schmidt: "Griechenland ist das Mutterland der Demokratie." Im Bild: Statue der Göttin Athene, eingehüllt in Rauchschwaden bei Ausschreitungen an der Universität Athen.

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Es wäre nicht auszuschließen, dass ein solches Programm dann auch für Portugal oder für Irland fällig wird. Weil aber alle drei Staaten zusammen nur etwa 5 bis 6 Prozent des gemeinsamen Marktes der EU ausmachen oder weil – anders als 1990 in der DDR – keinerlei Systemwechsel nötig ist, so handelte es sich selbst in solchem Falle nicht um eine exorbitante Größenordnung. Wir hätten die Fähigkeiten – was uns fehlt, sind Entschlusskraft und Wille.

Jedenfalls gibt es für die Europäer zwei zwingende Gründe, bei der Wiederankurbelung der griechischen Wirtschaft zu helfen. Denn die Instanzen der EU und der EU-Staaten haben schuldhaft ihre Pflichten versäumt. Auch die Bankenaufsichten haben geschlafen, als Geldhäuser, zum Beispiel die deutsche Pfandbriefbank Hypo Real Estate, dem griechischen Staat in leichtfertiger Weise Anleihen abgekauft haben, die zu bedienen unter Umständen unmöglich wird. Die Kommission in Brüssel hat geschlafen, die Finanzminister haben geschlafen – dürfen sie nun den Armen in Athen schuldig werden lassen? Der Arme ist allerdings auch selber schuldig.

Der zweite Grund hat noch mehr Gewicht: Wenn die EU zulässt, dass einer ihrer Mitgliedsstaaten in Konkurs geht, dann wird damit ein politisches und psychologisches Präjudiz geschaffen, das künftig die Union als Ganzes gefährden könnte. Griechenland ist Mitglied der Europäischen Gemeinschaft seit 1981, das Land war Mitglied der EU, als 1991/92 in Maastricht der Beschluss zu einer gemeinsamen Währung gefasst wurde. Inzwischen hat die EU die Zahl ihrer Mitglieder mehr als verdoppelt. Dabei hat sie leider versäumt, die alten Spielregeln der Einstimmigkeit mit Blick auf die größer gewordene Familie umzugestalten. Die Verteilung der Kompetenzen zwischen der Europäischen Union und den Nationalstaaten ist nach wie vor nicht wirklich geklärt. Man sieht dies auch an der nebensächlichen Rolle, die man dem Europäischen Parlament zugewiesen hat. Man sieht dies an der abstrusen Konstruktion der Europäischen Kommission mit 27 Mitgliedern. Man sieht es auch am Vertrag von Lissabon, dessen komplizierte Bestimmungen selbst versierte Juristen nicht verstehen.

In den vergangenen zwei Jahren haben sich die europäischen Instanzen de facto als nicht handlungsfähig erwiesen. Handlungsfähig war nur die Europäische Zentralbank. Weil die Staaten nicht gehandelt haben, nicht die Regierungen, ist die EZB in die Lücke gesprungen. Sie hat in erheblichem Maße griechische Staatsanleihen auf eigene Kosten aus dem Markt genommen. Natürlich muss die EZB auf diese sogenannten Guthaben eines Tages Abschreibungen vornehmen. Ein Politiker aber, der das Engagement der Bank heute kritisiert, sollte sich an die eigene Nase fassen. Er selber hat nämlich nichts zustande gebracht.

In diesen Wochen erleben wir, dass Griechenland die Zahlungsunfähigkeit droht. Wir erleben aber eine ebenso gravierende Krise der EU. Angesichts dieser Situation sind wochenlange Streitigkeiten aus Geltungsbedürfnissen, Eitelkeiten und Populismus über unwichtige Details nur schädlich – auch wenn sich Berlin und Paris nun einmal wieder einig zeigen.

Was ist das grundlegende deutsche Interesse? Die Einbindung Deutschlands in die EU ist für uns noch wichtiger als die Einbindung der deutschen Streitkräfte in die Nato. Keine andere Nation in Europa ist angesichts der Geschichte des 20. Jahrhunderts stärker darauf angewiesen, nicht isoliert dazustehen, sich auch selber nicht zu isolieren. Keine andere Nation hat mehr Nachbarn als wir, die wir im Zentrum leben. Kein Land hat in Europa mehr zu verlieren als Deutschland, das wirtschaftsstärkste Land Europas.

In diesen Tagen, in denen es immer um Milliarden geht, müssen aber auch zweieinhalb Jahrtausende der Geschichte eine Rolle spielen. Griechenland ist das Mutterland der Demokratie – und der Renaissance und der Aufklärung! Ein ganz großer Teil der europäischen Zivilisation beruht auf den Leistungen großer Griechen. Ohne Homer, ohne Euripides, ohne Sophokles – was wären wir denn? Ohne Sokrates, Platon, ohne Aristoteles? Oder ohne Perikles? Einige der heutigen Spitzenkräfte in Athen mögen korrupt sein, aber ihre Urahnen und ihre Geschichte verdienen Respekt. Wer einmal den Poseidon-Tempel auf Kap Sounion oder die Akropolis erlebt hat, wird das nie vergessen.

Dieser Artikel ist erschienen in der ZEIT, Nr. 26, 22.6.2011

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