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Großbritannien: Eine andere Wahl: Liberaldemokraten liegen in den Umfragen vorn

Der sensationelle Aufschwung der Liberaldemokraten rüttelt den britischen Wahlkampf auf, Meinungsforscher sprechen vom "größten Schock seit einer Generation". Doch Labour könnte stärkste Kraft werden.

Nie zuvor lagen die drei führenden Parteien in Umfragen so nah beieinander. „Wir operieren in unerforschtem Terrain“, sagte der Glasgower Politologe John Curtice.

Seit der TV-Debatte in der vergangenen Woche sind die Liberaldemokraten nicht zu bremsen. In einigen Umfragen liegen sie sogar vor den Tories und haben die Regierungspartei Labour auf den dritten Platz verwiesen. Unklar ist noch, was das für die Sitzverteilung bedeutet: Entsprechende Computer-Modellrechnungen, die mit dem britischen Mehrheits-Wahlsystem so oder so nicht gut zurechtkommen, versagen. Denn jeder der 650 Wahlkreise ist ein Fall für sich. Die Ergebnisse weichen oft vom nationalen Trend ab. Das Mehrheitswahlrecht begünstigt ein Zweiparteiensystem, weil es keine übertragbaren Zweitstimmen gibt und die Stimmen für die Verlierer unter den Tisch fallen. So gewann Labour 2005 mit 37 Prozent der Stimmen 55 Prozent der Sitze.

Klar ist aber: Wenn Cleggs Aufschwung keine Blase ist, die platzt, wird der Wunsch der Konservativen nach einer Regierungsmehrheit nicht in Erfüllung gehen. Es wird ein „hung parliament“ ohne Mehrheit geben, und Labour hat Chancen, selbst mit einem landesweiten Abschneiden auf dem dritten Platz größte Parlamentspartei zu werden und mit den Liberaldemokraten eine Koalition einzugehen. Denn der Vormarsch der Liberaldemokraten gehe zulasten der Tories, erklärt Curtice.

Der Wahlkampf sei „zum Leben erwacht“, sagte Clegg am Montag. Er ist jetzt der Hoffnungsträger derer, die mit dem Spesenskandal, der Finanzkrise, dem alten Regierungssystem unzufrieden sind. Eine Alternative für diejenigen, die genug von Labour haben, aber David Camerons Tories nicht trauen.

„Immer mehr Menschen glauben, dass wir in der Zukunft nicht mehr die müden, ausgetretenen Wege der Politik gehen müssen“, versprach Clegg und ließ durchblicken, worum es wirklich geht: Wenn die Liberaldemokraten trotz eines gigantisch gewachsenen Stimmenanteils wieder nur ein paar Dutzend Sitze bekämen, werde das Wahlrecht den letzten Anschein von Legitimität verlieren. „Seit 100 Jahren hat das politische Establishment Reformen des Wahlrechts systematisch blockiert oder für ihre Zwecke ausgenützt.“ Das zielte auf Gordon Browns Plan, ein Referendum über ein neues Wahlsystem abzuhalten – ein fast offenes Koalitionsangebot an die Liberaldemokraten. Aber sein Plan sieht ein System vor, das nicht den Liberaldemokraten, sondern Labour am besten passt.

„Es geht darum, wer den Wechsel bringen kann, den das Land braucht“, sagte Cameron. Aber wenn er von Wechsel spricht, meint er ein Ende der Labourregierung und seinen Plan, Labours hyperaktiven Staat durch eine „große Gesellschaft“ zu ersetzen, bei der die Regierung viele ihrer Aktivitäten freiwilligen Organisationen und Sozialunternehmen überträgt. Premier Gordon Brown attackierte diese Vision als eine Gesellschaft, in der „jeder sich selber überlassen wird“.

Clegg meint etwas anderes: Ein anderes Parteiensystem, ein Wahlrecht, das Formen des Regierens durch Kompromiss und Koalitionenbildung erzwingt – wie es das in Großbritannien bisher nie gegeben hat. So wie es aussieht, teilen die Briten diesen Wunsch.

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