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Zwei ganz normale Engländer bei einem ganz normalen Pferderennen.

© AFP

Großbritannien und der Brexit: Die Briten sind faszinierend, charmant, skurril

Trotz der Geschichte, die uns entzweite, trotz der Klischees und Ressentiments, die noch oft das Bild von unseren Nachbarn belasten: Uns Franzosen sind die Deutschen näher als die Engländer. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Pascale Hugues

Wird Großbritannien am kommenden Donnerstag noch zum europäischen Club gehören? Oder wird es sich entscheiden, die Segel zu setzen und sich in Richtung eines anderen Lebens treiben zu lassen, ein Leben für sich allein?
Frankreich und Deutschland sind die entschlossenen und treuen Baumeister Europas. Großbritannien ist immer ein wenig hinterhergeschlurft. Liegt es an seiner Randlage, vom Kontinent abgeschnitten durch diesen grauen Meeresarm, gerade breit genug für eine splendid isolation? Eine Insel ist immer ein einzigartiges Biotop mit Regeln und Gebräuchen, die nur ihm entsprechen. Von der festen Erde Calais’ aus betrachten wir, die Kontinentaleuropäer, dieses Land, das einem Fremdkörper gleicht.
Vom Linksverkehr über die Tischmanieren (die Hand unter dem Tisch statt sichtbar neben dem Teller) hin zu den Heiß-Kalt-Wasserhähnen, die eine genaue Temperatureinstellung unmöglich machen, und den schlecht isolierten Häusern, in denen man vor künstlichen Kaminen schlottert… vom befreienden Humor in einer noch puritanischen, ins Klassensystem gezwängten Gesellschaft bis zu den Pferderennen und Pferdegebissen. Es ist ziemlich leicht, eine Liste mit all den Symptomen aufzustellen, die die Briten zu etwas anderen Menschen als uns machen. Kein Land ist derart befremdlich. Kein anderes ist derart charmant, derart rührend, derart nervenaufreibend.
Und das ist es, was uns fasziniert. Wie viele kleine Plastik- Queens winken von Berliner Fensterbrettern? Wie viele von uns klebten an den Bildschirmen, als William Kate heiratete und als die Königin im halluzinogengrünen Kostüm neulich zu ihrer Geburtstagsfeier vom Balkon aus die Menge grüßte? Wie viele Sprösslinge des deutsches Bildungsbürgertums werden auf diese düsteren und überteuerten Internate geschickt, die mehr als einen kleinen Engländer traumatisierten? Wie viele Tweedjackets, Shetlandpullover, Beatles-Platten, Monty-Python-DVDs, gepunktete Teekannen und alte Whiskys lagern in unseren Schränken? Es ist all diese Folklore, die wir enthusiastisch pflegen.

Die große Tasse voll mit lauwarmem Instantkaffee

Jedes Mal, wenn ich nach England zurückkehre, bin ich zugleich entzückt und empört über die kontinentalen Einflüsse, die sich trotz allem eingeschlichen haben: Der Latte (also Latte macchiato, aber Lattéiii gesprochen) hat die große Tasse voll mit lauwarmem Instantkaffee und den unumgänglichen Digestive Biscuit zur Elf-Uhr-Pause ersetzt. Auf den BBC-Wellen sind nun regionale und Lower-Middle-Class-Dialekte zu hören. Es dauerte, bis die ehrwürdige Medienkaiserin weniger glattgebügelte Sprecher vor ihre Mikrofone ließ als jene Absolventen mit perfektem Oxbridge-Werdegang. Und die Küche? Was haben wir gegen die mageren Talente der British Housewife geätzt, ihre giftfarbenen Jellies heruntergewürgt, ihre mit dem berüchtigten Marmite tapezierten Gummisandwiches gegessen und vor altem Frittierfett nur so triefende Fish & Chips. Und heute? Nigel Slater, Nigella Lawson, Jamie Oliver…die Hedonisten, die Gewürze und Kräuter in die deutschen Kochtöpfe brachten, sind Briten.
Trotz der Geschichte, die uns entzweite, trotz der Klischees und Ressentiments, die noch oft das Bild von unseren Nachbarn belasten, sind uns Franzosen die Deutschen näher als die Engländer. Ich erinnere mich an das Vertrautheitsgefühl, als ich nach Jahren des Studiums und der Arbeit in London nach Bonn kam. Ich war zurück auf bekanntem Boden. Aber England fehlte mir.
Dieses Gefühl von Fremdheit, das ich als Jugendliche beim Anlegen der Fähre an der Küste von Dover empfand, kehrt jedes Mal zurück, wenn ich von Berlin aus in Gatwick lande. Nein, ich kann nicht behaupten, dass ich der Elf-Uhr-Tasse voll bräunlichem Wasser nachtrauere, auch hege ich keine Nostalgie für die schwächelnden Wasserhähne, aber ich gebe zu, dass ich ein wenig Angst habe, dass die gemeinschaftliche Straßenwalze alle Unterschiede plattmacht. Und wenn die Briten am kommenden Donnerstag doch die Segel setzen?
- Aus dem Französischen übersetzt von Angie Pohlers

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