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Warnung an die Adresse des britischen Regierungschefs: Kanzlerin Angela Merkel und Premierminister David Cameron.

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Großbritannien und die EU: Cameron sucht nach Lösung im Zuwanderungs-Streit

Erstmals hält die Bundesregierung einen EU-Austritt Großbritanniens für möglich. Das liegt an der Politik von Regierungschef David Cameron - er wirkt zunehmend wie ein Getriebener der EU-feindlichen Partei Ukip.

Beim letzten EU-Gipfel vor einer Woche kam es zu einer Kontroverse zwischen Kanzlerin Angela Merkel (CDU) und dem britischen Regierungschef David Cameron. Merkel hat ihrem Londoner Amtskollegen klargemacht, dass er nicht mehr auf sie als Verbündete in Europa zählen kann, falls Cameron tatsächlich die Personenfreizügigkeit in der EU in Frage stellen sollte. Bei dem Streit geht es nur vordergründig um die britische Einwanderungspolitik: Nach einem Bericht des „Spiegel“ hält die Bundesregierung erstmals einen Austritt Großbritanniens aus der EU für möglich.

Warum stellt Cameron die Personenfreizügigkeit in der EU in Frage?

Der britische Regierungschef gilt als Verfechter der britischen EU-Mitgliedschaft. Allerdings muss er immer mehr mit einer EU-feindlichen Stimmung kämpfen: Obwohl die EU-Politik im engeren Sinne die Gemüter der Briten nur mäßig erhitzt, erhält die rechtspopulistische Partei Ukip, die unter anderem für einen Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union wirbt, unverändert Zulauf. Ihrem Vorsitzenden Nigel Farage ist es gelungen, die Themen „EU-Mitgliedschaft“ und „Einwanderung“ im Bewusstsein der Wähler miteinander zu verknüpfen.

Zudem gilt die Frage der britischen EU-Mitgliedschaft traditionell als politischer Sprengsatz bei Camerons regierenden Konservativen. Um das Thema ein für allemal vom Tisch zu bekommen, hat der Premier zu einer gewagten Strategie gegriffen: Für 2017 hat der Tory-Vorsitzende ein Referendum über die britische EU-Mitgliedschaft in Aussicht gestellt – immer vorausgesetzt, er gewinnt die Unterhauswahlen im kommenden Mai. Damit sich die Briten bei einem möglichen Referendum für die EU entscheiden, will ihnen Cameron zuvor eine Überarbeitung der europäischen Justiz- und Innenpolitik präsentieren. In diese Richtung zielt auch der jüngste Vorstoß Camerons.

Ukip-Chef Nigel Farage.
Ukip-Chef Nigel Farage.

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Mit der Einwanderungspolitik hat sich der Hausherr in der Londoner Downing Street ein Thema ausgesucht, das vielen Briten auf den Nägeln brennt. In der Debatte um Migration und Wirtschaft setzen sich in Großbritannien immer mehr die Einwanderungskritiker durch. Briten erleben, dass Schulen, Verkehrseinrichtungen und Krankenhäuser mit einer um jährlich rund eine halbe Million Menschen wachsenden Bevölkerung nicht mithalten können. Der Wirtschaftswissenschaftler Robert Rowthorn aus Cambridge argumentiert, dass die sozialen Kosten der Einwanderung ihre wirtschaftlichen Vorzüge übersteigen und den Lebensstandard der Mehrheit senken: „Für die heutige Bevölkerung im Vereinigten Königreich und ihre Nachfahren sind die Konsequenzen umfangreicher Einwanderung vorwiegend negativ.“

Nach Umfragen würden es 77 Prozent der Briten befürworten, wenn die Einwanderungszahlen zurückgehen würden. Führende Labour-Politiker haben sich bereits für die „Politik der offenen Tür“ entschuldigt, mit der die Regierung von Tony Blair 2004 auf die Möglichkeit verzichtete, die Freizügigkeit für neue EU-Mitglieder wie Polen einige Jahre lang einzuschränken. Darauf fußt nun die vorübergehende Überlegung Camerons, bezifferte Quoten bei der Zuwanderung aus dem EU-Ausland festzulegen.

Ist eine Lösung des Streits um die Zuwanderung in Sicht?

Am Rande des letzten EU-Gipfels hat Merkel ihrem britischen Amtskollegen deutlich gemacht, dass sie eine harte Linie Camerons bei der Einwanderung nicht mittragen wird. Die Kanzlerin habe in Brüssel verdeutlicht, dass das „hohe Gut der Freizügigkeit nicht angetastet werden darf“, sagte Regierungssprecher Steffen Seibert am Montag in Berlin. Großbritannien müsse sich klar werden, welche Rolle es künftig in der EU spielen wolle, sagte Seibert. Die Bundesregierung wünsche sich „ein aktives, ein engagiertes Großbritannien in einer starken Europäischen Union.“

Offenbar hat sich auch Cameron inzwischen von der Idee verabschiedet, Quoten für Zuzügler aus dem EU-Ausland einzurichten. Statt dessen sucht er Berichten zufolge nun nach neuen Positionen, die mit Deutschlands Vorstellungen „kompatibel“ sind. Aber Schatzkanzler George Osborne erklärte im Sender BBC, Großbritannien werde seine „nationalen Interessen“ in Europa verfolgen. Die Sorgen der Briten um die die hohen Einwanderungsraten aus EU-Ländern müssten ernst genommen werden.

Neue Pläne, die teilweise auf Vorschläge der Denkfabrik „Open Europe“ zurückgehen, würden den Anspruch von EU-Migranten auf Sozialzuschüsse wie Arbeitslosenhilfe oder Wohngeld einschränken. Leistungen des staatlichen Gesundheitssystems für EU-Migranten würden in den ersten drei Jahren vom Heimatland der Betroffenen getragen werden. Der Grund: Alle britischen Sozial-und Gesundheitsleistungen sind bisher nicht an Beitragsleistungen und entsprechende Wartezeiten gebunden wie in anderen EU-Staaten. Sie werden vielmehr direkt aus der Steuer finanziert und an alle bezahlt. Auch dies macht Großbritannien, neben der Sprache Englisch, zu einem „Mekka“ für Migranten.

Wie lange wird sich Cameron noch mit den EU-Partnern anlegen?

Mindestens bis zu den Unterhauswahlen im Mai. Bis dahin will Cameron abtrünnige Tory-Wähler davon überzeugen, doch besser den Konservativen die Stimme zu geben statt der Ukip. Einen Vorgeschmack auf den Wahlkampf lieferte am Montag bereits eine Regierungssprecherin in London. Man müsse begreifen, „dass der Chef hier das britische Volk ist“, sagte die Sprecherin. Deshalb werde sich Cameron „anschauen, welche Sorgen das britische Volk bei der Zuwanderung aus der EU hat und wie wir diesen gerecht werden“. An dieser Tonlage dürfte sich in jedem Fall nichts bis zu den Unterhaus-Nachwahlen im südostenglischen Rochester am 20. November ändern – dort gilt ein Erfolg der Ukip als möglich.

Auch nach der Parlamentswahl im kommenden Frühjahr dürfte Cameron – sollte er wiedergewählt werden – kaum von seinem Projekt abrücken, den Brüsseler Einfluss in Bereichen wie der Justiz, der Einwanderung oder der Arbeitsmarktregulierung zurückzudrängen. Anderenfalls würde ihm eine Niederlage beim EU-Referendum 2017 drohen.

Droht ein britischer Austritt aus der EU?

Sollte die Labour-Partei die kommende Unterhauswahl gewinnen, wäre auch ein EU-Referendum vom Tisch – und damit auch das Szenario eines Austritts. Im Fall eines Wahlsieges von Cameron ist es hingegen durchaus denkbar, dass sich anschließend eine Mehrheit der Briten gegen die Europäische Union entscheidet – nämlich dann, wenn Cameron keine greifbaren Ergebnisse bei den Verhandlungen mit den EU-Partnern über eine Neuordnung des Verhältnisses zwischen London und Brüssel vorweisen kann.

Zeitungen wie das Boulevardblatt „Sun“ bewerteten die Berliner Warnung vor einer Einschränkung der Personenfreizügigkeit derweil als Teil des bevorstehenden Verhandlungspokers: „Wir sehen nicht, dass Merkel alleine in der EU übrig bleiben will, um Europas scheiternde Volkswirtschaften zu stützen“, schrieb das Blatt.

Wie reagieren Politiker in Deutschland auf die Kontroverse zwischen Merkel und Cameron?

In der vergangenen Woche führte Norbert Röttgen, Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses, gemeinsam mit der Grünen-Politikerin Marieluise Beck und Stefan Liebich von der Linkspartei zwei Tage lang Gespräche in London, unter anderem mit dem Europaminister David Lidington. „Unsere Gesprächspartner haben die Einwanderung als Thema Nummer eins in Großbritannien bezeichnet“, sagte Röttgen anschließend dem Tagesspiegel, „das muss man respektieren“. Allerdings stünden für Deutschland „die europäischen Grundfreiheiten nicht zur Disposition“. Neben dem freien Warenverkehr, der Dienstleistungsfreiheit und dem freien Kapitalverkehr gehört die Personenfreizügigkeit zu den so genannten vier Grundfreiheiten in der EU, die von den EU-Verträgen garantiert werden.

Während der Vorsitzende der Euro-kritischen AfD, Bernd Lucke, davor warnte, dass im Falle eines Austritts der Briten der Einfluss der Südländer in der Europäischen Union wachsen werde, erinnerte der CDU-Europapolitiker Gunther Krichbaum noch einmal an den Ursprung der hohen Einwanderungszahlen in Großbritannien. London habe im Gegensatz zu Berlin nach der EU-Erweiterung 2004 nicht von der Möglichkeit Gebrauch gemacht, die Arbeitnehmerfreizügigkeit für mehrere Jahre einschränken. „Es rächen sich also eigene Versäumnisse der letzten zehn Jahre“, sagte Krichbaum dem Tagesspiegel.

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