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Grüne: Claudia Roths Qual mit der Wahl

Zwei Nächte lang hat sie mit sich gerungen, mit ihrer schweren Niederlage. Dann hat Claudia Roth beschlossen, dass es Wichtigeres gibt als persönliche Enttäuschung: den Erfolg ihrer Partei.

Von Sabine Beikler

Claudia Roth trägt Schwarz, Tiefschwarz. Im dunklen Kleid und in schwarzen Stiefeln tritt die 57-Jährige am Montagmorgen in der Bundesgeschäftsstelle der Grünen vor das Mikrofon. Die Frau, deren Markenzeichen die schrillen Klamotten sind, violettblaue Mäntel mit psychedelisch anmutenden Kreisen, Rauten oder Punkten, die einmal als „Lady Gaga der deutschen Politik“ beschrieben wurde, trägt an diesem Montag nicht mal ihren üblichen knallroten Lippenstift. Es ist acht Uhr morgens, kurz vor der regulären Bundesvorstandssitzung. Aus medialer Sicht ein guter Zeitpunkt für eine Rücktrittserklärung. Rücksprachen sind nicht mehr notwendig. Claudia Roth hat sich entschieden.

Zwei Nächte hat die Parteichefin der Grünen nach Bekanntwerden der Urwahl-Ergebnisse am Sonnabend mit sich gerungen. Soll sie nach der herben Niederlage, die ihr die Basis bei der Urwahl für das Spitzenduo für die Bundestagswahl 2013 bescherte, an ihrer erneuten Kandidatur für den Parteivorsitz festhalten? Mit 26,2 Prozent landete Claudia Roth abgeschlagen hinter den drei Polit-Promis Jürgen Trittin, Katrin Göring-Eckardt und Renate Künast auf dem vierten Platz.

Mit ernster Miene tritt Claudia Roth ans Mikrofon. Sie spricht von einem „bitteren Ergebnis“, von „Zweifel und großer Zerrissenheit“ aber auch von „Licht im Schatten“. Viel Zuspruch habe sie am Wochenende erhalten. Und Hunderte von Mails, ein „Candystorm“, wie der parlamentarische Geschäftsführer der Grünen-Fraktion, Volker Beck, die Sympathiebekundungen mit vielen virtuellen Herzchen bezeichnete. „Das hat mich besonders berührt“, sagt Roth mit fester Stimme.

Roth zieht trotz der „herben Klatsche“, wie sie sagt, ihre Kandidatur nicht zurück und tritt bei den Wahlen am Wochenende auf dem Bundesparteitag in Hannover an.

Warum tut sie sich das an? „In erster Linie“, sagt sie fast trotzig, „geht es nicht um mich“, sondern um die Ablösung von Schwarz-Gelb, um ein starkes grünes Ergebnis bei der Bundestagswahl und um den Erfolg der grünen Partei – „mal wieder“, ergänzt sie zwei bedeutende Worte.

Roth macht weiter, trotz ihrer Enttäuschung. Sie ist merklich angeschlagen. Ihr Mund trägt einen bitteren Zug, der nicht aus professioneller Betroffenheitsmimik wie bei anderen Politikern herzurühren scheint. Jeder soll ihre Verletzung sehen an diesem Morgen, das will sie nicht verbergen. Ausgerechnet die Basis hat sich nicht für sie entschieden, für eine Frau, für die Politik das Leben ist, die ihr Leben in den Dienst der Grünen gestellt hat.

Roth gab selbst den Anstoß für die Urwahl

Es war sie selbst, die durch ihre frühe Kandidatur erst den Anstoß für die Urwahl gegeben hat. Sie wollte keine „Hinterzimmer-Kungeleien“, keine einsame Entscheidung für nur einen Spitzenkandidaten Trittin, wie ihn einige Grüne, Realos und Parteilinke im Frühjahr durchsetzen wollten. Sie wollte als überzeugte Anhängerin der parteiinternen Quote ein Spitzenduo und nicht noch einen Wahlkampf mit einem Mann an der Spitze führen. Vor ein paar Jahren hieß dieser Mann Joschka Fischer. Und die Grünen-Frauen haben heute noch große Bauchschmerzen, wenn sie an ihren Macho-Spitzenkandidaten denken, bei dem sie ihr emanzipatorisches Grundverständnis als Grüne verraten haben.

Das Politische ist privat. So lautet auch der Titel ihrer Autobiografie, die sie vor sechs Jahren veröffentlicht hat. Es ist ein emotionales Buch, das die Frage stellt, wie man für politische Überzeugungen kämpfen kann, ohne sich von den politischen Zwängen und Alltagsgeschäften zerreiben zu lassen.

Claudia Roth ist eine Parteisoldatin. Sie rast durch die Bundesrepublik. Man hat das Gefühl, dass sie fast jedes der 59 500 Basismitglieder schon einmal innig umarmt hat. „Die Claudi kommt, auch wenn wir nicht 300, sondern nur eine handvoll Leute sind“, hört man in jedem Landesverband. Da seien andere Spitzenleute schon sehr viel wählerischer und würden erst anreisen, wenn sich eine erkleckliche Summe an Grünen versammelten, heißt es auch. Als sich die Grünen-Bundestagsfraktion im September zur Klausur in Hannover traf und abends an den Tischen bei guten Speisen und Getränken parlierte, startete Claudia Roth mit 30 wahlkämpfenden Grünen im „Onkel Olli’s“ mit einem erschöpfenden Angebot von 135 Biersorten ihre dreistündige „Kiosk-Tour“.

Sie kennt die Belange der Basis. Und es gibt kaum jemanden in der Partei, der das Gefühlsleben der Grünen, die Befindlichkeiten authentischer in sich vereint als Claudia Roth. Auch wenn sie als Moralistin verschrien ist: Die Kritik, der Spott und die Häme, die über Roth ausgeschüttet werden, hilft dem Zusammengehörigkeitsgefühl der Partei. Die Mitglieder stellen sich schützend um ihre Chefin, die oft nichts anderes als das grüne Gewissen der Partei verkörpert.

Warum die Basis Roth die Gefolgschaft verweigert hat

Warum ausgerechnet die Basis ihr die Gefolgschaft für das Spitzenduo verweigert, hat zweierlei Gründe. Erstens: die Flügelarithmetik. Neben dem Parteilinken Trittin wollten die Grünen eine Realpolitikerin – aus Gründen der Balance. Und es ist kein Zufall, dass Katrin Göring-Eckardt auch gegen die andere Realo-Frau Renate Künast gewann. Künast und Roth gehören zur grünen Gründergeneration. Sie haben einen Stil, der heute noch von den 80er Jahren geprägt ist. „Roth ist schrill, Künast ist bissig“, sagt ein Grüner. Vielen Jüngeren in der Partei passt dieser konfrontative Stil nicht mehr. Sie fordern eine einvernehmliche, auf Ausgleich und Kompromisse setzende Kommunikation auch mit den politischen Gegnern. So einen anderen Politikstil verkörpert Katrin Göring-Eckardt, selbst wenn sie mit 46 Jahren nur rund zehn Jahre jünger ist als Roth und die 57-jährige Künast.

Werner Winkler, Ortsvereinsvorsitzender aus Waiblingen, war einer der elf Kandidaten neben den vier Polit-Promis. Auf einer Basisveranstaltung bezeichnete er Roth mit sympathischem Unterton als „altes Schlachtross“. Nur sei sie „etwas zu schrill“ und „permanent in der Kampfhaltung“. Ganz anders wirkt Jürgen Trittin. Er ist mal flapsig und selbstironisch. Das kommt bei den Grünen gut an. Bei Roth wirkt Politik nie leicht, sondern immer auch ernst. Ihr Blick, der ein latent schlechtes Gewissen auslösen kann, verwandelt selbst eine Debatte über Kamelle- schmeißen auf Karnevalsumzügen in eine Diskussion über Verletzung von Menschenrechten.

Es gibt keine Grünen-Politikerin, die so polarisiert und Gegenreaktionen auslöst wie Claudia Roth. „Entweder man mag sie oder man hasst sie“, sagt ein grüner Spitzenmann. Die gebürtige Augsburgerin ist eine emotionale Politikerin, eine emotionale Frau. Sie kann sich über die Ungerechtigkeiten der Welt aufregen, ärgern und bei ihren Leib- und Magenthemen wie Flüchtlingspolitik auch schon mal Tränen in den Augen haben. Sie hat Charisma und strahlt Glaubwürdigkeit aus. Aber Roth kann genauso schnell auf die Sachebene umschalten und hart für ihre Argumente kämpfen. Sie hat gelernt, wie sie Strategie und Taktik punktgenau einsetzt.

Roth ist für die Grünen nicht ersetzbar

Auch jene, die mit ihrem Stil nicht warm werden, wissen, dass sie die dienstälteste Grünen-Parteichefin ist: von 2001 bis 2002 und von 2004 bis heute. Ohne Claudia Roth wäre eine der größten Zerreißproben in der Partei vor elf Jahren möglicherweise auch anders ausgegangen – als es um den Afghanistan-Beschluss im Bundestag ging. Der damalige SPD-Kanzler Gerhard Schröder verknüpfte das Votum für die Beteiligung Deutschlands an internationalen Einsätzen mit der Vertrauensfrage. Die Grünen-Spitzenleute und vor allem Roth mussten harte Überzeugungsarbeit leisten. Die Auseinandersetzung ging glimpflich für Rot-Grün aus. Nur die Hälfte der acht „Abweichler“ stimmten gegen den Militäreinsatz. Schröder erhielt zwei Stimmen mehr, als für die absolute Mehrheit notwendig waren, und blieb im Amt.

Claudia Roth weiß, wie sie Menschen für sich gewinnen kann – und wie sie sich am besten inszeniert. An diesem Montagmorgen soll jeder in der Partei die Botschaft hören, dass sie sich auch anders hätte entscheiden können. Dass allerdings dann eine Leerstelle, eine Vakanz da gewesen wäre, die für die Partei ein Desaster bedeutet hätte. Ein paar Tage vor dem Bundesparteitag, auf dem die Urwahl und das Spitzenduo Trittin und Göring-Eckardt gefeiert werden sollten, wäre den Grünen ausgerechnet ihre dienstälteste Parteivorsitzende abhanden gekommen. Kein schönes Bild, kein guter Auftakt für das Wahlkampfjahr 2013. Einen Plan B gab es nicht. Denn Claudia Roth ist für die Grünen nicht ersetzbar.

„Wir brauchen Claudia Roth in der Partei, in diesem Wahlkampf“, sagt die am Wochenende zur Spitzenkandidatin gekürte Katrin Göring-Eckardt. Den Grünen stehe ein harter Wahlkampf bevor, „da ist sie einfach wichtig, da sie die Partei kennt und die Partei zusammenhalten kann“.

Am Sonnabend kandidiert Claudia Roth in Hannover. Es sei jetzt „an den Delegierten zu entscheiden, ob sie mir dieses Amt zutrauen und ob sie mich in diesem Amt haben wollen“, sagt sie am Montag. Vor elf Jahren im März wurde sie mit 91,5 Prozent an die Parteispitze gewählt. Da ist noch Luft nach oben.

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