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Guantanamo: Murat Kurnaz' Geschichte im Kino: "Der Mann im Film, das bin ich"

Murat Kurnaz hätte seine Geschichte an Hollywood verkaufen können. Hat er aber nicht. Er gab sie einem Filmstudenten, denn der wollte die Wahrheit über seine Gefangenschaft in Guantanamo erzählen. Jetzt kommt der Film in die Kinos: "Fünf Jahre meines Lebens".

Er sagt, dass er gut einschlafen kann. Keine Albträume, nichts. Er sagt: „Alles ganz normal.“ In der holzgetäfelten Stube eines Stuttgarter Hotels teilt er mit Messer und Gabel vorsichtig ein Forellenfilet. Er spricht ruhig, mit leiser, weicher Stimme. „Mir geht es gut. Ich bin nicht traumatisiert.“ Kaum zu glauben. Murat Kurnaz lächelt.

Fünf Jahre seines Lebens hat Kurnaz im US-Gefangenenlager Guantanamo verbracht. Waterboarding. Isolationshaft in Hitze- und Kältekammern. Schlaf- und Essensentzug. Schläge. Schikane. Sein Glaube führte ihn damals, 2001, wenige Wochen nach den Anschlägen auf das World Trade Center, aus seiner Heimatstadt Bremen in Koranschulen nach Pakistan, wo man ihn festnahm als vermeintlichen Gotteskrieger. Sein Glaube half ihm, Guantanamo zu überstehen, sagt er.

Das Glauben oder Nichtglauben stand schon immer im Mittelpunkt seiner Geschichte. An wen glaubte er? Wer glaubte ihm?

Die deutsche Politik tat es damals nicht. Da war den Amerikanern schon klar: der weiß nichts über die Attentäter des 11. September, der plante nichts. Dieser Türke, der sagt er sei Deutscher, kennt keinen Osama bin Laden.

Die Türkei wollte Kurnaz nicht. Deutschland wollte Kurnaz nicht. So blieb er in Guantanamo – insgesamt 1725 Tage, bis zum August 2006. Als er zurückkehrte nach Bremen, war er abgemagert, trug die Haare lang, den Bart noch länger. Es dauerte, bis er das Image des „Taliban von Bremen“ los wurde, das ihm die Medien verpasst hatten.

Heute denkt niemand, der ihn sieht, an die Taliban. Die blonden Haare sind kurz geschnitten und gegelt, der Bart ist ab, der Oberkörper trainiert und fast so breit wie hoch. Kurnaz ist 31, zum zweiten Mal verheiratet, Vater von zwei Kindern. Er lebt noch immer in Bremen, hält sich mit Gelegenheitsjobs über Wasser – und ist noch immer gläubig. Wirklich alles ganz normal. Nur die Geschichten, die Kurnaz so freundlich erzählt, die sind nicht normal.

Wie spricht man über etwas, für das es keine Worte gibt? Ein Versuch in Bildern.

Erstickende Schwärze, durchbrochen nur von winzig kleinen, hellen Punkten. Ein Tuch, ein Sack über dem Kopf, ein Atem, der schwer geht und nach Angst klingt. Gefangene in orangefarbenen Overalls, sie knien vor einem Zaun. Man kennt das Bild. Der Mann, unser Mann mit dem Sack über dem Kopf, ist hier einer von ihnen.

Die Kühle eines Verhörraumes, gekachelt, im Boden eine Vorrichtung, um den Gefangenen zu fixieren. Maximales Unwohlsein, er rutscht vom Stuhl, kann die Augen nicht mehr offen halten.

Das Weiß der Isolationszelle, in der sie die Luft abdrehen bis der Mann darin japst, am Boden liegt, die Lippen an winzige Luftlöcher in der Wand drückt; in die Musik schallt. Laut. Dasselbe Lied, immer wieder. Und immer wieder Schläge.

Was Murat Kurnaz erlebt hat, kann kaum jemand nachempfinden. Stefan Schaller, 30 Jahre alt, wollte es versuchen. Er machte die Geschichte von Murat Kurnaz zum Teil seiner eigenen. „5 Jahre Leben“ heißt sein Film, der an diesem Mittwochabend in Berlin Premiere feiert und am Donnerstag in den Kinos startet. Deswegen sitzt Kurnaz an diesem Nachmittag, Anfang Mai, in Stuttgart und beantwortet Fragen. Seit Wochen reist er immer an, wenn das Filmteam die Presse zur Vorführung lädt. Ehrensache. Seine Sache. Und ein bisschen macht er das auch für Stefan Schaller.

Als Murat Kurnaz, damals 19 Jahre alt, darüber nachzudenken begann, sein Bremer Leben als Türsteher im Disko- und Drogenmilieu einzutauschen gegen eine Ehe mit einer gläubigen Muslimin, als er also beschloss, zum Studium des Islam nach Pakistan zu reisen, machte Stefan Schaller in München gerade sein Abitur – und eine Erfahrung, die an sich nicht einzigartig ist: „Du bist im Abijahr, kommst nach Hause und siehst die Türme des World Trade Center einstürzen. Du fragst dich: Wie möchte ich leben? Wie wollen wir als Gemeinschaft leben?“

Schaller fühlte die Beklemmung, das Entsetzen. Wie viele hörte auch er von dem jungen Mann aus Bremen – ein deutscher Terrorhelfer? Nur: Stefan Schaller vergaß ihn nicht. Er begann, an der Filmakademie Baden-Württemberg zu studieren und fand immer mal wieder Nachrichten über Kurnaz. „Ich dachte: Hallo? Der sitzt da immer noch.“

Kurnaz ist zufrieden. Er sagt: Das ist meine Geschichte

Einen Film über die Gefangenschaft von Deutschlands bekanntestem Nicht-Terroristen zu drehen ist ambitioniert. Das Ganze als Diplomfilm anzulegen ist es möglicherweise noch mehr. Für Stefan Schaller aber war es nur konsequent. Er hatte schon lange über Folter nachgedacht, Fragen mit sich herumgetragen. Was hätte ich getan? Hätte ich das durchgestanden? Wo liegt meine Grenze?

Er besuchte Kurnaz’ Anwalt, schon 2005. Und er wusste, dass sein Dozent, der Produzent Nico Hofmann, Rechte an Kurnaz’ Buch besaß. Also entwickelte er ein Konzept, wurde vorstellig – und Hofmann ließ ihn machen.

Mehrfach schrieb Schaller das Drehbuch um, bis auch der Lehrer zufrieden war. Er besorgte sich mehr als 30 Stunden Tonbandaufnahmen, die auch Grundlage waren für das Buch über Kurnaz’ Zeit in Gefangenschaft, „Fünf Jahre meines Lebens: Ein Bericht aus Guantanamo“. Endlos lange Gespräche, die Stimme des Entlassenen war noch belegt, klang ganz anders als heute, sagt Schaller.

Er stellte den Kassettenrekorder auf den Boden, hockte sich aufs Sofa gleich dahinter – und hörte einfach nur zu. Mehr als alle Recherche verdeutlichte Schaller eine Szene, mit wem er es zu tun bekommen würde. Kurnaz erzählt vom Gefängnis in Kandahar, wo er sitzt, noch bevor er nach Guantanamo muss. Es sind Tage voller Schmerzen, der Gefangene aufgehängt an einem Haken, der von einem Holzbalken baumelt, wie ein Schlachtvieh – dem man Elektroschocks versetzt.

Schaller, der dem Tonband lauschte, hörte, wie Kurnaz, während er davon erzählte, einen Schokoriegel aß.

Als schließlich alle bereit waren für ein Treffen, im Frühjahr 2010, war es angenehm und entspannt. Am entspanntesten aber war Murat Kurnaz. „Ich kenne dich“, sagte er zu Schaller. „Du siehst aus wie einer der Vernehmer in Guantanamo.“ Ein typischer Kurnaz-Scherz.

„Ich bleibe ernst, wenn ich darüber spreche, oder ich muss lachen“, schreibt der in seinem Buch. „Dann lache ich eben. Aber ich verdränge nichts.“

„Man hat Respekt“, sagt Schaller, „weil dieser Mensch existiert.“

Dieser Mensch zeigte ihm seine Welt, das Viertel, in dem er aufgewachsen war, die Moscheen, Proleten und Kampfhunde. Sie sind ein ungleiches Paar, der breitschultrige, stabile Kurnaz und Stefan Schaller, das dunkle Haar gescheitelt, gern gestikulierend, mit Brille. Aber was heißt das schon? Schaller verstand: „Es ist ein Milieu, in dem Glaube die bessere Option war.“

Heraus kam ein Film, produziert mit relativ kleinem Budget – gedreht unter anderem im Brandenburger Ferienland „Tropical Island“ – in dem ziemlich wenig so ist, wie es wirklich war und von dem doch der Einzige, der es wissen muss, meint: „Das ist meine Geschichte.“ Selbst wenn sie so oft erzählt sei, in Wirklichkeit doch viel härter war. Es gibt keine Folter im Film, sie ist nur angedeutet. Und doch sagten Kurnaz’ Brüder, die den Film mit ihm zusammen ansahen: „Das ist echt grausam.“ Seitdem glaubt er, dass es reicht.

Es ist Stefan Schallers sehr persönliche Auseinandersetzung mit Kurnaz’ Geschichte geworden, verdichtet auf die Jahre in Guantanamo, auf endlose Verhöre mit einem ausgefuchsten Spezialisten (gespielt von Ben Miles), mit kurzen Rückblenden nach Bremen. Die Frage, ob Kurnaz Schuld trägt und die für viele vielleicht die wichtigste ist, wird nicht gestellt. Es gibt in Schallers Film keinen damaligen Kanzleramtsminister Frank-Walter Steinmeier, der nicht besonders interessiert daran war, Murat Kurnaz zurück in seine Heimat zu holen. Der Geheimdienst BND und welche Rolle er spielte ist nicht wichtig und auch sonst könnte man Schaller vorwerfen, dieses Stückchen Zeitgeschichte zu entpolitisieren. Er weiß, dass er sich angreifbar macht. Andererseits: Was bleibt denn, wenn man von der Politik die Bürokratie abzieht, viel anderes als der nackte Mensch? Besonders in Guantanamo.

Im Film ist es ein Moment, ganz nah an Murat Kurnaz, als man ihm plötzlich in die Augen sieht und weiß, dass es ihm jetzt klar wird. Es geht in Guantanamo nicht um Schuld.

Nie ging es ihm darum, sich als Held zu feiern

Kurnaz hätte seine Geschichte an Hollywood verkaufen können, „für richtig viel Geld“. Wollte er aber nicht. „Die Hollywood-Leute waren ganz baff, als ich abgelehnt habe.“ Er lacht leise. „Sie kamen gleich, nachdem ich entlassen worden war. Sie wollten mich zum Bösen machen und mit dem Film rechtfertigen, dass die USA ein Gefängnis in einem rechtsfreien Raum haben.“ Doch Kurnaz’ Geschichte, so wie er sie erzählen will, handelt von der Grausamkeit von Folter. „Ich konnte sofort sehen, dass er die richtige Motivation hatte“, sagt Kurnaz über seine erste Begegnung mit Schaller. Zwar dachte er am Anfang, dass der Film so richtig gut nicht werden könne, wenn der Regisseur gerade erst von der Filmhochschule kommt. „Mir ging es aber nie darum, meine Geschichte möglichst großartig zu erzählen, oder darum, mich als Helden zu feiern. Mir ist wichtig, dass die Menschen wissen, dass heute noch gefoltert wird.“

Es sind abgeklärte Sätze, die dieser bullige Mann ausspricht. Kurnaz-Sätze. In seinem Buch stehen noch mehr davon. „Ich habe gelernt, dass Schmerzen ein Teil des Lebens sind. So ist das Leben.“ Das ist so einer. Oder: „Ich rechne mit dem Schlimmsten. Das habe ich in den ganzen Jahren noch oft lernen müssen: Man soll immer vom Schlimmstmöglichen ausgehen. So wird es sein. Und so war es auch.“

Wie spielt man das Schlimmstmögliche, zumal: wenn es das eines anderen ist?

Es sei natürlich anmaßend, zu versuchen, diese Geschichte zu erzählen, sagt Sascha Alexander Gersak, der Schauspieler. „Total anmaßend.“ Einerseits. Andererseits sollte man es eben unbedingt tun. Er hat Kurnaz’ Auftrag angenommen.

Gersak, 38 Jahre alt, sitzt in Lederjacke vor einer Schöneberger Pizzeria. Es sind nur noch wenige Tage bis zum Kinostart des Films, der für ihn, so sagt er, zu betrachten sei wie eine Meisterprüfung. Mit Stolz und ein bisschen Ehrfurcht. Es ist seine erste große Kinorolle. Und er ist fast in jedem Bild.

Zwischen ihm und Kurnaz stand für die Wochen des Drehs nur die Maske. Mehrere Stunden lang, jeden Morgen und jeden Abend. Manchmal hat er die Veränderung verschlafen, ist dann als langhaariger Bärtiger aufgewacht. Er hat viel Gewicht verloren, hat seinen abgemagerten Körper genutzt, wenn es keine Wort mehr gab, weil der echte Kurnaz auch keine mehr hatte nach drei Wochen ohne Schlaf, Tagen ohne Essen. Ein Körper, über den Kurnaz schrieb, er wäre manchmal gern aus ihm ausgestiegen. Einer, aus dem man Gersak gern heraushelfen möchte, wenn dieser Film einem nichts als Töne gibt und diese aufgesprungenen Lippen, das Frieren, das Schwitzen. Mehr nicht.

In seiner Vorbereitung versuchte Gersak mal, ein Lied über Kopfhörer hundert Mal zu hören. Laute Endlosschleife, sechs Minuten dauerte der Track. Er schaffte fünf Stunden, dann kam er sich selber blöd vor. Weil das zwar ein netter Versuch war, aber natürlich kein Vergleich. Der Zweifel blieb. Kann ich das spielen? Darf ich das versuchen?

Ein Islamwissenschaftler nahm ihn mit in eine Neuköllner Moschee. Mach einfach alles so wie ich, sagte er zu Gersak, dann fällst du nicht auf. Und wieder hatte der Skrupel. Weil es ihm falsch vorkam zu beten, wenn er doch gar nicht beten wollte. Gersak wollte niemanden täuschen, er wollte gern verstehen. Er sagt: „Es ist eigentlich ein Liebesfilm. Ein Film über die Liebe eines Menschen in Gefangenschaft zum Leben.“

„Ich kann sagen: Der Mann im Film, das bin ich“, sagt Kurnaz. Er sagt auch, grinsend, über Gersak: „Das ist der echte Murat Kurnaz.“ Wieder so ein Scherz – oder eine Glaubensfrage.

Kurnaz schiebt seinen Teller mit den Forellenresten beiseite und streckt zum Abschied eine riesige Hand mit perfekt gefeilten Fingernägeln entgegen. „Danke“, sagt er, „dass Sie sich für das Thema Folter interessieren.“ Und geht.

Erschienen auf der Reportage-Seite.

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