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Hebammen demonstrieren für die Rettung ihres Berufsstandes.

© dpa

Haftpflicht für Hebammen: Der Preis der Freiheit - ein Berufsstand vor dem Aus

Gebären ohne Ärzte: Gut 100 Geburtshäuser gibt es in Deutschland, an denen freie Hebammen arbeiten. Doch die Versicherungen wollen nicht mehr für sie haften. Nicht nur ein Berufsstand ist bedroht. Eine Reportage.

Von Barbara Nolte

Christine Schuppe streift ihre Stiefel ab und breitet die Arme aus, um ihre ehemalige Patientin, die sie so nicht nennt, zur Begrüßung zu umarmen. „Wir sprechen einfach von Frauen“, sagt Schuppe. Geburt sei ja keine Krankheit. Christine Schuppe hört sich mit ihrer hellen Stimme an wie ein Mädchen, dabei ist sie Mitte 40. Braune, kurze Haare. Rundes, freundliches Gesicht. Sie hat das Baby, das auf dem Sofa liegt, mit auf die Welt gebracht. Vorsichtig hebt sie es auf ihren Schoß. „Bist schon ein prächtiges Kerlchen“, sagt sie. Letzter Nachsorgetermin in der Weddinger Altbauwohnung der Familie Holle: Christine Schuppe packt ihre Waage aus.

Ihr erster Sohn, erzählt Stina Holle, kam in einer Klinik zur Welt. Mit einer Saugglocke. „Anschließend war ich ramponiert.“ Zermürbt von 15 Stunden Wehen, hatte sie sich damals eine Betäubungsspritze geben lassen, die allerdings die Wehen abschwächte. Die Ärzte verabreichten ihr darauf ein Wehen stimulierendes Mittel, was so schmerzhafte Wehen auslöste, dass sie eine neue, stärkere Betäubungsspritze brauchte. „Eine Verkettung“, sagt Holle, „auf die ich keinen Einfluss mehr hatte. Nie wieder!“ Das Kontrastprogramm, eine Hausgeburt, wollte sie auch nicht. Wegen der Nachbarn hätte sie sich womöglich gehemmt gefühlt, gegen die Wehen anzuschreien. „Christine, war ich laut?“, fragt sie. „Nee, warst nicht besonders laut“, antwortet Schuppe.

Das Geburtshaus Charlottenburg war das erste in Deutschland

Holle hat ihr zweites Kind im Geburtshaus Charlottenburg bekommen, das Hebammen in Eigenregie betreiben. Ihr Mann, ein Kenianer, war erst skeptisch. „Er meinte: Wir leben in einem Land, in dem es überall Krankenhäuser gibt, warum gehen wir dann nicht hin?“ Letztlich sei er zu überzeugen gewesen, weil in seinem Dorf ebenfalls Hebammen und nicht Ärzte die Kinder zur Welt bringen. Im Geburtshaus gibt es sogar einen Raum namens Afrika-Zimmer. Den haben sie bezogen.

Das Geburtshaus Charlottenburg war das erste in Deutschland, gegründet 1987, und Christine Schuppe ist die dienstälteste Hebamme dort. Manchmal muss sie lange durcharbeiten, bis zu 16 Stunden kann eine Geburt dauern. Im Geburtshaus gibt es keinen Schichtwechsel. Und wenn eine Frau ihr Kind lieber in ihrer Wohnung bekommen will, fährt Schuppe hin. „Ein anstrengender, aber wirklich sinnvoller Beruf“, sagt sie, um den sie zurzeit bangt. Schuppe arbeitet freiberuflich, sie verliert womöglich im Sommer kommenden Jahres wie alle freiberuflichen Hebammen ihre Haftpflichtversicherung. Die Nürnberger Versicherung, die an den beiden Konsortien beteiligt ist, die Hebammen versichern, will aus dem Geschäft aussteigen. Selbst die zuletzt explodierenden Prämien fangen die Entschädigungssummen nicht mehr auf, die anfallen, wenn ein Kind bei der Geburt geschädigt wird. Hebammen wird es weiter geben, aber nur angestellte. Die bleiben über die Kliniken versichert. Doch der außerklinischen Geburtshilfe, die in Berlin vier Prozent aller Geburten betrifft, droht das Aus.

Christine Schuppe arbeitet freiberuflich als Hebamme im Geburtshaus in Berlin-Charlottenburg.
Christine Schuppe arbeitet freiberuflich als Hebamme im Geburtshaus in Berlin-Charlottenburg.

© Kitty Kleist-Heinrich

Versicherungskaufleute entscheiden darüber, was eine politische und eine medizinische Frage sein sollte: Sollen Kinder nur noch in Krankenhäusern zur Welt kommen oder auch zu Hause oder in Geburtshäusern, von denen es in Deutschland mittlerweile mehr als 100 gibt? Das Geburtshaus Charlottenburg ist das größte. Schuppe und ihre 13 Kolleginnen entbinden 340 Frauen im Jahr. Sie sind ausgebucht bis Oktober.

Die Geburt zurück in weibliche Hände

Geburtshäuser kommen aus der Frauenbewegung. Die Geburt, die der Apparatemedizin anheim gefallen war, sollte zurück in weibliche Hände. Schuppe fing im Geburtshaus als Praktikantin an, das damals in einer Altbauetage am Klausener Platz war, dabei war sie bereits fünf Jahre im Beruf. Das Wort Supervision hatte sie noch nie gehört. Auch waren ihr die geschmacklichen Vorlieben der Kollegen fremd. Schuppe stammt aus dem Osten. Selbst bei langen Nachtschichten tranken sie in Charlottenburg Tee und nicht Kaffee. Doch Christine Schuppe war beeindruckt, wie „würdevoll und behutsam“ die Hebammen dort mit Frauen und Neugeborenen umgingen. „Wir in den Krankenhäusern haben den Frauen damals noch Einläufe gemacht und die Neugeborenen an den Füßen hochgehoben, um sie zu messen.“ Und statt mehrere Frauen parallel zu betreuen, wie sie es gewohnt war, kümmern sich die Hebammen in den Geburtshäusern um nur eine Frau während der gesamten Geburt. So entstehe eine persönliche Ebene, sagt Schuppe. Die Frau könne sich fallen lassen. Erwiesenermaßen begünstige Entspannung den Verlauf der Geburt.

„Ich habe mich nie alleine gelassen gefühlt“, sagt Stina Holle. Sie ging in die Badewanne, und musste wieder raus, denn das lauwarme Wasser schwächte ihre Wehen ab. Ihr Mann hat sie anschließend viel herumgetragen. Nach fünf Stunden brachte sie ihren Sohn zu Welt. „Christine hat uns große Freiheiten gelassen, zu machen, wie wir es wollten“, sagt sie. „Ein tolles Erlebnis, auch wenn es extrem schmerzhaft war.“

Das Geburtshaus steht in der Nähe einer Klinik

Am diesem Abend drängt sich ein Dutzend Paare im Afrika-Zimmer: Sie sitzen auf dem violett bezogenen Doppelbett, den Fensterbänken, Nachtkästchen. Am Gerüst, das eigentlich aufgestellt ist, damit sich Schwangere während der Wehen dranhängen können, lehnen zwei Männer. „Sie können sich bei uns Ihre Gebärposition selbst aussuchen“, sagt Christine Schuppe, „Hockend, hängend, im Vierfüßlerstand. Wie es Ihnen angenehm ist.“ Zusammen mit einer Kollegin bestreitet sie den Info-Abend des Geburtshauses. Jetzt zieht die Gruppe weiter zur Inspektion des Königinnen-Zimmers und des mediterranen Zimmers, von denen sich jedes Paar eines aussuchen kann, sofern es frei ist.

Alles sieht neu aus. Vor sieben Jahren ist das Geburtshaus vom Klausener Platz weggezogen und hat sich auf dem Campus des Klinikums Westend eingemietet. Der Boden aus Stäbchenparkett, die Wände bunt gestrichen. Dazu opulente Badewannen, über denen Kristallleuchter hängen. Der Geburtstrakt erinnert an einen Wellnessbereich eines Hotels. Zumindest wenn keine kreißende Frau „tönt“, wie Hebammen es nennen, was für Laien wie Schreien klingt. „Gerade leise Frauen entdecken, was für eine Kraft sie in der Stimme haben“, sagt Schuppe. Gebären ohne Ärzte, das heißt auch, dass es gegen Wehenschmerz keine Periduralanästhesie, PDA, gibt, genauso wenig wie einen Not-Kaiserschnitt.

Christine Schuppe deutet auf eine Metalltür am Ende des Flurs. Dahinter, nur einmal quer über den Hof, liegt die Geburtshilfestation des Westend-Krankhauses. „In fünf Minuten sind wir drüben“, sagt sie. Das hätten sie bei einer Teamsitzung gestoppt: „Hebammenschülerin auf die Trage und los!“

"Normale Geburten sind ein ganz natürlicher Vorgang"

Wegen der Nachbarschaft sind sie hergezogen. Eine Umfrage, die sie wegen der Umzugspläne machten, hatte ergeben, dass die Nähe zu einer Klinik dem Sicherheitsgefühl der Frauen zuträglich sei. Christine Schuppe spricht von Sicherheitsgefühl und nicht von Sicherheit. Denn, anders als die Entscheidung der Nürnberger Versicherung suggeriert, habe sie in ihrem Beruf keine Gefahren zu meistern. Risikoschwangere wie Diabetikerinnen oder Frauen, die Mehrlinge erwarten, nehmen Geburtshäuser gar nicht an. „Normale Geburten“, sagt sie, „sind ein ganz natürlicher Vorgang. Je weniger man eingreift, desto besser verläuft eine Geburt.“

Doch jede fünfte Frau, die mit Wehen in ein Geburtshaus kommt, bringt ihr Kind letztlich in einem Krankenhaus zur Welt. Was in der Regel jeglicher Dramatik entbehre, sagt Schuppe. Meistens gingen sie zu Fuß rüber, weil die Geburt zum Stillstand gekommen sei. „Eine Hebamme kennt ihre Grenzen.“ Trotz weit über 1000 Geburten, die Schuppe in ihrem Berufsleben begleitet hat, hatte sie noch nie mit ihrer Haftpflichtversicherung zu tun. Im Geburtshaus ereignete sich der letzte sogenannte Schadensfall im Jahr 2009. Der Hebamme sei damals kein schuldhaftes Verhalten nachgewiesen worden, sagt die Geschäftsführerin des Geburtshauses, Christine Bruhn. „Vorher war ewig nichts passiert.“

Die Haftpflichtversicherer müssen Fallzahlen haben über bei außerklinischen Geburten geschädigte Kinder. Sie geben sie aber nicht heraus. Der Gesamtverband der Versicherungen schreibt nur, dass nicht mehr Kinder bei durch Hebammen geleiteten Geburten geschädigt werden, sondern dass die Entschädigungssummen höher ausfallen. Außer den Eltern verklagen auch die Krankenversicherung und die Rentenversicherung eine Hebamme, weil sie die höheren Behandlungskosten beziehungsweise entgangene Beiträge ersetzt haben wollen – egal ob die Hebamme Schuld hat oder nicht. Es gilt die Beweislastumkehr: Die Hebamme muss beweisen, dass sie richtig gehandelt hat. Viele Hebammen haben die Geburtshilfe ganz aufgegeben. Sie können sich die Versicherungsprämien von über 4000 Euro jährlich nicht mehr leisten. Belegärzten in Geburtskliniken geht es ähnlich. Ihre Prämien liegen mitunter bei über 40 000 Euro im Jahr. So hilft auch die Versicherungsmathematik nicht zur Klärung der Systemfrage: Ist die ungeteilte Aufmerksamkeit einer Hebamme besser fürs Kindeswohl oder die sporadische Anwesenheit eines Arztes?

Der Arzt hat keinen Zweifel: Geburt nur im Krankenhaus

In Krankenhäusern sei „die Sterblichkeit unter der Geburt noch nie so niedrig gewesen“ wie heute, sagt Wolfgang Henrich, der an der Charité die Klinik für Geburtsmedizin leitet. An der Charité werden 4500 Kinder im Jahr geboren, so viele wie nirgendwo sonst in Deutschland. „Die Häufigkeit, dass ein reifes Neugeborenes bei einer normalen Geburt schwer geschädigt wird, liegt in deutschen Krankenhäusern schätzungsweise bei ein oder zwei Promille.“

Wenn Henrich auf dem Info-Abend, den auch die Charité veranstaltet, sagt, „wir sind das größte Geburtshaus Deutschlands“, dann hebt er auf die Anstrengungen seiner Klinik ab, dass sich „die Frauen wohlfühlen“. Die außerklinische Konkurrenz hat die Geburtsstationen mancher Krankenhäuser verändert, die mittlerweile ebenfalls mit Maya-Gebärhockern und afrikanischen Geburtsseilen ausgestattet sind.

Auch Henrich bezeichnet Geburt als natürlichen Vorgang. Er ist wie Schuppe der Ansicht, dass Entspannung ihren Verlauf begünstigt. „Sich im sicheren Schoß einer eventuell notwendigen intensivmedizinischen Betreuung zu befinden ist für viele beruhigend“, sagt er. Binnen weniger Minuten könnten bei einer normalen Geburt „lebensbedrohliche Zustände“ entstehen. „Heutzutage ist es für mich schwer verständlich, warum geplante außerklinische Geburtshilfe gesetzlich geduldet wird, weil das Kind einen Anspruch hat, im Notfall sofort professionell versorgt zu werden.“

Nur noch Vor- und Nachsorge für freiberufliche Hebammen?

In der Kinderintensivstation habe er Babys liegen sehen, die durch Sauerstoffmangel bei einer Hausgeburt schwere Hirnschäden erlitten hatten. Die Eltern dieser Kinder neigten weniger dazu, das medizinische Personal zu verklagen, sagt er. „Dann müssten sie sich eingestehen, wie naiv ihre eigene Entscheidung war.“ Den freiberuflichen Hebammen will der Klinikchef nur noch die Vor- und Nachsorgeuntersuchungen überlassen. Die könne, wie er findet, sogar intensiviert werden „mit besonderem Augenmerk auf die psychosoziale Betreuung“.

Wenn man Christine Schuppe einen Tag lang bei ihren Nachsorgeterminen begleitet, hört man Geschichten, die wiederum kein gutes Bild auf die Kliniken werfen. Ein junger Vater, bei Schuppes erstem Termin, erzählt von einer Bekannten, deren Geburt sich in einem Krankenhaus endlos hinzog. Schließlich hatte sie einen Gebärmutterriss, der zu spät bemerkt worden war. Sie wäre fast verblutet. Die Nachbarin einer anderen Geburtshausklientin war im Kreißsaal alleine gelassen worden. Als jemand kam und feststellte, dass die Herztöne des Kindes unten waren, konnte dieses zwar mit einem Not-Kaiserschnitt gerettet werden, aber sein Gehirn war schon geschädigt.

Überfüllte Stationen, überfordertes Personal, das ist der Kern der Geschichten. Als Ines Merlin zur Geburt ihres ersten Sohnes in der Klinik ankam, hätten dort für die Ärzte neun Kaiserschnitte angestanden. „Ich musste warten, weil ich noch einigermaßen fit war.“ Außerdem war bei ihr noch die PDA falsch gelegt worden, weshalb sie starke Schmerzen hatte.

Eine Mischung aus Medizinerin und Psychologin

Schuppe begutachtet den Nabel von Merlins Baby und zieht es behutsam wieder an. „Wird schon“, sagt sie. Als Nachsorge-Hebamme ist sie eine Mischung aus Medizinerin und Psychologin. Sie lauscht den Herztönen des Landes. Viele jungen Väter und Mütter würden heute immer unsicherer, sagt sie. „Sie wollen bereits das Baby fördern und fürchten, es zu verwöhnen. Dabei braucht doch so ein Baby nur viel Wärme und Muttermilch.“

Falls die freiberuflichen Hebammen im kommenden Jahr tatsächlich ihren Versicherungsschutz verlieren, fallen auch die Nachsorge-Untersuchungen weg. Doch verschiedene Ebenen in der Politik wollen das Versicherungsproblem lösen. Da tagt eine interministerielle Arbeitsgruppe, und eine Bundesratsinitiative ist gestartet worden. Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe, sagt seine Sprecherin, sei sehr daran gelegen, die außerklinische Geburtshilfe zu erhalten. Doch die Zeit drängt. Die Geburtshäuser müssen Monate im Voraus planen. Und wie die hohen Schadensersatzsummen künftig beglichen werden sollen, ist noch völlig offen.

Ines Merlin verspricht Christine Schuppe, am 12. April als Verstärkung zur Hebammen-Demonstration vors Kanzleramt zu kommen. Die Mutter, die Schuppe als Nächste besucht, hat in einer Klinik entbunden, allerdings mithilfe einer Beleghebamme, die auch freiberuflich arbeitet. An die Hebamme, erzählt die Mutter empört, sei bereits herangetragen worden, sie solle zur Altenpflege umschulen.

Dieser Text erschien auf der Dritten Seite.

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