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Halberstadt

© dpa

Halberstadt: Wortlos zugeschlagen

Im Prozess gegen mutmaßliche Neonazis in Sachsen-Anhalt sagen jetzt die Opfer aus. Herbe Kritik äußert einer der Zeugen an der Polizei. Die zum Tatort gekommenen Beamten seien „völlig überfordert“ gewesen.

Von Frank Jansen

Der Schrecken ist noch ganz nah. Timo B. steht in der Mittagspause auf dem Gerichtsflur und weint. Der ausgebildete Tänzer hat eine Stunde lang ausgesagt, manchmal stockend, mal hastig und atemlos. Wie er in der Nacht zum 9. Juni in Halberstadt von einem Rechtsextremisten geschlagen wurde, wie seine Freunde auf der Straße lagen und Tritte abbekamen, „das war ein totaler Schockzustand“. Der zweite Tag im Prozess zum Überfall auf Theaterschauspieler in Halberstadt ist geprägt von der Angst und der Traumatisierung der Opfer. Und von der Kälte der rechten Szene. Während Timo B. und zuvor Alexander J. dem Amtsgericht Halberstadt, das im Gebäude des Landgerichts Magdeburg verhandelt, die Schreckensnacht schildern, grinst im Publikum eine Clique Neonazis. Die vier Angeklagten blicken starr oder gelangweilt vor sich hin.

„Ich drehe mich um und habe den Schlag im Gesicht“, sagt Timo B. dem Gericht, „ich bin stark blutend zurückgetaumelt und habe sofort zum Handy gegriffen.“ Auf dem Boden hätten Kollegen gelegen und seien „massiv von schwarzen Gestalten getreten“ worden. Doch Timo B. hat sich wie auch Alexander J. ein Gesicht gemerkt – das des Angeklagten Christian W. Beide Opfer belasten W. als Schläger. Die anderen Angeklagten können von Timo B. und Alexander J. nicht identifiziert werden.

Timo B. sagt, Christian W. habe ihn mit der Faust an Mund und Nase getroffen. Alexander J. hat zuvor berichtet, W. sei „schnurstracks“ auf ihn zugekommen, habe dann aber in einer kurzen Drehung Timo B. direkt ins Gesicht geschlagen. „Ich wollte Timo helfen“, sagt J., da habe er von einem Unbekannten einen Schlag gegen die rechte Schläfe bekommen. Mit einem „Blackout“ sei er umgefallen, an das weitere Geschehen könne er sich nur noch bruchstückhaft erinnern. Doch die Verletzungen, die Alexander J. erlitt, künden von den Schlägen und Tritten, die er, bewusstlos auf der Straße liegend, einstecken musste. Das Nasenbein war gebrochen, ein Auge geschwollen, „und ich hatte Prellungen und Abschürfungen am Körper“. Das Bild des verletzten Alexander J., wie er kurz nach dem Angriff mit dick bandagierter Nase auf einem Bett im Krankenhaus sitzt, ging deutschlandweit durch die Medien.

Obwohl er in keiner Weise für den Gewaltexzess verantwortlich ist, hat sich Alexander J. Vorwürfe gemacht. „Ich dachte, ich sei schuld, weil ich so aussehe“, sagt er und zeigt kurz auf seinen Kopf. Alexander J. trägt wie im Juni schon einen Irokesenschnitt. So eine Frisur ordnet die rechte Szene automatisch ihrem Feindbild „Zecke“ zu, gemeint sind Punks und Linke. Der Irokesenschnitt von Alexander J. reichte den Angreifern offenbar sogar ohne Worte als Motiv für Prügel. Alexander J. und Timo B. berichten, sie hätten keine Parolen gehört, bevor Christian W. und seine Kumpane losschlugen. Dass W. behauptet, er sei aus der Gruppe der Schauspieler als „Schwuler“ bezeichnet worden, kann Timo B. gar nicht und Alexander J. nur vom späteren Hörensagen bestätigen.

Herbe Kritik äußert Timo B. an der Polizei. Die zum Tatort gekommenen zwei Beamten seien „völlig überfordert“ gewesen und hätten „betrachtet, wie wir geblutet haben“. Als einer der Täter, mutmaßlich Christian W., wieder auf der anderen Straßenseite vorbeikam, hätten die Opfer den Beamten zugerufen, „da ist einer, der geschlagen hat“, sagt Timo B. – doch die Polizisten hätten sich nur langsam „in die Richtung in Bewegung gesetzt“. Das Versagen der Beamten, die sogar zweimal an dem Abend Neonazis haben laufen lassen sollen, beschäftigt inzwischen auch einen Untersuchungsausschuss des Landtags von Sachsen-Anhalt.

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