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Der scheidende britische EU-Botschafter Ivan Rogers.

© Reuters

Update

Harte Worte beim Rücktritt: In der Regierung ist "ernsthafte Erfahrung Mangelware"

Der britische EU-Botschafter Ivan Rogers wirft dem Kabinett von Theresa May Planlosigkeit beim Brexit vor - und geht. Ein Nachfolger steht schon bereit.

„Dear All, Happy New Year!“ Mit einem fröhlichen Neujahrsgruß beginnt eine Abschiedsmail des zurückgetretenen britischen EU-Botschafters Sir Ivan Rogers an seine Mitarbeiter. Was Rogers seinen Kollegen darin aber mit auf den Weg gibt, klingt dann aber sehr nach der Verbitterung eines Spitzenbeamten, der zuletzt offenbar in der britischen Regierung kein Gehör mehr gefunden hat. Mit undiplomatischer Deutlichkeit hat der ständige Vertreter des Vereinigten Königreichs bei der Europäischen Union, der am Dienstag überraschend zurückgetreten war, ein Zerwürfnis mit der Regierung von Theresa May über die Gestaltung des Brexit offengelegt. Die Rücktritts-Mail richtete sich nach der Einschätzung britischer Medien vor allem gegen Mays Handelsminister Liam Fox, der einen mehr oder minder „harten“ Brexit befürwortet.

"Guardian": Rogers hatte Freunde und Einfluss

Rogers, den Mays Vorgänger David Cameron 2013 zum Botschafter in Brüssel machte, gilt als EU-freundlich. Vor allem aber gehört er zum kleinen Kreis von Spitzenbeamten in Großbritannien, welche die vielfältigen Details des bevorstehenden Austritts überblicken. Angesichts der vielen Kontakte, über die Rogers in Brüssel verfügt, kommentierte der „Guardian“ seinen Rücktritt so: „Eine alte Spruchweisheit sagt, dass Großbritannien Freunde braucht, um Einfluss auszuüben. Ivan Rogers hatte beides.“

Dauer der Verhandlungen über Handelsvereinbarung wurde zum Aufreger-Thema

Das Drama um Rogers hatte im vergangenen Monat seinen Lauf genommen, als der Sender BBC über Details aus einer Besprechung zwischen Kabinettsmitgliedern und Rogers vom vergangenen Oktober berichtete. Dabei hatte Rogers die Minister über die Sichtweise der übrigen 27 EU-Mitglieder auf den Brexit unterrichtet. Der Abschluss einer Handelsvereinbarung mit den 27 verbliebenen EU-Mitgliedern, so warnte der Botschafter, könne angesichts der komplexen Materie zehn Jahre dauern. Daraufhin hagelte es Kritik in den EU-feindlichen Medien, die auf eine möglichst schnelle Trennung von der EU drängen. Im rechtskonservativen „Daily Mail“ hieß es etwa, es könne nicht angehen, dass der Abschluss einer Vereinbarung mit den bisherigen EU-Partnern doppelt so viel Zeit in Anspruch nehmen solle wie die Bezwingung der Nazis im Zweiten Weltkrieg.

Trotz des Medienechos, die seine Äußerungen seinerzeit hervorriefen, forderte Rogers seine Mitarbeiter in der Abschiedsmail dazu auf, auch künftig auf ihr Fachwissen zu vertrauen. Sie sollten „nie davor Angst zu haben, den Machthabenden die Wahrheit zu sagen“, forderte der scheidende Botschafter. In einer Spitze gegen Handelsminister Fox schrieb er außerdem: „Anders als einige glauben, kommt Freihandel nicht von selbst zustande, wenn er nicht von den Behörden durchkreuzt wird.“ Fox hatte getönt, er werde zum Zeitpunkt des Austritts aus der Gemeinschaft mit einem Dutzend Freihandelsabkommen mit Partnern außerhalb der EU aufwarten können. Dabei übersah er allerdings, dass Großbritannien gar keine bilateralen Freihandelsverhandlungen führen darf, so lange es EU-Mitglied ist.

Für May ist Rogers’ Abschieds-Mail besonders bitter, weil er der Regierung darin einen Mangel an europapolitischer Expertise vorwirft. In der Regierung sei „ernsthafte Erfahrung bei multilateralen Verhandlungen Mangelware“, schrieb er. Wie er weiter enthüllte, steht noch nicht einmal die Struktur des britischen Brexit-Verhandlungsteams fest – dabei will May ihren Austrittsantrag bei der EU spätestens Ende März einreichen.

Ex-Tory-Chef will glühenden Brexit-Befürworter als neuen EU-Botschafter

May steht derweil vor dem Dilemma, es sowohl den Hardlinern bei den regierenden Konservativen, die auf eine schnelle Trennung von den EU-27 drängen, als auch den Befürwortern eines weiteren Zugangs zum EU-Binnenmarkt recht machen zu müssen. Am Mittwoch brachten sich beide Lager bereits in der Diskussion über die Nachfolge des zurückgetretenen Botschafters in Stellung. Am Abend dann kam die Nachricht, dass der Diplomat Tim Barrow neuer britischer EU-Botschafter wird. Barrow übernehme seine neue Aufgabe bereits in der kommenden Woche, teilte ein Regierungssprecher in London mit. Barrow kann demnach auf eine 30-jährige Karriere als Diplomat zurückblicken. Von 2011 bis 2015 war er britischer Botschafter in Russland. Zumindest kennt er sich mit schwierigen politischen Verhandlungen also aus.

Mit Rogers' Rücktritt könnte sich Mays Verhandlungskurs verschärfen

Für den „Guardian“ ist Rogers’ Rücktritt indes ein Zeichen, dass Großbritannien auf einen „harten“ Brexit zusteuert. Eine solche Lösung könnte schlimmstenfalls bedeuten, dass das Vereinigte Königreich beim geplanten Abschluss einer Austrittsvereinbarung im Jahr 2019 über keinen freien Zugang zum EU-Binnenmarkt mehr verfügt – noch nicht einmal übergangsweise. Nach Ansicht vieler Europaexperten deute der – erzwungene oder freiwillige – Rücktritt Rogers’ darauf hin, dass die britische Regierung auf Mahner wie den scheidenden EU-Botschafter einfach nicht mehr hören wolle, orakelte der „Guardian“. Das Blatt zitierte den Direktor der Londoner Denkfabrik „Centre for European Reform“, Charles Grant, mit den Worten: „Diejenigen, die die Wahrheit sagen, sind nicht immer beliebt, und Ivan machte sich bei einem großen Teil der Konservativen unbeliebt.“

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