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© dpa

Hartz IV vor Gericht: Die Macht der Statistik

Das Bundesverfassungsgericht sieht im Regelsatz für Kinder eine Frage der Menschenwürde.

Thomas Kallay ist ein groß gewachsener Mann von massiger Gestalt. Seit elf Jahren hat er keine Arbeit, aber er weiß, was eine Familie ohne Einkommen braucht, er hat sich hineingekniet, er kann seine Kritik trennscharf formulieren. Doch seit es Hartz IV gibt, hat Kallay einen Gegner, der bisher stärker ist als er: Es ist die Statistik. Sein Kampf gegen sie hat Thomas Kallay am Dienstag bis vor das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe getrieben. „Hartz IV soll eine Teilhabe am Leben der Gesellschaft ermöglichen“, sagt er. „Aber ich frage mich, woran wir von dem, was uns bleibt, noch teilhaben sollen?“

Deshalb hat Kallay, verheiratet und Vater eines Kindes in der Pubertät, geklagt. Von 825 Euro (Leistungen für Unterkunft und Heizung in Höhe von etwa 150 Euro eingeschlossen, dazu noch Kindergeld), könne die Familie nicht menschenwürdig leben, argumentierte er, nachdem mit dem Hartz-Gesetz 2005 seine Leistungen neu berechnet wurden. Das Hessische Landessozialgericht überwies die Klage an das Bundesverfassungsgericht; es war überzeugt, dass der Staat seine Pflicht verfehlt hatte, die Hilfe für Kallay und seine Familie bedarfsgerecht zu ermitteln. Auch zwei Verfahren vor dem Bundessozialgericht landeten so in Karlsruhe; die Richter zweifelten aber nicht am Erwachsenen-Regelsatz, sondern nur an der Berechnung für Kinder.

Die gesamte Wucht der Statistik, sie erscheint an diesem Vormittag in Gestalt einer 28-köpfigen Delegation der Bundesregierung. Ob Rot-Grün oder Schwarz-Rot: Am Paradigmenwechsel im Sozialrecht soll festgehalten werden. Die viel kritisierten Rechengrundlagen, so abstrakt sie sind, würden dem Leben gerecht. „Noch vor wenigen Jahren gab es Streit, ob Sozialhilfeempfänger einen Schwarzweiß- oder einen Farbfernseher brauchen. Morgen können es Mobiltelefone oder energieeffiziente Kühlschränke sein“, sagt Sozial-Staatssekretär Detlef Scheele. Statt wechselnden Präferenzen hinterherzulaufen, garantiere das „lernende System“ nötige Anpassungen.

Für Kläger und Wohlfahrtsverbände lernt das System aber nicht; es ist blind und taub und stur. Ausgangspunkt ist ein Datensatz des Statistischen Bundesamts in Wiesbaden, die „Einkommens- und Verbrauchsstichprobe“ (EVS). Maßgeblich für die Hartz-Empfänger, also die Gruppe der erwerbsfähigen Hilfebedürftigen, sind die 20 Prozent am unteren Ende der Einkommensskala. Die Leistungsberechtigten sollen ein Leben führen können wie Einkommensschwache, lautet das Prinzip der Reform. Ein Prinzip mit Haken. Menschen in Arbeit geben für Dinge Geld aus, die man Hilfeempfängern nicht zugestehen würde, die sich aber in den Datengrundlagen finden. Ein Posten für Maßkleidung und Pelze zum Beispiel. Zudem sollte Hartz IV nicht in Konkurrenz zu Niedriglöhnen treten. Also ermittelte man Abschläge. Am Ende kam immer so viel zusammen, wie sich die damalige Regierung von Anfang an als Regelleistung vorgestellt hatte: 345 Euro. Die Abschläge erscheinen vielen willkürlich, auch den Verfassungsrichtern, wie in ihren Nachfragen deutlich wird.

Ähnlich unplausibel wirken die Abschläge für Kinder. Nach drei Altersgruppen gestaffelt sind es zwischen 60 und 80 Prozent des Erwachsenen-Regelsatzes. Eine ungewollte Pointe der Sozialmathematik ist, dass beispielsweise einem Baby rechnerisch Euros für Zigaretten zustehen, aber keine für Windeln. Ohnehin fordern die Verbände einen um mindestens 100 Euro höheren Satz für Kinder. Ihr Argument: Ein Kind wächst, es braucht öfter neue Kleidung, und wenn es viel wächst und viel isst, braucht es auch mehr Geld für Nahrung als Mutter oder Vater.

Vor Gericht fordern auch Vertreter von Ländern und Kommunen, die Zahlen aus der Wiesbadener Statistik an der Wirklichkeit zu erden. Eine Haltung, die sich auch etwa in den CDU-geführten Ländern Niedersachsen und Nordrhein- Westfalen findet. Viele Kommunen steuern nach, indem sie Hartz-IV-Kinder von der Beteiligung am Schulessen befreien. Denn für Kinder bleibt wenig übrig, gerade auch für die von Alleinerziehenden – denn Unterhalt und Kindergeld werden verrechnet.

Gerichtspräsident Hans-Jürgen Papier betont in der Verhandlung, das Problem am Artikel eins des Grundgesetzes, der Menschenwürde zu messen. Die Gerichte kritisierten dagegen bisher vor allem einen Verstoß gegen den Gleichheitsartikel drei, weil sich die Leistungen für Sozialhilfeempfänger und deren Kinder am tatsächlichen Bedarf orientierten. Bei der Ausgestaltung des Sozialstaates lassen die Verfassungsrichter dem Gesetzgeber traditionell viel Spielraum. Daher ist es kaum zu erwarten, dass das System vollständig gekippt wird. Die Ankündigung Papiers, den Streit zur Grundsatzfrage über das staatlich garantierte Existenzminimum zu machen, muss allerdings wie eine Drohung auf die Koalitionäre in Berlin wirken, die mit der Anpassung der Hartz-IV-Schonvermögen versuchen, etwas Druck aus dem Kessel zu lassen.

Gleichwohl wird dem Sozialministerium, dies machte die Verhandlung deutlich, die EVS in irgendeiner Weise heilig bleiben. Die pauschalierten Sätze sollen schließlich auch die Bereitschaft der Hilfeempfänger stärken, selbst zu bestimmen, wofür sie etwas ausgeben wollen. Seit die Reform in Kraft trat, sind die Sätze angehoben und die Berechnungen für Kinder differenzierter geworden. Trotzdem bleibt ein Eindruck, wie ihn Kallays Rechtsanwalt am Dienstag zusammenfasst: „Wir hören hier viel von Statistik“, sagt er. „Tatsache ist, es reicht einfach nicht.“

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