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Hartz-Reformen: Die Gunst des Protests

Die SPD hat eine Lücke gelassen - die Linke hat sie genutzt. Gerhard Schröders Reformpolitik hat seinen Kontrahenten Oskar Lafontaine noch einmal groß gemacht.

Von Matthias Meisner

Der Attac-Aktivist Werner Rätz kann sich von Neid nicht frei machen, wenn es um die Proteste gegen die Hartz-Reformen geht – und um das, was Gregor Gysi und Oskar Lafontaine daraus gemacht haben. Der Parteiaufbau sei von Lafontaine und Gysi nach der Verkündung von Gerhard Schröders Agenda 2010 „perfekt“ betrieben worden, sagt Globalisierungskritiker Rätz dem Tagesspiegel: „Was kann man mehr wollen, als eine sozialpolitisch kompetente Partei in Gesamtdeutschland zu etablieren?“

Von „Jahren der Proteste“ in Deutschland sprechen Sozialwissenschaftler beim Rückblick auf die Zeit nach der Verkündung der Pläne des VW-Managers Peter Hartz, deren Umsetzung „eins zu eins“ Schröder angekündigt hatte. Viele Menschen, sagt Rätz, hätten damals erkannt, dass die Politik ein „Drohpotenzial nach unten“ durchgesetzt habe, dass sie mit der Abschaffung der Arbeitslosenhilfe in den Betrieben mit einem „erheblichem Disziplinierungsmittel“ konfrontiert worden seien. Selbst konservative Beobachter sprachen von der „größten Kürzung von Sozialleistungen seit 1949“. Viele gingen dagegen auf die Straße – und die Linkspartei schrieb eine Erfolgsgeschichte.

Die Politikwissenschaftler Oliver Nachtwey und Tim Spier vertreten in einem jüngst erschienenen Buch über die Linkspartei die These, dass der Wandel der SPD im Zusammenhang mit den Hartz-Reformen „eine Lücke der politischen Repräsentation erzeugt hat, die das Bündnis aus WASG und PDS geschickt zu nutzen wusste“. Eine „günstige Gelegenheit“ nennen sie das. Geschickt hätten die linken Parteigründer vor allem nach der Ankündigung von Hartz IV verstanden, sich als neue Adresse für die „soziale Frage“ anzubieten und die Spannungen zwischen Gewerkschaften und SPD für sich zu nutzen.

Die Protestbewegung gegen die Hartz-Reformen tat ihren Teil dazu. Im April 2004 mobilisierte der DGB gemeinsam mit Attac und anderen rund 500 000 Menschen zu Protestkundgebungen in Berlin, Stuttgart und Köln. In den Monaten danach schwappte eine Protestwelle über das Land, die viele so nicht erwartet hatten. Vor allem in Ostdeutschland beteiligten sich Woche für Woche Zehntausende an neuen Montagsdemonstrationen – unter dem Freiheitslabel aus dem Wende-Herbst 1989 wurde nun gegen Hartz IV protestiert. Die Sozialwissenschaftler Dieter Rucht und Mundo Yang analysierten später, zu 43 Prozent hätten sich Arbeitslose an den Protesten beteiligt, etwa ein Fünftel seien Rentner und Pensionäre gewesen. Initiatoren wie der Pfarrer der Leipziger Nikolaikirche, Christian Führer, standen bald am Rand. Führer wollte nicht, dass mit den Montagsdemonstranten Parteipolitik gemacht wird.

Die von Rucht und Yang in Berlin, Dortmund, Leipzig und Magdeburg 2004 befragten Protestierer aber waren längst offen für Lafontaines und Gysis Parteienpläne – nur zwei Prozent wollten noch für die SPD stimmen, dagegen im Osten 49 Prozent für die PDS, im Westen 33 Prozent. Im Herbst 2004 spricht Lafontaine auf einer Montagsdemonstration in Leipzig – und erklärt die Parole „Wir sind das Volk“ zum Einspruch gegen soziale Ungerechtigkeit. Gysi sagt dazu, die SPD werde die Bilder aus Leipzig „so schnell nicht vergessen“. Die Linke profitiert bis heute von den Reformen: Ihr Bundesgeschäftsführer Dietmar Bartsch erklärte am Mittwoch, vor fünf Jahren habe die SPD „ihre Rolle als Schutzmacht der kleinen Leute preisgegeben“.

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