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Politik: Hauptsache Hauptstadt

Von Lorenz Maroldt

Von Lorenz Maroldt

Gut eine Minute kostet es, diesen Artikel hier zu lesen. In dieser Minute verliert das Land Berlin fast fünftausend Euro, die an Zinsen gezahlt werden müssen für die mehr als 60 Milliarden Euro Schulden. In der nächsten Minute sind es wieder fünftausend Euro. Wenn die Stunde rum ist, hat das Land Berlin dreihunderttausend Euro für nichts ausgegeben, am Ende des Tages sieben Millionen, bis zum nächsten Freitagabend 35 Millionen. 35 Millionen – das ist auch die Summe, die es das Land kosten würde, auf die Elternbeiträge für Kindertagesstätten zu verzichten, ein ganzes Jahr lang. Das ist die finanzielle und politische Dimension, um die es am kommenden Donnerstag vor dem Bundesverfassungsgericht geht.

Über Sinn und Hintersinn des Wahlversprechens von Klaus Wowereit zu den Beiträgen für Kitas mag zu streiten sein. Dieses Vorhaben jedoch in einen unmittelbaren Zusammenhang mit der Klage Berlins auf Feststellung einer Haushaltsnotlage und Bundeshilfen zu stellen, wie es jetzt einige Ministerpräsidenten von glücklicheren Ländern tun, offenbart ein gehöriges Maß an Scheinheiligkeit und bösem Willen. Als Berliner wünschte man all den Stoibers, wo auch immer sie von ihren Hochsitzen aus liebevoll das EU-gemästete Viehzeug betrachten, wo auch immer sie sich an ihren subventionssatten Feldern berauschen, eine Amtszeit Sarrazin original. Dann wüssten sie, was Sparpolitik wirklich ist – und auch, welche Folgen sie hat.

Am Beispiel Berlins zeigt sich genau, was falsch läuft im Land. Es lässt sich übertragen auf Kurt Becks Gerede vom Unterschichtenfatalismus, das Arme pauschal zu freiwilligen Asozialen macht, die sich selbst bei abnehmender staatlicher Unterstützung mit ihrer Rolle abfinden und nach nichts Besserem mehr streben. Die entscheidende Frage aber lautet: Gibt es überhaupt Chancen auf Besseres, also eine tatsächliche Perspektive?

Stoiber sagt, es gebe Grenzen der Solidarität. Er sei nicht bereit, Verantwortung zu übernehmen für Länder, die sich verschuldeten. Aber es geht gar nicht um Solidarität. Die orientiert sich in Deutschland ohnehin an engen Grenzen, geografischen wie sozialen. Berlin bittet nicht um Solidarität, sondern um Hilfe dabei, sich selbst zu helfen. Mehr als 60 Milliarden Schulden lasten auf dem Land, und es werden immer mehr – wegen der Zinsen. Ansonsten ist der Haushalt gedeckt. Die Perspektive, die Berlin braucht, um nicht – nach all der Anstrengung – ebenfalls dem Fatalismus anheimzufallen, ist klar: Ausgabendisziplin wird es auf Dauer nur geben, wenn sich daraus ein Sinn ergibt. Solange die Zinsen jeden zählbaren Sparerfolg fressen, ist der allerdings fraglich. Um aus eigener Kraft seine Lage verbessern zu können, braucht es zuweilen am Anfang etwas Hilfe. Für diese Erkenntnis und den daraus resultierenden Erfolg hat Muhammad Yunus mit seiner Mikrokreditbank gerade den Friedensnobelpreis erhalten.

Steht Berlin am Anfang – oder doch eher vor dem Ende? Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts am Donnerstag ist das wichtigste Ereignis für die Stadt seit dem Fall der Mauer. Dieser Bezug ist kein Zufall, denn die Vereinigung Deutschlands hat Berlin ganz wesentlich an diesen Punkt gebracht. Von den neuen Aufgaben stark gefordert, vom Bund kalt im Stich gelassen, haben die Berliner Landesregierungen nach 1990 lange gebraucht, sich finanziell umzustellen. Das ist jetzt gelungen, mögen die anderen Länder auch weiterhin ihre Vorbehalte pflegen. Wenn die Gewaltenteilung gilt, dann ist es ohnehin reichlich egal, was ein Finanzminister aus Baden-Württemberg von der Hauptstadt hält.

Übrigens Stuttgart: Im WM-Film „Deutschland, ein Sommermärchen“ ist zu sehen, wie die Nationalspieler nach dem Halbfinal-Aus gegen Italien darüber diskutieren, ob sie nach dem Spiel um Platz 3 gleich von Stuttgart aus in den Urlaub fahren oder ein paar Tage später noch in Berlin auf der Fanmeile feiern wollen. Ballack und Kahn sind gegen Berlin. Zu anstrengend. Am Ende fahren sie doch – und sind begeistert, ergriffen, stolz. Ja, eine Hauptstadt zu haben, kann manchmal anstrengend sein. Aber es lohnt, sich eine zu leisten.

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