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Politik: Hauptstadt der Singles

DAS NEUE BERLIN

Von Harald Martenstein

Wahrscheinlich gibt es auf der ganzen Welt keine Millionenstadt, die für Familien mit Kindern so gut geeignet ist wie Berlin. Viel Grün, breite Bürgersteige, große und relativ billige Wohnungen, ein gut funktionierendes Nahverkehrssystem – sicher, das Paradies haben auch wir nicht im Angebot, aber verglichen mit Paris oder London ist es hier prima.

Es nützt nichts, viele Familien ziehen trotzdem weg. Neue Zahlen belegen, wie radikal Berlin sich verändert hat, seit dem magischen Jahr 1989. Einerseits sind es die Eltern, die, zum Teil aus irrationalen Gründen, mit ihren Kindern in den neuen „Speckgürtel“ ziehen, in die Eigenheimsiedlungen außerhalb der Stadt. Berlin verliert die Kinder. Andererseits wächst, entgegen dem Bundestrend, der Anteil der Alten an der Bevölkerung nicht. Berlin wird nicht älter. Und: Jeder dritte Stadtbewohner ist erst nach 1989 hierher gezogen. Mehr als eine Million. Man übertreibt kaum, wenn man sagt: Berlin ist in nur einem Jahrzehnt eine andere Stadt mit anderen Leuten geworden. Die größte Gruppe unter diesen Neuberlinern sind jüngere Singles, Menschen unter 35.

Überraschend kam das nicht. Eigentlich ist genau das passiert, was uns die Sozialwissenschaftler vorhergesagt haben. Berlin holt im Eiltempo die Entwicklungen anderer deutscher Städte nach – den Speckgürtel zum Beispiel –, und es wird ein Magnet für die Jungen, für die Aktiven und Kreativen.

Das klingt großartig, nicht wahr. Aber was bedeutet es?

Der typische Bewohner des neuen Berlin ist vor ein paar Jahren hergekommen und lebt allein, er arbeitet und genießt seine Freizeit. Sonst nichts. Für viele andere ist Berlin eine Stadt, in der man arbeitslos ist und nicht weiß, was man ohne Geld mit der vielen Zeit anfangen soll. Ein Leben, das sich aufteilt zwischen Arbeit und Kindern? Anderswo.

Eine Stadt ohne Kinder wird ichbezogener. Leute mit Kindern sind keine besseren Menschen, aber sie haben einen anderen ZeitEtat, sie müssen für andere mitdenken und andere Prioritäten setzen. Die Münchner Bussi-Gesellschaft zum Beispiel hat viel damit zu tun, dass München eine Stadt mit nur wenigen Kindern ist, weil kaum eine Familie sich die dortigen Mieten leisten kann.

Berlin war immer eine Mischung aus den verschiedensten Gruppen und Milieus, das wird auch so bleiben. Die Stadt ist zu groß für eine Monokultur. Aber die Gewichte können sich verschieben, die tonangebende Schicht kann wechseln. Zur Mauerzeit waren beide Stadthälften proletarisch geprägt, dazu gab es die alternativen Bürgerkinder im Westen und die DDR-Intelligenz im Osten. Wenn man jetzt abends durch Mitte geht, sieht man durch die Schaufenster der Lokale die neue prägende Schicht, die zugezogenen, arbeitenden Singles. Sie kommen von überall her. Sie sind in gewisser Weise entwurzelt, wie alle, die im Lauf der Jahrhunderte nach Berlin gezogen sind, von den Hugenotten bis zu den türkischen Immigranten. Weil sie keine Kinder haben, denken sie noch nicht so oft über ihre eigene Generation hinaus.

Kinder bedeuten nun einmal Kontinuität. Mit Kindern geht es weiter, ohne Kinder ist irgendwann Schluss. Berlin, die Stadt, die immer weniger Kinder hat, lebt ganz im Rausch des Heute. Sie ersäuft ihre Zukunft in einem Meer aus Schulden, sie kümmert sich zu wenig um ihre Schulen, ist aber der neue deutsche Meister im Partyfeiern. Das hat sich im Laufe der Jahre so ergeben, daran sind nicht die Singles schuld. Ganz viel Ich, ganz viel Heute: Auf die Dauer geht das vermutlich auch einem Single auf die Nerven.

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