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Politik: Heikler Jahrestag für Ankara

Antigriechischer Pogrom wird neu aufgearbeitet

Mit Knüppeln und Eisenstangen zog der Mob über die Prachtstraße Istiklal Caddesi im Herzen Istanbuls. Türkische Extremisten zerstörten am 6. und 7. September 1955 Schaufenster und Geschäfte, warfen Autos um und verprügelten Griechen und andere Angehörige nicht muslimischer Minderheiten. Menschen wurden getötet und vergewaltigt, Häuser und Kirchen geplündert. Die Polizei ließ die Angreifer gewähren.

Nun beginnt zum 50. Jahrestag des Pogroms ein neuer Versuch, die „türkische Kristallnacht“ aufzuarbeiten. Wie die Pogromnacht der Nazis im November 1938 galt die Istanbuler Gewaltwelle erst als spontaner Wutausbruch, entpuppte sich dann aber als sorgfältig vorbereitete Aktion. Auslöser war das Gerücht, griechische Extremisten hätten das Geburtshaus von Staatsgründer Atatürk im nordgriechischen Thessaloniki angegriffen. Daraufhin formierten sich in Istanbul die Schläger. Neuen Erkenntnissen zufolge hatten sich die Anführer der Extremisten vorher bereits von der Verwaltung Adressen von Häusern und Arbeitsplätzen der Christen besorgt. In einigen Fällen wurden Häuser mit der Aufschrift „Kein Türke“ gekennzeichnet. Es gab elf Tote und bis zu 600 Verletzte, rund 5300 Häuser, Kirchen und Geschäfte wurden angegriffen. Unter den Zerstörungen litten vor allem Griechen, aber auch Armenier und Juden. Zehntausende Griechen und Armenier wanderten nach dem Pogrom aus. Heute leben nur noch etwa 3000 Griechen in Istanbul.

Nach wie vor ungeklärt ist, wie weit der türkische Staat in den Pogrom verwickelt war. Bisher wurde die Schuld allein bei der islamistisch angehauchten Regierung des damaligen türkischen Ministerpräsidenten Adnan Menderes gesehen. Doch einigen Berichten zufolge fuhren Teile der Schlägertrupps in jener Septembernacht mit Lastwagen der Armee von Plünderung zu Plünderung. Ein Polizist soll damals gesagt haben: „Heute bin ich kein Polizist, sondern Türke.“

„Sehr wichtig und sehr gut“ sei es, dass die türkische Öffentlichkeit jetzt neu über die Ereignisse von 1955 diskutiere, sagt der Istanbuler Historiker Ahmet Insel. Obwohl der Pogrom in der Türkei kein Tabuthema ist, wie es die Armenier- Massaker des Ersten Weltkriegs lange waren, sind viele Fragen noch ungeklärt. Die großen türkischen Zeitungen haben zum 50. Jahrestag mit Artikelserien begonnen, in denen sie ihre Leser mit bitteren Wahrheiten konfrontieren. In der Zeitung „Vatan“ war am Dienstag von der „schlimmsten gesellschaftlichen Katastrophe der türkischen Geschichte“ die Rede.

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