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Politik: Helmut Schmidt im Interview: "Ein Teil der Manager ist moralisch nicht in Ordnung"

Helmut Schmidt (82) war von 1974 bis 1982 Bundeskanzler. Seit seiner Jugend gilt er als präziser Denker und scharfer Redner.

Helmut Schmidt (82) war von 1974 bis 1982 Bundeskanzler. Seit seiner Jugend gilt er als präziser Denker und scharfer Redner. Dazu ein verlässlicher Krisenmanager ­ bei der Flutkatastrophe in Hamburg 1962 ebenso wie während der Bedrohung durch den RAF-Terrorismus, der 1977 in der Entführung und Ermordung des Arbeitgeberpräsidenten Hanns-Martin Schleyer sowie der Kaperung der Lufthansa-Maschine "Landshut" gipfelte. Heute ist Schmidt Herausgeber der Wochenzeitung "Die Zeit".

Würde ein Kanzler Schmidt heute Deutschland an der Seite der USA in den Kampf gegen den Terrorismus führen?

Jeder Bundeskanzler muss den Kampf gegen den Terrorismus führen. Einige haben Glück gehabt, weil das zu ihrer Zeit keine vordringliche Aufgabe war. Gegenwärtig ist es eine vordringliche Aufgabe.

Präsident Bush und Kanzler Schröder haben gleich nach dem 11. September das Wort Krieg in die Debatte geworfen. Sie gehören zu einer Generation, die Krieg erlebt hat. Ist das, was sich jetzt anzubahnen scheint, Krieg?

Ich würde das Wort Krieg in diesem Zusammenhang vermeiden. Es ist nicht auszuschließen, dass sich ein Krieg daraus entwickelt - wenn sich herausstellen sollte, dass ein Land, eine Regierung, an diesen terroristischen Attentaten beteiligt war oder sich mit ihnen solidarisiert. Aber Kampf gegen den Terrorismus ist etwas anderes als Krieg. Krieg ist ein Kampf zwischen Staaten.

Fürchten Sie die Ängste, die das Wort auslösen kann?

Ich kann verstehen, dass in der ersten Erregung nach den Attentaten dieses Wort gebraucht worden ist. Aber es gibt im Englischen den Ausdruck der self fulfilling prophecy. Der Wortgebrauch Krieg soll nicht zu einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung werden. Deshalb würde ich ihn vermeiden.

Viele sagen, es wird nichts mehr sein wie es war. Leben wir nicht mehr in der gleichen Welt wie vor dem 11. September?

Das halte ich für eine übertriebene Dramatisierung. Wir haben im Laufe der letzten Jahrzehnte eine Unzahl terroristischer Flugzeugentführungen erlebt - Hunderte terroristische Geiselnahmen, Dutzende Selbstmordattentate.

Was ist neu?

Hier wurde mit einem einzigen konzentrierten Angriff das Leben von Zehntausenden bedroht. Wenn es, wie es gegenwärtig scheint, zwischen 6000 und 7000 Tote sind, ist das Glück im Unglück. Es hätten genauso gut 30000 Tote sein können. Das ist eine neue Qualität von Terrorismus! Aber nicht eine andere Welt.

Wo Gefahr ist, wächst das Rettende auch, sagt Hölderlin. Was sagt Schmidt? Sehen Sie etwas Neues wachsen, eine neue Weltordnung? Immerhin scheint sich eine Koalition zu bilden, die größer ist als alle Bündnisse seit 1945?

Auch mit dem Ausdruck von der neuen Weltordnung wäre ich zurückhaltend. Den Anspruch hat es Anfang der 90er Jahre schon einmal gegeben. Und er hat sich damals jedenfalls nicht erfüllt...

nach dem Irak-Krieg zur Befreiung Kuwaits 1991.

Ja. Das Wort gab es schon nach dem Ende des Kalten Krieges. Erinnern Sie sich an die Äußerungen des damaligen Präsidenten Bush! Tatsächlich hat sich auch im Laufe der 90er Jahre sehr zögerlich und schrittweise eine Normalisierung ergeben zwischen dem Westen einerseits - sprich Amerika, die europäischen Verbündeten, die Europäische Union - und Russland andererseits. Ebenso, aber vorsichtiger, im Verhältnis zur Volksrepublik China. Wenn sich angesichts der Bedrohung durch den Terrorismus eine Zusammenarbeit ergibt, so verstärkt das Tendenzen, die ich schon während der 90er Jahre beobachtet habe und die ich begrüße.

Präsident Putin hat in seiner bemerkenswerten Rede im Bundestag eine neue, echte Partnerschaft gefordert, in der Russland stärker an den Entscheidungen beteiligt wird. Kann man ihn beim Wort nehmen? Soll man ihn beim Wort nehmen?

Ich war seit Jahr und Tag der Meinung, man soll die Russen einbeziehen, bei allen wichtigen Entscheidungen, die ihre Interessen berühren. Das gilt für das Thema Nato-Erweiterung, das Thema Raketenabwehr und viele weitere Themen. Man kann auch nicht ausschließen, dass sich aus der gegenwärtigen Wirtschaftsflaute eine weltweite Rezession entwickelt. Dann sind die Russen und die Chinesen mit ihren nationalen Interessen genauso berührt wie Frankreich, England, Deutschland oder Amerika. Es ist eine gute Sache, dass im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen alle gemeinsam gestimmt haben. Das wird nicht auf ewige Zeiten so bleiben. Aber gegenwärtig ist das ein gutes Zeichen.

Die Europäische Union steht vor der Erweiterung. Müsste die nun sehr viel schneller kommen? In einer Krise rückt man zusammen und bündelt die Kräfte.

In diesem Punkte bin ich anderer Meinung. Schon die bisherige Planung der Erweiterung der EU war reichlich sorglos. Nehmen Sie die Zusammensetzung der Kommission in Brüssel! Die besteht heute aus zwanzig Mitgliedern, das sind mindestens sieben zu viel. Wenn wir auf einen Schlag zwölf neue Mitglieder aufnehmen und die fünf größten Länder auf ihren zweiten Kommissar verzichten, kommen wir auf eine Kommissionszahl von 27. Das ist ein Unding. Außerdem wird bisher für alle wichtigen Fragen Einstimmigkeit verlangt. Das hieße, demnächst haben 27 Regierungen ein Vetorecht. Auch das ein Unding! Deswegen würde ich die Erweiterung um keinen Preis beschleunigen wollen. Die Reform von Struktur und Verfahren muss zeitlich vorausgehen. Denn nach der Erweiterung wird sie noch viel schwieriger, wenn nicht gar unmöglich.

Soll man sie verzögern?

Sie wird ohnedies sehr viel zögerlicher verlaufen, als die Reden der heutigen Außenminister und der heutigen Kommissare es ankündigen. Ganz unabhängig vom Terrorismus. Die Zusammenarbeit im Kampf gegen den Terrorismus setzt ja nicht Mitgliedschaft in der Europäischen Union voraus.

Die Priorität müsste die Vertiefung der bestehenden EU haben?

Ich bin fest davon überzeugt - und ich sage das als jemand, der seit über einem halben Jahrhundert ein dezidierter Anhänger der europäischen Integration ist und ein Schüler von Jean Monnet seit mehr als 50 Jahren.

Gilt das auch für den Kampf gegen Terror: Dass sehr breite Koalitionen nicht unbedingt für Stärke stehen, weil eine zu große Koalition deren Effektivität vermindert? Pakistan will nicht, dass die Taliban stürzen; andere Länder haben andere Einwände gegen Amerikas Strategie.

Viele Regierungen werden, wie Pakistan, aus innenpolitischen Gründen zurückhaltend sein, was das Ausmaß und die Qualität ihrer Beteiligung am Kampf gegen den Terrorismus angeht. Einige sind bereit, mitzuwirken, aber bitte verdeckt und möglichst so, dass die öffentliche Meinung im Land es nicht richtig mitkriegt ...

so tun, als täte man nichts?

Ja. Der Großteil dieser Staaten wird zwar autoritär regiert, aber wenn die Massen in Armut leben, müssen auch Diktatoren vorsichtig sein. Die Entwicklung wird sehr davon abhängen, ob es weitere terroristische Attentate gibt in nächster Zeit. Das können wir nicht ausschließen.

Ist unsere politische Klasse auf der Höhe der Herausforderung? Früher haben Sie Skepsis über die Ernsthaftigkeit und die Regierungsqualitäten der so genannten 68er geäußert, weil sie nicht durch existenzielle Erfahrungen wie den Weltkrieg gehärtet seien.

Sicherlich hat die politische Klasse insgesamt - ich rede nicht nur von der Regierung - nicht die gleiche Qualität wie in den 50er und 60er Jahren. Die Generationen, die heute in Parlamenten und Regierungen sitzen, dürfen dem lieben Gott dankbar sein, dass sie keine großen Katastrophen durchstehen mussten. Das heißt aber keineswegs, dass die politische Klasse in Deutschland der terroristischen Herausforderung nicht gewachsen wäre.

Das ist jetzt ihre Feuertaufe, wenn man das Pathos nicht scheut ...

und ich nehme an, sie werden diese Probe auch bestehen.

Gerhard Schröder hat in seiner Regierungserklärung gesagt: Risiken ja, Abenteuer nein. Ist das nicht eine Leerformel, wenn man nicht dazu sagt, wo das Risiko endet und das Abenteuer beginnt?

Das kann man im Voraus nicht genau definieren. An seiner Stelle würde ich das gegenwärtig auch nicht definieren wollen.

Wäre eine Beteiligung an einem Angriff auf Afghanistan bereits Abenteuer?

Woher nehmen Sie die Unterstellung, dass es einen Angriff auf Afghanistan geben wird? In solch ernsten Dingen muss man ganz besonders zurückhaltend sein - gerade, was die Beantwortung hypothetischer Fragen angeht. Was wäre, wenn? Es ist nicht die Aufgabe einer Regierung, Staatsphilosophie zu liefern. Die Aufgabe einer Regierung ist zu handeln, wenn Handeln geboten ist.

Sie haben als Regierungschef selber in existenziellen Entscheidungen gestanden, etwa bei der Geiselbefreiung in Mogadischu. Worauf kommt es da an?

Mogadischu war nicht das einzige Beispiel. Ein anderes war der Nato-Doppelbeschluss, den wir initiiert haben. Das hat einen erhebheblichen Konflikt mit Washington ausgelöst. Aber Frankreich und England standen auf unserer Seite, am Ende haben ihn auch die Amerikaner mitgetragen. In solchen Fällen kommt es darauf an, die eigene Vernunft anzuspannen: Was liegt im Interesse meines Landes und der Menschen hier? Wie weit muss ich Rücksicht nehmen auf die Interessen meiner Nachbarn und Verbündeten? Zweitens darf man niemals, auch unter noch so starkem Druck, die Verfassung und die Charta der Vereinten Nationen verletzen. Schließlich kommt es auch auf die eigene moralische Qualität an. In einer Demokratie soll man vor schwerwiegenden Entscheidungen die Opposition einbeziehen, sie nicht nur informieren, sondern auch konsultieren. In Amerika haben wir gerade das Zusammenspiel zwischen Präsident und Kongress gesehen. In Berlin entwickelt sich das ähnlich. Das muss aber nicht zu einer großen Koalition führen, das ist dummes Zeug.

Damals saß ein nationaler Krisenstab im Kanzleramt. Die Entscheidungen heute müssen transnational fallen. Ist das schwieriger, wenn nicht alle in einem Raum sitzen?

Die Entscheidungssituation ist sicherlich komplizierter als damals bei der Abwehr der verbrecherischen RAF. Mehr Staaten müssen einbezogen werden. Viel mehr Menschen rund um die Welt sind betroffen.

Und wie steht es um die Fähigkeit der wirtschaftlichen Klasse, der Manager, Börsianer, Kaufleute? Sie haben die Möglichkeit einer Rezession angesprochen. Sind unsere Wirtschaftsführer mit ihren Reaktionen auf der Höhe der Zeit?

Die Wahrscheinlichkeit einer Weltdepression ist gering. Aber Teile der Managerklasse in Amerika, in Europa, auch in Deutschland sind moralisch nicht in Ordnung. Dieses Ausmaß von Machtgier und Selbstbereicherung wäre vor zwanzig, dreißig Jahren unvorstellbar gewesen. Diese Manie, andere Unternehmen aufzukaufen, Fusionen und Übernahmen, von denen mehr als die Hälfte schief geht ...

die also fahrlässig sind?

Nicht generell. Aber von mir aus: auch fahrlässig. Vor allem spekulativ. Spekulationen spielen eine viel zu große Rolle.

Was muss die politische und wirtschaftliche Führung jetzt tun?

Wir leben in einer Fernsehdemokratie. Eine der wichtigsten Aufgaben der Regierungen ist es heute, die Mehrheit des eigenen Volkes über das Medium Fernsehen emotional auf der richtigen Bahn zu halten. Das Fernsehen verleitet das Publikum zur Oberflächlichkeit, Bilder kriegen eine größere Bedeutung als Worte. Es verleitet aber auch Politiker zur Oberflächlichkeit, weil sie maximal eine Minute und zwanzig Sekunden zu Wort kommen. George W. Bush hat diese Leistung in seiner Rede vor dem Kongress vollbracht. Er hat dem Volk klar gemacht: Die Regierung weiß, was sie will, ohne andererseits Öl ins Feuer zu gießen. Viele Leute haben Bush das nicht zugetraut. Ich auch nicht. Er hat bisher keinen wesentlichen Fehler gemacht. Auch die deutsche Regierung hat bisher keinen wesentlichen Fehler gemacht.

Kommen wir vom Personal zu den Entscheidungsstrukturen: Ist die EU, ist die Nato mit ihren Mechanismen auf eine solche Situation vorbereitet? Woran liegt es, dass der Nationalstaat so stark in den Vordergrund tritt?

Ich glaube nicht, dass der Nationalstaat in den Vordergrund getreten ist. Die breite Allianz gegen den Terrorismus ist doch eine erstaunliche Entwicklung, die man vor vier Wochen kaum für möglich gehalten hätte.

Aber die nationalen Regierungen in Europa haben sofort reagiert und ihre Solidaritätsentscheidung getroffen. Es hat elf Tage gedauert, bis die Regierungschefs zusammentraten, um zu überlegen, was die EU gemeinsam tun kann.

Das hat mich nicht gestört. Die Organe der EU neigen dazu, sich selber für wichtiger zu halten, als sie einstweilen sind.

Hamburg, Ihre Vaterstadt, hat gewählt und die Republik aufgeschreckt. Was ist mit einer Gesellschaft los, in der ein politisch unerfahrener Mann mit einem Schlag auf 20 Prozent kommt?

Eine Großstadt zu verwalten, ist heute viel schwieriger als früher. In Hamburg hat ein intelligenter rhetorisch begabter Mann erkannt, dass da ein weicher Punkt war. Diejenigen, die die Stadt in den letzten Jahrzehnten regierten, haben nicht rechtzeitig begriffen, dass eine straffere Verwaltung, eine straffere Polizei geboten war. In New York hat Bürgermeister Giuliani das früh erkannt. Dort könnte ein Phänomen Schill heute nicht funktionieren. Als Giuliani anfing, hart durchzugreifen, haben ihn die Liberalen scharf angefeindet. Heute macht ihm keiner mehr einen Vorwurf. Man kann die Liberalität auch zu weit treiben, die Hamburger haben dafür die Quittung bekommen.

Der Politik fehlten die Maßstäbe für das richtige Verhältnis von Freiheit und Sicherheit - und die Wählern hatten ein gesundes Gespür für die notwendigen Korrekturen?

Ja, das ist richtig. Ob dieser Mann in der Lage ist zu regieren, ist eine andere Frage. Ihm fehlt es einstweilen an Erfahrung und an Selbstkontrolle. Vielleicht lernt er dazu. Ich habe schon andere Demagogen erlebt, die schließlich sehr brauchbare Administratoren geworden sind.

Wollen Sie Namen nennen?

Nein.

Kann Hamburg überall sein, zum Beispiel in drei Wochen in Berlin?

Streichen Sie die drei Wochen. Generell ist dergleichen in vielen europäischen Städten denkbar, auch in Frankreich, auch in England. Nach den Attentaten in Amerika werden die Verwaltungen die Vorkehrungen für die Innere Sicherheit generell verstärken. Terroristen brauchen ein Umfeld. Dazu gehören unkontrollierte Schwarzgeld-Transfers, die Finanzierung durch Drogenhandel.

In Berlin dreht sich der Wahlkampf auch um eine mögliche Regierungsbeteiligung der PDS. Ist das vereinte Deutschland schon so normal? Wäre es ein Tabubruch?

Aus Sicht der Mehrheit in der alten Bundesrepublik ist das nicht erwünscht. Bei den Bürgern der früheren DDR ist das etwas anders. Mir missfällt am Berliner Wahlkampf, dass das drängendste Problem, die marode Berliner Bankgesellschaft, nicht vorkommt.

Da gibt es weiter eine Große Koalition ...

Man kann es auch ein wenig unfreundlicher ausdrücken.

Würde ein Kanzler Schmidt heute Deutschland a

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