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Politik: Herta Däubler-Gmelin im Interview: Wo sind die Grenzen der Vergeltung?

Viele Menschen in Deutschland haben zurzeit Angst vor einem neuen Krieg. Teilen Sie diese Angst?

Viele Menschen in Deutschland haben zurzeit Angst vor einem neuen Krieg. Teilen Sie diese Angst?

Es gibt ein Bündel von Gefühlen und Überlegungen, auch bei mir: Trauer um die vielen Menschen, die ermordet worden sind, Mitgefühl mit ihren Angehörigen. Dann den Schock der Erkenntnis, wie verletzlich unsere offene Gesellschaft ist und dass es Menschen mit grenzenlos viel Hass und Zerstörungswut gibt. Und dann natürlich auch die Sorge, wie wir denkbare Entwicklungen besonnen steuern können. Ich glaube auch, dass die unbekümmerte Sorglosigkeit, an die sich viele in unserer Gesellschaft gewöhnt haben, zu Ende ist, und dass wir deutlicher berücksichtigen müssen, dass uns die Lebensbedingungen und Konflikte in anderen Teilen der Welt ganz unmittelbar berühren und angehen. Diese Mischung ist es, weniger Angst.

Als nach den Anschlägen klar wurde, dass es sich um Terrorismus handelte: Was haben Sie als Politikerin gedacht?

Die Meldungen folgten mit schrecklicher Gnadenlosigkeit aufeinander. Ich saß in einer Besprechung, dann gab mir ein Mitarbeiter ein Papier mit der Mitteilung, ein Passagierflugzeug sei in das World Trade Center gestürzt, eine schreckliche Katastrophe. Nach zehn Minuten kam er wieder mit der nächsten Mitteilung, das Flugzeug sei entführt gewesen, möglicherweise ein Terroranschlag. Dann kam die Meldung vom zweiten Flugzeug-Attentat in New York, dann der gezielte Absturz auf das Pentagon, schließlich die Nachricht von der entführten und abgestürzten Maschine in Pennsylvania und die Bombenattentate in Washington. Da war schnell klar, dass diese Zerstörungswut, die ja die totale Selbstzerstörung mit einschloss, die exakte Planung, Steuerung und Koordinierung dieser Verbrechen eine neue Dimension der Gefährlichkeit darstellt, die zu neuen Überlegungen zwingen muss. Gerade auch für Politiker, die für unseren Rechtsstaat und für Rechtsstaatlichkeit über unsere Grenzen hinaus Verantwortung haben.

War es Krieg oder Kriminalität?

Angesichts dieser furchtbaren Anschläge macht die begriffliche Differenzierung nur begrenzt Sinn. Deshalb hat auch der UN-Sicherheitsrat ausdrücklich von einer Bedrohung des internationalen Friedens und der Sicherheit gesprochen, also Worte verwendet, die sonst für militärische Aktionen gelten. Die Präzision von Vorbereitung und Durchführung und die Grenzenlosigkeit von Zerstörungswut und Zerstörung weisen schon Elemente des Krieges auf. Dieser Terror ist noch viel mehr als schwerste Kriminalität.

Hat man diese Verletzbarkeit verdrängt. Schließlich gab es Warnungen und entsprechende Szenarien?

Wer denkt schon gerne daran, dass unsere offenen Gesellschaften so leicht zutiefst verletzt und beschädigt werden können. Wir wollten so gerne glauben, dass alle Menschen sich wenigstens an bestimmte Grenzen halten, auch angesichts der ungeheuren Unterschiede in den Lebensverhältnissen und Zukunftschancen auf der Welt und der daraus zwangsläufig folgenden Spannungen und Konflikte. Uns schockt die Erkenntnis, dass es nicht so ist; das trifft die bequeme Sorglosigkeit, an die wir uns so gerne gewöhnt haben.

Ist nach diesen Anschlägen überhaupt noch etwas undenkbar im Terrorismus?

Ich hoffe das, weiß es aber nicht. Und klar ist auch, dass die Bundesregierung ihren Beitrag leisten muss, um die Verantwortlichen für diese Anschläge zur Verantwortung zu ziehen und das zu tun, was zur Sicherung unserer offenen Gesellschaft nötig und zur Verhinderung neuer Anschläge möglich ist. Das Ausmalen immer neuer Schreckensszenarien allerdings halte ich für falsch, weil das nur zu weiterer Unsicherheit führt. Und die hilft niemand.

Zur Verantwortung ziehen: als militärische, politische oder juristische Aufgabe ?

Das ist sicher eine Aufgabe für Polizei, Dienste und Justiz in allen Ländern. Auch bei uns. Möglicherweise auch eine für gezielte militärische Aktionen. Rechtliche Handhaben gibt es bei uns in der Bundesrepublik; es gibt sie in Europa, aber auch durch mehrere UN-Konventionen, auf die der UN-Sicherheitsrat auch hingewiesen hat. Jetzt geht es darum, die Zusammenarbeit zu verbessern und eventuelle Lücken zu schließen, damit die Verantwortlichen - und das sind insbesondere auch die Planer, Organisatoren, Finanziers und Unterstützer - gefasst werden.

Nach einem militärischen Einsatz könnte dieser Terror auch juristisch aufgearbeitet werden müssen. Vor welches Gericht gehören die Verantwortlichen ?

Die Anschläge trafen New York und Washington, deshalb ist die Zuständigkeit der Vereinigten Staaten, über die Täter zu urteilen, völlig klar und unbestritten.

Die USA wollen sich militärisch verteidigen, die Nato will ihnen dabei helfen. Welche Grenzen hat diese Selbstverteidigung?

Ich will zunächst erwähnen, dass es in der letzten Woche gerade keinen Rache- und Vergeltungsmilitärschlag gegeben hat. Der sehr weit gehende, völkerrechtlich bedeutsame Beschluss des UN-Sicherheitsrats spricht davon, dass die Täter, die Planer sowie die Unterstützer und Finanziers verantwortlich sind. Grenzen sind sicherlich der Grundsatz der Gezieltheit und der Verhältnismäßigkeit. Der Nato-Beschluss über die Erklärung des Bündnisfalls steht noch unter Vorbehalt. Nach seiner Bestätigung wird man sehen müssen, was die Amerikaner von uns erbitten. Danach entscheidet die Bundesrepublik nach den Grundsätzen, die der Bundeskanzler so formuliert hat: Hilfe ist selbstverständlich, auch Risiken, aber keine Abenteuer.

Die Nato-Partner sollen gegen eine Bedrohung kämpfen, die maßgeblich von den USA eingeschätzt wird. Können sich militärische Maßnahmen allein daran orientieren? Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit -dass ein Ziel nur mit den wirklich nötigen Mitteln erreicht werden darf - gilt auch im Völkerrecht.

Richtig. Es gab viele Menschen bei uns, aber auch in den USA, die bei aller Trauer und Solidarität befürchtet haben, die US-Regierung würde schnell militärisch zurückschlagen. Stattdessen hat sie sich erfolgreich darum bemüht, nicht allein die Staaten der EU, sondern auch Russland, China, asiatische und arabische Staaten in den "Feldzug gegen den Terror" einzubeziehen und sie zu konsultieren. Auch die UN sind einbezogen. Das alles sollte weitergehen. Wie die Aktionen im Einzelnen aussehen, lässt sich nicht sagen. Aber gezielt und verhältnismäßig müssen sie sein. Lassen Sie mich aber noch fragen, was eigentlich angemessen und verhältnismäßig ist angesichts der schrecklichen Tatsache, dass Flugzeuge mit Eltern und Kindern und anderen Reisenden wahllos zu Bomben für Massenverbrechen umgewandelt wurden? Wir können nur hoffen, dass nicht weitere Unschuldige leiden müssen.

Wie denken Sie über Einsätze der Bundeswehr im Inneren?

Ich sehe keinen Anlass, die Bundeswehr über die Möglichkeit etwa der Bekämpfung der Oder-Flutkatastrophe im Inneren einzusetzen. Solche Forderungen sind nicht neu, sie waren früher so wenig berechtigt wie heute. Unsere Verfassung ist hier klar, die Voraussetzungen sind nicht gegeben. Ich halte es auch für falsch, aufgeregt in diese Richtung zu spekulieren.

Wir könnten aber in solche Situationen kommen, etwa bei terroristischen Drohungen nach einem Gegenschlag der Amerikaner. Dann werden die Polizeikräfte möglicherweise nicht mehr ausreichen, um alle gefährdeten Objekte zu schützen.

Warum sollten wir denn jetzt über solche Szenarien spekulieren? Träten sie ein, wofür es keinen Hinweis gibt, hätte unsere Verfassung die Vorsorge getroffen. Hier und jetzt haben wir genügend andere Probleme, zum Beispiel Besonnenheit zu verstärken, das Nötige zum Schutz der Menschen zu tun und etwa durch ein Aufeinanderzugehen auch im täglichen Miteinander mit Muslimen deutlich zu machen, dass wir einen Krieg der Kulturen oder Religionen nicht wollen und nicht zulassen. Auch die Medien können und müssen dazu ihren Beitrag leisten. Darüber hinaus sollten einige von ihnen ihre Verantwortung besser erkennen und alles vermeiden, was beispielsweise die Ermittlungen behindern könnte. Aus Anlass der Ereignisse beim Gladbecker Geiseldrama haben die Verantwortlichen der Medien schon einmal darüber nachgedacht und Schlussfolgerungen gezogen. So etwas brauchen wir jetzt auch.

Vor kurzem haben sich die Grünen-Vorsitzende Claudia Roth und Innenminister Otto Schily bei einer Debatte um innere Sicherheit in einer TV-Show darüber gestritten, was Priorität hat: Freiheit oder Sicherheit. Was kommt Ihrer Meinung nach zuerst?

Beides gehört zusammen und bedingt einander. Natürlich gibt es ein Spannungsverhältnis. Aber Rechtsstaat und innere Sicherheit sind keine Gegensätze. Beides ergänzt sich.

Bleibt es bei dem Verhältnis von Freiheit und Sicherheit auch nach den Anschlägen?

Selbstverständlich ja, allerdings muss genau hingeschaut werden, ob auf der einen oder anderen Seite etwas verbessert werden muss. Wir wollen auch weiter eine offene Gesellschaft sein. Und möglichst ohne die Sorge leben können, dass jemand Bomben wirft.

Wir erleben die Neuauflage einer bekannten Diskussion. Was bringt den Rechtsstaat wirklich in Gefahr? Der Terror oder die Maßnahmen, die gegen ihn beschlossen werden?

Der Terror, selbstverständlich. Allerdings müssen Maßnahmen gegen ihn gezielt und verhältnismäßig sein. Das wissen wir aus den Erfahrungen mit dem Terrorismus der siebziger Jahre. Die schrecklichen Anschläge jetzt allerdings zeigen noch viel mehr: Allein kann kein Land mehr Freiheit oder Sicherheit garantieren. Auch Sicherheit, Bekämpfung dieser Verbrechen, Recht und Gerechtigkeit müssen wir heute mit dem Blick auf die ganze Welt diskutieren und durchsetzen. Eine Welt mit den schrecklichen Widersprüchen zwischen Wohlstand und Armut, zwischen Chancen und Ungerechtigkeit, zwischen Macht und Ohnmacht, wie wir sie jetzt haben, kann nicht friedlich sein. Und sie wird auch uns in unseren Breiten keine Sicherheit bieten können.

Der Kampf gegen die Wurzeln des Terrors ist der Kampf gegen Ungerechtigkeit in der Welt?

Ja, ganz entschieden auch. Recht und Würde sind eben nicht teilbar. Auch das zeigt dieser Anschlag. Aber natürlich geht es zunächst um die Verantwortlichen für diese Anschläge, die ja selbst nicht zu denen gehörten, die keine Chancen hatten. Darüber hinaus ist es entscheidend wichtig, jene auf unsere Seite zu ziehen, die in solchen Terroristen ihre Helden sehen. Und das geht nur durch Chancen und Perspektiven.

Das Kabinett hat vergangene Woche neue Maßnahmen gegen den Terror beschlossen. Auch Unterstützer ausländischer Terrorgruppen sollen künftig bestraft werden können. Genügen diese Verschärfungen?

Wir schließen Lücken und verbessern die internationale Kooperation. Bei Bedarf werden wir dann weitere Maßnahmen prüfen. Das Ziel ist die Bekämpfung von Terrorismus und der Schutz unserer offenen Gesellschaft.

Erhöht eine Regelanfrage beim Verfassungsschutz für Ausländer, die nach Deutschland einreisen wollen, die Sicherheit?

Das muss man im Lichte der Erkenntnisse aus diesen Anschlägen sehr genau prüfen.

Auch der Datenschutz ist wieder in der Diskussion. Haben wir, wie Otto Schily kritisierte, zu viel davon?

Sollte es hier wirklich Probleme geben, muss man auch die prüfen. Auch hier im Licht von Freiheit und Sicherheit. Der viel beschworene gläserne Mensch würde, ganz abgesehen davon, dass niemand ihn will, zur Bekämpfung dieses Terrorismus auch nichts nützen.

Ein Fingerabdruck im Pass macht den Menschen noch nicht gläsern?

Nein. Aber geprüft werden muss natürlich, ob das sinnvoll wäre und helfen könnte.

Die Amerikaner arbeiten bereits mit biometrischen Erkennungssystemen. Damit können zum Beispiel anhand von Gesichtern einzelne Menschen aus der Menge heraus identifiziert werden.

Das verfolge ich mit Interesse. Gerade auch solche Mittel müssten allerdings - wenn feststeht, dass sie wirklich sinnvoll wären - gegen Missbrauch gesichert werden, weil hier zentrale Persönlichkeitsrechte betroffen sein können.

In diesen Tagen feiert das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe sein 50-jähriges Bestehen. Kritiker sagen, der Einfluss des Gerichts auf die Politik werde immer stärker. Stimmt das?

Na ja, es gibt schon Hinweise dafür. Insgesamt aber ist die Institution Bundesverfassungsgericht ein Glücksfall für unser Land. Das zeigt die Geschichte der Bundesrepublik ganz deutlich. In den ersten Jahren ist unser Grundgesetz ja längst nicht so hoch eingeschätzt worden wie heute. Das Bundesverfassungsgericht hat, insbesondere mit seiner Rechtsprechung zu den Grundrechten den Rechtsstaat, Bürgerrechte und unsere Verfassung in die Köpfe und Herzen der Menschen eingeprägt - schon das ist ein unschätzbares Verdienst.

Als Justizminsterin sind Sie mit einer Fülle von Reformen aufgefallen, nur an der Verfassung haben Sie noch nichts geändert. Gibt es dort nichts zu reformieren?

Es ist schon so: Unsere Bundesregierung musste und muss viel an Reformstau überwinden. Auch in meinem Bereich muss manches moderner und gerechter werden, wie, ganz aktuell, etwa im Urheberrecht. Die Grundentscheidungen unserer Verfassung allerdings, die stehen. Die sind gut. Ich selbst hätte gern mehr direkte Entscheidungsmöglichkeiten für die Bürgerinnen und Bürger in wichtigen Sachfragen auch auf Bundesebene, aber dafür fehlen derzeit die Mehrheiten.

Viele Menschen in Deutschland haben zurzeit Angst

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